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9.3 Nevins Bürde

Am Abend war Nevin zurück in der Singbucht. Er hatte kaum Zeit, ein paar Drachen auf die entflohene Prinzessin anzusetzen, als Jaro ihn bereits ins Besprechungszimmer holen ließ, wo Odilia, die zu den Anführern der Singbucht gehörte, und Isko bereits um den großen Tisch in der Mitte saßen. Die Schriften und Bücher aus Höhental waren immer noch auf der Tischplatte ausgebreitet. Jaro ließ noch ein paar weitere Bewohner holen, vor allem diejenigen, die ehemals einen hohen Rang in Höhental hatten, sowie Aiven und Tessa. Und irgendwie schaffte es auch Juna, sich in die Versammlung einzuschleichen und sich neben ihm zu setzen. Obwohl ihr Bruder, der ein Drache war, weder aus Höhental, noch in der Versammlung war.

Wieder wanderten seine Finger zu dem Verlobungsring, um auffällig mit ihm zu spielen. Wann würde sie ihn endlich in Ruhe lassen? Er spürte den großen Drang, sofort aufzustehen und selbst nach seiner entflohenen Verlobten zu suchen.

»Danke, dass ihr alle hier seid«, begann Jaro und setzte sich an den vollen Tisch. »Wir haben wichtige Befunde, die wir euch weitergeben möchten.« Jaro lächelte traurig. »Es ist bestätigt. Der Fluch stammt aus Höhental.«

Ein Raunen echote im Raum. Die Höhentaler tauschten besorgte Blicke aus. Und Junas Aufmerksamkeit war endlich von etwas anderem abgelenkt.

»Diese Dokumente stammen aus Höhental, die Nevin persönlich beschaffen.« Jaro zeigte auf den Tisch. »Ihr könnt sie jederzeit unter Iskos Aufsicht lesen. Wie wir bereits früher erwähnt haben, bestätigen diese Schriften, dass Höhental in alten Zeiten ein Königreich war. Und die wichtigste Verbindung zu den Ländern im verbotenen Osten.« Wieder erklang ein überraschtes Raunen. Selbst Nevin sah vom Tisch auf. Davon hatte er noch nie gehört. Hatte sein Onkel es schon vorher gewusst?

»Die Verbindung war so stark, dass König Elyon der Erste eine Prinzessin aus einem dieser Länder heiratete. Was im Kaiserreich nicht für Begeisterung sorgte. Die Länder hinter den Graubergen sind mächtig. Ausgestattet mit übermenschlichen Fähigkeiten von denen wir nur noch sehr wenig wissen.«

»Moment, nicht so schnell«, bat Aiven und rieb sich die Stirn. Auch andere blickten verwirrt in die Runde. Nevin schluckte. Er hatte nicht gedacht, dass die nun unbekannten Länder im Osten auch mit im Spiel waren. Der Weg um den Fluch aufzulösen, schien nur noch schwieriger geworden sein.

»Verzeihung. Ich weiß, es viel auf einmal. Ihr könnt in den nächsten Wochen gerne jederzeit mich oder Isko aufsuchen, um Fragen zu stellen.« Jaro machte eine kurze Pause und heftete seinen Blick auf Nevin, wie um Halt an seinem Stiefneffen zu finden. »Ich erzähle weiter. Der König aus Höhental heiratete eine fremdländische Prinzessin und der Kaiser des Rovislandes fürchtete sich vor ihr. Höhental und das Reich haben schon seit Urzeiten eine angespannte Beziehung, da Höhental sich schon immer geweigert hat, Teil des Kaiserreichs zu werden. Die Adelsfamilien aus beiden Reichen haben jedoch einen gemeinsamen Stammbaum, weswegen der Kaiser bis heute der Meinung ist, dass Höhental rechtmäßig ihm gehört.«

Den gemeinsamen Stammbaum und die Streitereien um die Hochebene, hatte Nevin in seinem Geschichtsunterricht gelernt. Damals, als er noch als Prinz in der Hauptstadt lebte. Jaro hatte es ihm selbst als sein persönlicher Lehrer beigebracht.

»Jedenfalls«, fuhr Jaro fort, „fürchtete der damalige Kaiser diese fremde Prinzessin, da sie Bräuche und Kräfte nach Höhental brachte, die er nicht kannte und Höhental mehr Macht verschafften. Rovis der Siebte, sorgte sich um seinen Kaisertitel und glaubte, dass König Elyon bald versuchen würde, ihm sein Reich mit Hilfe seiner Gemahlin zu entreißen.« Er machte eine kurze Pause und sah in die Gesichter seiner Zuhörer. Einige starrten fassungslos auf die alten Dokumente. Andere folgten immer noch gebannt seinen Lippen. Wieder andere schüttelten nur den Kopf und seufzten. Aiven hatte die Ellbogen auf dem Tisch und grub die Hände in seine hellbraunen Locken. Tessa hatte die Arme verschränkt und starrte mit einem sehr ernsten Blick auf den Tisch.

