Das nächste, was Alina klar wahrnahm, waren grüne Hügel und Berge. Dann die kalte Luft, die ihr ins Gesicht schlug. Wo war sie? Alina blinzelte. Um sie herum war alles blau. Etwas zog sie nach unten. Wie ein Brocken fiel sie Richtung Boden. Sie japste laut, schlängelte sich in der Luft, doch sie fiel immer schneller. Hitze, sie brauchte die Hitze. Woher war sie nochmal gekommen? Alina blähte ihren Bauch auf. Da, sie spürte etwas Warmes. Es rauschte leise, doch sie fiel weiter, wenn auch nicht mehr so schnell. Trotzdem prallte Alinas Körper gegen den Boden und ein Schmerz, wie tausende von Schwertstichen fuhr entlang ihrer Wirbelsäule. In ihren Ohren schellte und piepste es.
Alina brauchte ein paar Augenblicke um wieder zu sich zu kommen. Mühsam zog sie ihre Lider hoch. Hellgraue Wolken bedeckten den Himmel. Ein paar Nadelbäume standen um sie herum. Felsen ragten aus dem grünen Boden heraus. Ihr ganzer Körper pochte. Doch Alina war noch am Leben. Wie, war ihr ein Rätsel.
Behutsam regte sie ihre Glieder. Es schien nichts gebrochen zu sein. Mehrere Pfeile steckten in ihrem Körper fest. Die Schnittwunde an ihrer Schulter brannte, als sie ihren Hals streckte um die Pfeile mit ihrem Maul rauszuziehen. Unter Schmerzen zog sie drei der Pfeile heraus und ließ sie auf das Gras fallen. Woraus waren die Spitzen gemacht? Außer die Krallen und Knochen von Feuervögeln, kannte Alina kein Material, das den Drachen etwas anhaben konnte. Und es gab im Kaiserreich keine Feuervögel. Die Pfeilspitze hatte eine bräunlich weiße Farbe. Sie schnupperte daran. Der Geruch kam ihr bekannt vor.
Vorsichtig tastete sie den Stein mit ihrer Zunge ab und zog erschrocken den Kopf zurück. Ihr Fell sträubte sich. Ihr Instinkt verriet sofort die Antwort. Drachenknochen. Oder Klauen. Alina wollte es gar nicht genau wissen. Galle gurgelte ihre Kehle hinauf. Sie spuckte einen dunkelroten Strahl aus. Entsetzt starrte Alina den Fleck an. Dann fiel es ihr wieder ein. Der abgerissene Kopf. Die Schreie. Der schwere Geschmack von Blut lag auf ihrer Zunge.
Alina wimmerte, würgte, sammelte Speichel und spuckte. Wieder und wieder. Doch der Geschmack ging nicht raus. Überall waren dunkelrote Spritzer im Gras. Wasser, sie brauchte Wasser um den Geschmack loszuwerden. Alina musste immer wieder ihre brennenden Augen schließen, um den Druck zu lindern. Es fühlte sich an, als würden ihre Augäpfel platzen, während Alina die schreckliche Tatsache bewusst wurde. Sie hatte einen Menschen umgebracht. Sie war nicht nur ein scheußliches Ungeheuer, sondern auch eine Mörderin.
Schwer atmend schleppte Alina sich voran. Immer wieder spuckte sie ins Gras, wenn der Geschmack auf ihrer Zunge zu stark wurde. Solange, bis sie endlich einen Wasserfall fand, der zwischen himmelgraue Felsen in einen See mündete.
Mit einem weiten Satz, sprang sie hinein. Die Kälte floss entlang des langen Drachenkörpers und dämmte ihre Schmerzen. Gierig saugte sie das Wasser ein, ließ das kühle Nass den metallischen Geschmack aus ihrem Mund wegspülen. Dann tauchte sie unter, in der Hoffnung, mit Hilfe der Kälte die grauenvollen Bilder zu vertreiben. Fische schwammen erschrocken zum Seeboden und verkrochen sich zwischen Pflanzen und Steine. Alle Schmerzen schienen verflogen zu sein. Sie genoss das betäubende Gefühl und blieb so lange unter Wasser, bis ihre Lungen brannten.
Als sie wieder auftauchte, trank sie noch mehr, bis der Blutgeschmack ganz aus ihrem Maul verschwunden war. Erst dann schwamm Alina zurück ans Ufer und schüttelte das Wasser von ihrem Fell. Die Wunden schmerzten nicht mehr, auch die Last in ihren Glieder war verschwunden. Dafür knurrte Alinas Magen. Sie schluckte schwer und starrte die Fische an, die sich langsam wieder der Wasseroberfläche näherten. Ein Lagerfeuer zu entfachen war in ihrer jetzigen Gestalt ausgeschlossen. Und der Gedanke sie roh zu essen, jagte ihr einen Schauer ein.
