Blitze. Ein Mann aus dem Verbotenen Osten hatte Blitze in seinen Händen entstehen lassen. Elyon hielt zum wiederholten Mal den Atem an, weil sie es immer noch nicht ganz fassen konnte. Fast war sie versucht zu glauben, dass sie es sich nur eingebildet hatte. Doch sie hatte es gesehen. Hatte es gespürt.
Sie löste eine Hand von Alinas Nackenfell, um sich die Schläfe zu massieren, wo ein stechender Schmerz immer wieder ihre Gedanken unterbrach.
Was hatte sie nur angerichtet? Sie hatte nicht nur jede Menge Unsinn erzählt, um den Kaiser von sich fernzuhalten, sondern auch Versprechen gegeben, von denen sie nicht einmal ansatzweise eine Ahnung hatte, wie sie diese einhalten konnte. Zudem, hatte sie die Hilfe von jemanden ausgeschlagen, der wahrscheinlich viel mehr wusste über das, was in ihr schlummerte und das, was ihre Familie angerichtet hatte, als die alle gesammelten Schriften des Kaiserreichs.
Doch Elyon traute Aik nicht. Sie traute nicht dem leeren Ausdruck seiner Augen. Ihr Magen hatte sich allein bei seinem Anblick verkrampft. Sie konnte nicht erklären, was genau sie beunruhigt hatte, doch ihr Instinkt hatte sie bis jetzt nur selten im Stich gelassen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Aiks Hilfe auszuschlagen, doch sie fühlte sich besser, jetzt wo sie nicht mehr in seiner Nähe war.
Elyon atmete tief durch und zog sich vorsichtig näher an Alinas Ohren an. Das ältere Mädchen hatte sich kaum geregt, obwohl sie nun endlich in ihrer Drachenform sprechen konnte. Der einzige Augenblick, in dem sie ein bisschen mehr Leben gezeigt hatte, war der gewesen, als die Sache mit den Blitzen geschehen war. Obwohl Elyon nachempfinden konnte, was Alina durchmachte und wusste, wie schwer es in ihrer Brust wog, machte sie sich trotzdem Sorgen.
Alina hatte nicht nur ihre Sprache wiedererlangt, sondern auch ihre Drachenfähigkeit erweckt. Doch ihr Fell war immer noch grau und ihre Pfoten nun schwarz. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Elyon würde sich für später Beschäftigungen für Alina einfallen lassen, um sie langsam wieder zurück ins Leben zurückzubringen. Sie musste auch mehr Traumtod sammeln, damit Alina nicht von dem Fluch übermannt wurde. Warum sie sich so sehr um die Höhentalerin kümmerte, konnte Elyon sich selbst nicht erklären. Doch aus irgendeinem Grund, wollte sie weder Alina, noch Lenius und Gilwa im Stich lassen.
Seufzend hob Elyon ihren Blick. Der verlassene Tempel war bereits zu sehen und der Anblick des hellbraunen Gebäudes mit dem umliegenden Wald, nahm ihr etwas von den schweren Gedanken ab, die ihr im Kopf schwirrten. Für einen Augenblick, erlaubte sie sich mit neugierigen Augen das alte Gebäude zu erkunden, mit den unzähligen Kletterpflanzen, die es mit einem grünen Netz bedeckten. Das sanfte Fließen des Flusses zu verfolgen, dessen Wasser so klar war, dass man jeden einzelnen Stein im Flussbett zählen konnte. Elyon wollte am liebsten gleich nachdem sie landeten, das große Vordergebäude erkunden. Wer wusste, was alles aus uralten Zeiten zurückgeblieben war? Doch Elyon konnte nicht. Ein weiterer ermüdender Tag mit Gesprächen und Planungen stand an.