»Das Nächste, was wir über den Konflikt in den Berichten erfahren, ist ein Attentat. Der Kaiser machte sich damals nach Höhental auf, für ein politisches Treffen zwischen dem Kaiserreich, Höhental und einige der östlichen Länder. Während sie sich gemeinsam zu einer freizeitlichen Jagd aufmachten, wurde die Königin von Höhental und zwei ihrer vier Kinder getötet. Dahinter steckten kaiserliche Handlanger.«

Keiner am Tisch regte sich. Nevin selbst, trafen die neuen Erkenntnisse wie ein Schlag. Den anderen ging es nicht besser, was er durch das düstere Schweigen und die herunterhängenden Köpfe bemerkte. Sie taten ihm leid. Die Höhentaler hatten nicht eine solch große Täuschung seitens der Wächter erwartet.

»Der jüngste Sohn und seine Zwillingsschwester wurden damals nicht gefunden und überlebten den Attentat«, erzählte Jaro weiter. »König Elyon fand erst über den Mord heraus, als der Kaiser sich gerade auf dem Weg zurück in sein Reich machte. Seine Gefühle übermannten ihn und es heißt in diesen Berichten, dass er durch die übermenschlichen Kräfte, die er durch seine Frau bekommen hatte, seine Trauer und seinen Zorn dazu nutzte, um ihn in ein Ungeheuer zu verwandeln. Der erste Drache. Der Urdrache. Er jagte in seiner neuen Form den Kaiser und sein Gefolge und tötete alle. Krieg brach zwischen Rovisland und Höhental aus und König Elyon von Höhental war dank seiner Kräfte unbesiegbar. Das Kaiserreich erlebte eine vernichtende Niederlage. Doch König Elyon weigerte sich noch immer, Höhental dem Kaiserreich anzugliedern. Er setzte einen seiner eigenen Männer als neuen Kaiser ein. Doch das war nicht das Ende seiner Leiden. Die Bewohner von Höhental waren entsetzt von dem neuen Zustand ihres Königs. Sie weigerten sich, ihn weiter als ihren König anzuerkennen und verbannten ihn und den Rest seiner Familie aus dem Land. Er floh nach Süden, zusammen mit seinen Kindern und ließ sich später auf den Sturminseln nieder. Daraufhin brach Höhental den Kontakt zu den östlichen Ländern ab und isoliert sich bis heute von ihnen und dem Kaiserreich. Jeder Fremde der es wagt, einen Fuß in Höhental zu setzen, wird auf Befehl der Großwächter getötet.«

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»Was? Aber es ist verboten Menschen zu töten! Das steht in unseren Gesetzen!«, rief ein älterer Mann aus. »Egal ob Fremder oder nicht. Jedes Leben ist unantastbar!«

»Dieses Recht gilt nur für die Menschen aus Höhental. Zumindest für diejenigen, die nicht in Drachen verwandelt worden sind«, erklärte Nevin ernst.

»Und, wie sind es mehr Drachen geworden? Ich verstehe das nicht«, fragte eine Frau.

»Bevor König Elyon aus Höhental verbannt wurde, heißt es, dass er regelmäßig die Gewalt über sich selbst verlor und andere biss. Dadurch sind die andere Drachen entstanden. Am Anfang haben die Höhentaler noch versucht mit ihnen zusammenzuleben. Doch der sogenannte Fluch verwandelt sie irgendwann in echte Drachen. Aufgrund dessen, konnte König Elyon nicht weiter in Höhental oder im Kaiserreich bleiben. Die Sturminseln waren der geeignete Zufluchtsort für ihn. Nur hat niemand damit gerechnet, dass jeder Biss eines Drachens den Fluch weiter verbreitet.«

»Und wie kommt es, dass so viele von den Drachen Höhental angreifen? Ist es Rache? Oder wird das Kaiserreich auch ständig von ihnen belagert?«, fragte Aiven.

»Natürlich erlebt das Kaiserreich auch viele Angriffe. Doch unser Land ist größer und daher scheinen die Zahlen nicht so hoch zu sein, wie für Höhental«, erklärte Jaro. »Den genauen Grund kennt keiner. Ich weiß nur, dass die meisten Angriffe früher von echten Drachen kamen, also diejenigen, die ganz vom Fluch übernommen wurden und dunkles Fell haben. Wahrscheinlich kamen sie ursprünglich aus Höhental und wollten in ihre Heimat zurückkehren. Und obwohl auch hier die Drachen eine Gefahr für Menschen sind, gibt es doch weniger gezielte Angriffe als in Höhental. Vielleicht werden die Drachen einfach instinktiv von Höhental angezogen, weil der Fluch dort seinen Ursprung hat. Wir wissen es leider selbst nicht so genau.«

»Steht in den Schriften auch irgendetwas darüber, wie man den Fluch wieder loswird?«, fragte Dilek.

»Leider nicht«, sagte Jaro und seufzte schwer.