»Hallo.«
Alina sprang erschrocken auf und stolperte über ihre eigenen Beine. Sie fing sich im letzten Augenblick auf und drehte sich zu der Stimme um.
»Keine Angst. Ich will dir nichts tun.«
Ein Drache stand vor ihr. Ein sehr kleiner Drache. Mit großen, grünen Augen sie neugierig anstarrten. Er war bedeckt mit strahlend weißem Fell. Und er sprach. Mit einer Kinderstimme.
»Du bist fast genauso klein wie ich! Bist du auch ein Kind?«Der kleine Drache setzte sich auf die Hinterbeine und legte seinen Kopf schief [https://img.wattpad.com/8faf4e67ed69e1a53e831c06f78622eebc005fca/68747470733a2f2f73332e616d617a6f6e6177732e636f6d2f776174747061642d6d656469612d736572766963652f53746f7279496d6167652f7449755a746159564e38744c6b673d3d2d3831343331303039342e3135646630366532333232653537346132373135383333353131342e6a7067?s=fit&w=1280&h=1280]
»Du bist fast genauso klein wie ich! Bist du auch ein Kind?«
Der kleine Drache setzte sich auf die Hinterbeine und legte seinen Kopf schief. »Kannst du nicht sprechen?« Der Drache schnupperte in der Luft. »Du riechst noch sehr stark nach Mensch. Wurdest du gerade eben gebissen?«
Vor Verblüffung völlig erstarrt, fragte Alina sich, ob sie Wahnvorstellungen hatte. Fieberhaft ging sie ihre Erinnerungen von der Ausbildung durch. Nie hatte sie von sprechenden, weißen Drachen gehört.
»Hm. Du scheinst wirklich nicht sprechen zu können. Ich bin Gilwa. Ich bin schon seit zwei Jahren ein Drache und ich lebe zusammen mit Lenius und seiner Truppe. Wir sind alle Drachen.« Vorsichtig kam Gilwa näher. Die großen Augen und der schmale Kopf gaben ihm das Aussehen eines Welpen. Statt vor ihm zurückzuschrecken, beugte Alina neugierig ihren Hals um ihn näher betrachten zu können.
»Kannst du dich schon zurückverwandeln? So?« Der kleine Drache schrumpfte. Das Fell verschwand. Der Körper wurde kürzer. Das Gesicht runder. Bis ein kleiner, nackter Junge vor ihr stand. Mit braunen Haaren und grünen Augen.
Alina schüttelte den Kopf und blinzelte, doch der Junge, der gerade eben noch ein Drache gewesen war, stand immer noch vor ihr. Sie ging auf ihn zu. Beschnupperte ihn. Beäugte ihn von allen Seiten.
»Haha. Sag bloß, du wusstest nicht, dass wir uns verwandeln können? Ich hab es von Lenius gelernt! Ich bin ganz schnell darin, guck!« Gilwa stellte sich auf allen Vieren und krümmte seinen Rücken. In einem Augenschlag war er wieder ein Drache. »Ich bin sogar ein weißer Drache! Genau wie Lenius! Er ist sehr nett. Brauchst du Hilfe? Ich kann ihn herholen. Er kann dir bestimmt auch beibringen, wie man sich verwandelt. Wenn dich die anderen finden, werden sie dich wahrscheinlich angreifen, weil du so komisch riechst.«
Alinas Fell sträubte sich. Sie wollte es auch. Sprechen. Und sich verwandeln. Sie öffnete ihr Maul, doch es kam nur das bekannte Japsen heraus.
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Die Augen des kleinen Drachens weiteten sich, sein Blick fuhr hoch. »Oh nein! Riechst du das? Das sind die anderen. Sie kommen!«, flüsterte er und duckte ängstlich seinen Kopf. »Schnell, du musst verschwinden!«
Fünf Drachen schossen durch den Himmel auf sie zu. Es war zu spät um zu fliehen. Alina stellte sich dicht neben den kleinen Drachen hin, als die anderen mit einigem Abstand zu ihnen, in der Nähe des Sees landeten. Alle waren grau. Bis auf den größten Drachen, der die anderen um zwei Köpfe überragte. Sein Fell war fast schwarz. Er knurrte sie an, mit Fangzähnen die so groß waren wie ihre Krallen. Seine Augen waren blutunterlaufen.