Sobald Alina und Lenius vor der Freitreppe des Hauptgebäudes landeten, lief Nevin auf sie zu. »Alles in Ordnung? Du sahst etwas verstört aus, als du wieder von deinem Gespräch zurückgekehrt bist. Hat er dir gedroht?«
Elyon wich seinem Blick aus, als sie bemerkte, wie sehr sich seine Augenbrauen die des Kaisers ähnelten. Der einzige Unterschied war, dass sie nicht finster zusammengezogen waren.
»Alles in Ordnung.« Er hatte wohl nicht die Blitze gesehen.
Nevin atmete erleichtert aus, dann setzte er sein bekanntes Lächeln auf. »Ich kann dir nicht gebührend dafür danken, dass du mich heute begleitet hast. Ich werde mich auf jeden Fall bei dir revanchieren, da du meine Lebensspanne für ein paar Wochen verlängert hast.« Er sah ihr kurz prüfend in die Augen, oder eher unter ihren Augen, eher er weitersprach »Ich habe Jaro gebeten, uns die restlichen Häuser hinter dem Hauptgebäude zu überlassen. Wenn du willst, kannst du erstmal dorthin gehen, um dich auszuruhen.«
Elyon wagte es ihren Blick zu heben und blieb an den Schatten unter seinen Augen hängen. Seine Lider waren leicht angeschwollen, genau wie ihre. Sie hatte während des Gesprächs Nevins Anspannung schon fast riechen können. Jetzt wo sie abgefallen war, war die Erschöpfung deutlich in seinem Gesicht zu lesen. Sie hatte nicht geahnt, dass er als Thronfolger so hilflos sein würde, doch bei solch einem Vater, der sie so sehr an ihren eigenen erinnerte, war sie nicht überrascht.
»Was hast du vor?«, fragte Elyon langsam.
»Ich sollte mich gleich zu Isko und Kael begeben, wegen den alten Schriften.«
»Ich komme mit«, erklärte Elyon und lief auf Lenius zu. Sie hatte keine Zeit, sich auszuruhen. Sie musste einen Weg finden, das abartige Ungeheuer loszuwerden, das sich dem Festland näherte. Ein Schauer brachte ihre Schultern zum Zittern.
»Elyon! Warte! Du solltest dich wirklich ausruhen.«
Elyon ignorierte Nevin und wandte sich dem weißen Drachen zu. »Bitte auf Alina aufpassen. Soll sich ausruhen und trinken. Wenn möglich, überreden, sich zurückzuverwandeln.«
»Mach ich gerne.« Lenius stand auf und schritt auf Alina zu, die mit herunterhängendem Kopf im Gras saß.
Als Elyon die erste Stufe der Freitreppe nehmen wollte, tauchten Jaro und Odilia am oberen Ende auf. Der Blick der alten Frau war so finster wie immer, wenn sie sich begegneten. Doch heute schienen ihre wasserblauen Augen noch düsterer zu sein. Elyon wich von der Stufe zurück.
»Odilia! Gib ihnen doch erstmal Zeit, sich zu erholen!«, rief Jaro, während er Odilia hinterher hastete.
»Nein! Ich habe schon lange genug gewartet und wir müssen es klären, ehe ich es erlaube, dass irgendeine Kaiserliche Hoheit es wagt, einen Fuß hier reinzusetzen«, blaffte Odilia.
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Nevin, der nun neben ihr stand, seufzte. Sehr schwer und sehr lange. Lenius flog gerade mit Alina über das Gebäude auf die Rückseite zu, während Dilek sich neben Nevin aufbaute und Odilia mit finsteren Augen maß.
Die alte Frau stellte sich breitbeinig vor ihnen hin, Arme vor der Brust verschränkt. Die Körperhaltung kam die eines männlichen Kriegsführers gleich, mit dem kerzengeraden Rücken, den schulterlangen, nach hinten gekämmten Haaren und der erhobenen Nase. Elyon erinnerte sich dunkel, dass Odilia einst eine Wächterin in Höhental gewesen war.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du uns die letzten vier Jahre belogen hast! Oh, verzeiht mir, ich sollte wohl besser eine angemessenere Anrede benutzen, sonst werde ich vielleicht noch von deinem kleinen Handlanger hier geköpft.« Odilia deutete mit einem abfälligen Kopfzucken auf Dilek.