»Deswegen brauchen wir Prinzessin Elyon«, warf Nevin in die Runde. »Ich hab einen Hinweis bekommen, wo sie sich momentan aufhält und habe bereits Drachen auf sie angesetzt. Vielleicht weiß sie mehr über diesen Fluch. Jetzt wo sie endlich nicht mehr unter der Beobachtung ihres Vaters und dem Kaiser steht, können wir sie gefahrlos befragen, sollten wir sie finden.«

»Wie soll ein so junges Mädchen uns helfen können?«, fragte Odilia, die älteste im Führungsrat. Sie war noch nie überzeugt von der Idee gewesen, die Prinzessin um Hilfe zu bitten. »Wir dürfen nicht vergessen, was für seltsame Dinge man über sie hört. Dass sie sich wie eine wilde Bestie verhält, von Wölfen großgezogen wurde und so ungebildet, dass sie nicht mal sprechen oder lesen und schreiben kann.«

»Elyon ist intelligenter als wir alle zusammengenommen. Ich hatte mal die Ehre, sie persönlich kennenzulernen«, erklärte Nevin mit eindringlicher Stimme. »Sie kann vielleicht nicht gut sprechen, doch sie wird in wissenschaftlichen Kreisen sehr für ihre Naturstudien geschätzt. Vergesst nicht, wer in den letzten Jahren fünf Heilmittel gegen vorher unheilbaren Krankheiten entwickelt hat. So belesen wie sie ist, weiß die Prinzessin wahrscheinlich mehr über die Geschichte ihrer Vorfahren als wir«, erklärte Nevin. Zum hundertsten Mal.

»Selbst wenn die Prinzessin nichts über ihre Vorfahren weiß, muss es einen Grund geben, warum der Kaiser sie unbedingt für sein Reich haben möchte«, überlegte Jaro. »Und nicht nur er. Auch König Demian, der, wie viele von uns gehört haben, Drachen besitzt, wollte sie unbedingt für sein Reich haben.« Also wusste er von dem neuen König. Nevin musste ihn dringend deswegen befragen. Es würde eine lange Nacht werden.

»Es ist besser, wenn sie nicht in die falschen Hände gerät. Sie könnte uns allein dadurch nutzen, dass sie die dunklen Drachen zähmt und sie so dadurch schützen kann. Denn über ihre Fähigkeiten mit Tieren, ist ja genug bekannt. Gibt es noch irgendwelche Fragen?« Jaro sah in die Runde.

Nevin klinkte sich gedanklich aus der Unterhaltung aus. Er würde später selbst die Schriften in Ruhe durchlesen, wenn er nicht mehr so erschöpft war. Seufzend, rieb er sich die schweren Lider. Nun musste er noch warten, bis die anderen gegangen waren. Dann konnte er mit Jaro in Ruhe reden. Und hoffentlich noch wenigstens ein bisschen Schlaf abbekommen.

Da legte sich eine Hand auf seinen Rücken. Nevin fürchtete schon, dass es Juna war und wollte ihre Hand wegschieben, doch Juna hörte den anderen zu und als er sich umdrehte, sah er in Dileks besorgtes Gesicht.

»Lass uns verschwinden. Sonst schläfst du noch auf dem Tisch ein.«

»Ich kann nicht. Ich muss noch mit Jaro reden.«

»Was auch immer ihr zu besprechen habt, muss bis Morgen warten. Komm.« Dilek wartete auf keine Widerrede, sondern zerrte Nevin vom Stuhl. Die anderen waren zu vertieft in der allgemeinen Unterhaltung um zu bemerken, dass die beiden aus dem Raum gingen.

»Hol ein paar Decken. Wir fliegen zum Strand«, sagte Dilek und ging in Richtung der großen Höhle auf der anderen Seite der Bucht, um sich zu verwandeln.

»Ich sollte hier bleiben. Es gibt viel zu tun«, rief Nevin ihm hinterher. Selbst er merkte, wie schwach sein Widerstand war.

»Du musst dich ausruhen. Und das klappt besser, wenn du nicht hier bist.« Dilek stand nun zu weit weg, als dass er Nevin hören konnte. Also ging er zu den Vorratskammern, um die Decken zu holen. Der Gedanke daran, einmal nicht in einem Raum voller Menschen schlafen zu müssen, klang fast zu schön um wahr zu sein.

Doch Dilek kannte ihn gut. Er wusste, dass Nevin am besten unter freiem Himmel schlief. Und mit Meeresrauschen in seinen Ohren.

Nachdem Nevin außer den Decken, einen Wasserschlauch und etwas Proviant geholt hatte, kehrte er zurück zum Strand. Dilek stand bereits in seiner muskulösen Drachengestalt da und starrte nachdenklich das Wasser an. Seine Beine waren fast doppelt so dick wie Nevins. Einmal hatte Dilek einen halben See leergetrunken, nachdem er zum ersten Mal all seine Wasservorräte in seinem Körper verbraucht hatte.

»Ich hoffe, du formulierst gerade in deinen Gedanken eine Entschuldigung für Jaro. Er wird nicht begeistert sein, wenn ich außerhalb des Schutzes der Bucht übernachte.«

»Überlass es mir. Sollte er dich Morgen anfahren, dampfe ich ihm gehörig ein. Und jetzt los. Bevor die anderen kommen. Ich glaube, ich habe gerade Juna am Eingang des Besprechungsraums gesehen.« Dilek grinste schelmisch und Nevin kletterte so schnell es ging auf seinem Nacken.