»Gilwa, wir suchen schon seit drei Stunden nach dir!« Ein hellgrauer Drache schritt auf den Jungen zu und bleckte die Zähne.
»Ihr habt doch gesagt, dass wir Verstecken spielen! Also habe ich mich versteckt.«
Der Hellgraue knurrte leise. Dann warf er Alina einen misstrauischen Blick zu. »Wer ist das? Wieso riecht dieser Drache so komisch?« Ein zweiter Drache trat auf sie zu, packte Gilwa am Nacken und zog ihn mit sich zum See. Alina senkte ihren Kopf und ging den beiden hinterher, da stellte sich der hellgraue Drache ihr in den Weg.
»Bleib zurück! Mein großer Freund da hinten ist nicht leicht zu beherrschen. Reiz ihn nicht weiter«, warnte der Hellgraue. Der dunkelgefärbte Drache der hinter den anderen aufragte, hatte immer noch seine Zähne gebleckt und knurrte tief.
»Der riecht wirklich seltsam. Wenn der hier bleibt ...«, rief ein anderer grauer Drache.
Das Knurren des schwarzen Drachens wurde mit jedem Augenblick lauter. Seine Lippen zitterten und Geifer floss aus seinem Mund heraus. Alina duckte sich unterwürfig und winselte leise.
»Was ist hier los?«, donnerte es von oben auf sie herab. Alle Drachen außer Alina traten zur Seite. Selbst der schwarze Drache schloss sein Maul und starrte mit angelegten Ohren nach oben. Geschmeidig wie eine Feder landete ein weiterer Drache in der Nähe des Wassers. Er war riesig, größer als der Schwarze. Sein, langes, weißes Fell schimmerte wie Perlmutt. Zwei Hörner ragten aus seinem schlanken Kopf heraus. Die blauen Augen glitten über die Drachen, bis sie an Gilwa hängen blieben, der immer noch im Maul des Drachens hing.
Der kleine Drache schüttelte sich und der Graue ließ ihn frei. Sofort preschte er auf den neuen Drachen zu. »Lenius! Ich habe einen neuen Drachen gefunden! Er ist ganz klein, fast so wie ich!«, rief Gilwa und schmiegte sich wie eine Katze an sein Bein. Dann lief er zu Alina.
Der weiße Drache schritt auf sie zu und beugte seinen langen Hals zu ihr hinunter. Während die blauen Augen Alina betrachteten, drückte sie sich noch tiefer ins Gras hinein.
»Er riecht komisch, Lenius. Das gefällt uns nicht«, erwähnte der Hellgraue und schnaubte.
Lenius schnupperte sie an, dann riss er die Augen auf.
»Du bist ja-« Er räusperte sich und drehte sich hastig zu den anderen um. Alina verbarg sich hinter seiner riesigen Gestalt, sodass sie die anderen Drachen nur noch hören konnte.
»Ich kümmere mich um diesen Drachen. Kehrt zurück zur Burg«, befahl Lenius.
Die anderen tauschten verwirrte Blicke aus. Schließlich nickte der Hellgraue und sprang hoch in die Luft. Die anderen folgten ihm, bis auf Gilwa und dem schwarzen Drachen.
»Gilwa. Zurück zur Burg«, bellte Lenius.
»Aber, ich will hier bleiben. Ich will auch mit dem neuen Drachen reden.« Da packte der schwarze Drache Gilwa mit seinen zwei Pranken und flog davon. Gilwa winselte, doch er ließ sich still von dem größerem Drache davontragen. Lenius knurrte leise, sah ihnen missmutig hinterher, dann erst wandte er sich wieder Alina zu.
»Es ist äußerst selten, einen weiblichen Drachen anzutreffen. Meine Bande hat noch nie einen gesehen, oder gerochen. Deswegen sind sie misstrauisch.« Seine Stimme war ernst, doch sein Blick war freundlich genug, dass Alina es wagte ihren Kopf etwas zu heben. Er schnupperte in der Luft. »Du bist gerade erst verwandelt worden. Kannst du schon sprechen?«
Alina schüttelte den Kopf.
»Meine Bande nimmt normalerweise jeden Drachen auf, der noch bei klarem Verstand ist. Aber ich wohne in einer verlassenen Burg voller Männer. Ich kann dich unmöglich dorthin mitnehmen. Gibt es irgendeinen Ort wo du hingehen kannst und wo du sicher bist?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Lenius!«, schrie Gilwa von der Ferne. Mit aufgerissenen Augen kam er auf sie zugeflogen, dicht hinter ihm folgte der schwarze Drache. Gilwa zog seinen Körper spiralförmig zusammen, dann schoss er wie ein Blitz direkt auf die Lichtung zu.