Nevin zog die Augenbrauen zusammen, genau wie sein Vater es vorhin getan hatte. Nur das der Thronfolger, der sonst immer ein Lächeln auf den Lippen trug, ohne sein Merkmal noch furchteinflößender aussah, als der Kaiser.
»Odilia, es gibt keinen Grund, respektlos zu sein, besonders nicht Dilek gegenüber. Er ist Familie. Ich schlage vor, wir gehen irgendwo hin, wo wir uns hinsetzen können und wie vernünftige Erwachsene miteinander reden können.« Nevins Fäuste ballten sich so fest zusammen, dass seine Finger knackten.
»Auf keinen Fall! Wir reden hier draußen. Ich lass' doch kein Kaiserbalg hier so einfach rein spazieren. Weiß der Kaiser von diesem Ort? Dürfen wir bald mit einem blutigen Besuch von ihm rechnen?«
»Odilia!«, rief Jaro mit hochrotem Kopf. »Wie kannst du nur so zu Nevin sprechen? Hast du schon vergessen, wie viel er für uns getan hat? Hast du eine Ahnung, wie viele Opfer er gebracht hat, um für unsere Sicherheit zu sorgen?« Elyon wollte am liebsten in den Wald flüchten. Elyon verstand diese zeitfressenden Streitereien einfach nicht. Statt sich irgendwelche Worte an den Kopf zu werfen, wäre es besser, sie würden ihre Auseinandersetzung mit Fäusten oder Waffen austragen.
Schritte halten hinter ihnen und gleich danach lehnten sich zwei Männer über das braune Geländer der Freitreppe. Kael und Isko.
»Was ist hier los?«, fragte Kael. Als er Odilia entdeckte seufzte er leise, als wüsste er, worum es ging und kam die Treppen hinuntergeeilt. Jaro legte mit einem dankbaren Gesichtsausdruck eine Hand auf den älteren Herrn, als Kael neben ihm stand.
»Odilia, hatten wir uns nicht geeignet, zusammen mit ihm zu sprechen?«, fragte Kael, der im selben Alter war wie die wütende Frau.
»Er kommt mir hier nicht rein, ehe er nicht auf sein Leben schwört, dass er uns den Kaiser vom Hals halten wird.«
»Das sollte selbstverständlich sein«, erklärte Nevin mit fester, aber ruhiger Stimme. »Reichen dir die letzten vier Jahre nicht als Beweis, dass man mir vertrauen kann? Ich bin ebenfalls vom Fluch betroffen. Mein Vater droht mir schon seit Jahren mit dem Schwert, sollte ich ihn nicht loswerden. Glaubst du ehrlich, ich würde euch ihm ausliefern? Dann könnte ich mich gleich selbst mit einem Schwert aufspießen. Ich verstehe, dass du wütend bist und dir Sorgen machst, aber das entschuldigt nicht deinen Ton. Du bist Höhentalerin. Eine Anführerin. Dein Verhalten und Betragen sollte ein Vorbild für uns alle sein. Doch davon merke ich gerade überhaupt nichts.«
Odilia riss ihren Mund auf, doch Kael legte eine Hand auf ihre Schulter.
»Nevin, Odilia ist einfach sehr um die Sicherheit unserer Leute besorgt. Und uns sind viele Dinge zu Ohren gekommen, die sehr beunruhigend sind. Wir würden gerne alles in Ruhe erfahren. Warum gehen wir nicht alle rein, holen uns erstmal was zu trinken und setzten uns dann hin, um zu reden.«
»Nein! Wir klären das hier draußen. Auch wegen der da.«
Elyon wich zurück, als die alte Frau auf sie zeigte.