»Ich hab mich nur von ihm losgemacht! Dann hat er nach mir geschnappt!« Gilwa landete direkt neben Alina.
Ihr Fell sträubte sich. Ein übler Geruch wehte ihr entgegen und wurde stärker, je näher der dunkle Drache kam. Es roch nach Gift, Blut und Schwefel.
Lenius knurrte. Sein Knurren wurde immer lauter, dann stieß er einen Laut von sich, der sie bis in die Knochen erschütterte. Ein langgezogenes, röhrendes Brüllen. Wie ein lauter, heiser Schrei. Alina wich von ihm zurück. Gilwa drückte sich dicht an sie.
Der schwarze Drache schoss auf Lenius zu, doch bevor er landen konnte schleuderte der weiße Drache ihn mit einem Schwanzhieb gegen die Felsen des Wasserfalls.
»Mach das du von hier verschwindest, oder du verlierst dein Leben!«, brüllte Lenius zu seinem Gegner. Der schwarze Drache zog sich knurrend hoch und schüttelte sich. Dann machte er einen Satz nach vorne, doch nicht auf Lenius zu, sondern auf Alina und Gilwa.
»Flieg weg!«, rief Gilwa und sprang hinauf in die Luft. Alina setzte zu einem Sprung an, doch es war zu spät. Der riesige Drache traf sie mit voller Wucht und begrub sie unter einer Masse von übel riechendem Fell. Verzweifelt versuchte Alina sich herauszuwinden. Sie befreite sich bis zur Brust, da schoss sein Kopf auf sie herab und bohrte seine Zähne in ihre verletzte Schulter. Alina brüllte vor Schmerzen.
Ein Schatten legte sich über sie. Es war Lenius, der den Drachen mit seinen Vorderkrallen packte, ihn hochzog und dann gegen ein paar Bäume schleuderte.
Alina versuchte sich aufzurichten, doch ihre Schulter brannte so heftig, dass ihr Vorderbein ständig einknickte. Sie keuchte, um Luft in ihre eingequetschten Lungen zu pressen. Gilwa packte sie am Nackenfell und zog sie hoch. »Lauf weg!«, rief der Kleine.
Alina versuchte die Luft einzuatmen, die in ihre Lungen passten und sah um sich. Gilwa war hoch oben in der Luft. Lenius stürzte sich auf den schwarzen Drachen und wickelte sich um ihn wie eine Würgeschlange. Alina wandte sich ab und hinkte von dem See weg.
»Du musst fliegen!«, brüllte Gilwa. Er schwebte in Kreisen über ihnen. »Füll deinen Bauch mit Dampf! So!« Gilwas komplette Unterseite blähte sich auf und zog ihn weiter in die Höhe.
Alina brüllte frustriert. Sie konnte kaum atmen, geschweige denn ihren Bauch mit irgendetwas füllen. Aber sie war geflogen. Was auch immer von ihr Besitz ergriffen hatte, konnte fliegen. Die Hitze die aus ihrer Wunde gekommen war. Sie erinnerte sich an das Seil, das gegen die wunde Stelle gedrückt hatte und wusste was sie tun musste, doch nicht wollte.
Ein saurer Geschmack lag auf ihrer Zunge. Sie würde die Kontrolle verlieren. Aber hier war es zu gefährlich. Alina sah keinen anderen Ausweg.
Schnell beugte sie sich zu ihrem rechten Bein hinunter. Die Bisswunde war deutlich zu riechen, obwohl sie dicht mit Fell bedeckt war. Der gleiche Geruch, der auch aus dem dunklen Drachen strömte. Nachdem sie tief Luft holte, biss sie zu. Sofort floss ein heißer Strom durch ihren Körper. Alinas Verstand löste sich auf, etwas Wildes breitete sich aus. Heiße Luft strömte durch ihren Bauch und ihr Körper wurde leichter. Mit einem Sprung hob sie ab und flog schlängelnd an Gilwa vorbei.
»Warte!«, rief Gilwa. Doch sie wartete nicht. Alina stürmte an ihm vorbei, immer schneller, immer weiter, bis ihr Körper sie nicht mehr durch die Luft ziehen konnte. Das letzte, was Alina sah, war ein riesiges Gewässer. Dunkelblau und glitzernd, ohne Ende. Dann wurde alles schwarz.