»Blutrünstig, selbstsüchtig und ungestüm. Ihr abscheuliches Verhalten hat bereits die Runde unter unseren Leuten gemacht und sie ist niemandem mehr Geheuer. Sie nimmt anderen Leuten das Leben, als wären sie nichts außer lästige Fliegen. Dazu noch Krallen, seltsame Augen, Reflexe die für einen Menschen unmöglich sein sollten. Falls sie überhaupt ein Mensch ist. Denn ein Drache, scheint sie auch nicht zu sein, oder die anderen würden den Fluch an ihr riechen. Ich will sie nicht in die Nähe unserer Leute lassen.«
Elyon sagte nichts, tat nichts, außer müde ihren Blick abzuwenden. Sie hatte solche und ähnliche Beschimpfungen schon so oft gehört, dass sie nichts mehr als Überdruss in ihr hervorriefen.
»Odilia! Entschuldige dich bei ihr!«, rief Isko und sein Körper zitterte so sehr vor Wut, dass es sogar seine schwarzen Locken zum Schütteln brachte. »Wir brauchen sie! Und ich hab genug Schriften gefunden, um dir das zu beweisen. Es wäre wahnsinnig, Elyon unbedacht ziehen zu lassen! Wir müssen sie an einen sicheren Ort bringen, und zwar schnell!«
Sofort flammte Neugier in Elyon auf. »Was gefunden? Die Urkunde?«
Isko seufzte. »Leider nicht. Aber zwei Dokumente, die genauso als Beweis dienen sollten. Offizielle Berichte über den Tag, an dem der Besitz der Ländereien öffentlich bekannt gemacht wurde. Euch sollte zumindest ein Eintrittsrecht in Höhental zustehen.«
»Bitte, Schriften anschauen.« Elyon näherte sich wieder der Treppe, doch Nevin stellte sich ihr in den Weg.
»Isko, du hast erwähnt, dass wir Elyon an irgendeinen sicheren Ort bringen sollten, wieso?«
Isko und Kael wechselten besorgte Blicke aus. Selbst Odilias Wut wich langsam von ihrem Gesicht, während sie der Unterhaltung aufmerksam folgte.
»Es gibt leider ein paar beunruhigende Neuigkeiten. Anscheinend dienen die Nachfahren des Urdrachens ihm so ähnlich wie ein Kompass. Das war auch der Grund, warum Prinzessin Elyons Vorfahren Höhental verlassen haben. Als König Elyon sich nach dem Mord an seiner Familie in einen Drachen verwandelt und den damaligen Kaiser umgebracht hatte, haben die Einwohner Höhentals versucht, ihn zu vertreiben als klar wurde, dass er nicht mehr zu beherrschen war.« Isko schluckte schwer.
»Doch egal wo sie ihn hintrieben, er fand immer seinen Weg zurück nach Höhental. Erst als die übrige Familie des Urdrachens sich für einige Zeit in den wilden Steppen aufgehalten hatten, fand man heraus, dass er immer zu seiner Familie zurückkehrte. Daraufhin verließ die Goldfederfamilie freiwillig das Hochland und ließen sich irgendwann auf den Sturminseln nieder.«
Elyons Herz donnerte gegen ihre Brust. Sie schwankte leicht zur Seite, gleichzeitig schoss Galle in ihren Mund hoch und ihr Magen zog sich so stark zusammen, dass es sie auf die Knie zwang.
»Elyon!« Nevin war sofort an ihrer Seite und stütze sie. »Ruhig, ganz ruhig. Alles wird gut.«
»Ich ...« Elyon schnappte nach Luft, ihr Herz klopfte so laut, dass sie kaum noch ihre eigene Stimme hören konnte. »Muss die Schriften ansehen. Bitte.«
»Odilia, lass sie in den Tempel. Wir müssen das sofort überprüfen und besprechen«, mahnte Kael.
Odilia ächzte wütend. »Von mir aus. Aber schnell. Wenn das stimmt, was ihr da gerade erzählt habt, dürfen wir keine Zeit verlieren.«
Elyon nahm tief Luft und folgte, die Hand an den Magen haltend, den anderen in den Tempel.