Nevin zog scharf nach Luft und Elyon spürte, wie er näher rückte, bis sein Umhang ihr Bein streifte.
»Solche Drohworte werden nicht gerade ein günstiges Licht auf Euch werfen, Prinzessin«, gab Attanas mit bebenden Nasenflügeln zurück. »Seid ihr so bar aller menschlichen Emotionen, dass Ihr nicht an das Wohl unseres Volks denken könnt?« Attanas Stimme war leise, doch so dunkel, dass ein kalter Schauer über Elyons Nacken fuhr. Schon wieder. Schon wieder wurde ihr unterstellt, nicht wie ein Mensch zu fühlen, zu denken. Als wäre er besser.
»Was ist mit euch? Großwächter?«, fragte Nevin laut, sodass auch die Wächter auf der Brücke ihn hören konnten. »Warum habt ihr in den letzten Jahrzehnten nicht an diejenigen gedacht, die dem Fluch zum Opfer gefallen sind? Warum lügt ihr eurer Volk an? Warum habt ihr eure eigenen Landsleute getötet? Von ihrem Heimatland verscheucht? Für immer getrennt von ihren Familien? Verwirrt und verängstigt im Stich gelassen? Es ist schrecklich genug, vom Fluch befallen zu werden, doch dann noch von den eigenen Landsleuten, manchmal sogar von der eigenen Familie verfolgt zu werden, ist so grausam, dass es keine Worte gibt, welche die Schrecklichkeit und Perversität eurer Entscheidungen ausdrücken können!« Nevins Worte schlugen auf sie ein wie tosende Wellen. Seine Stimme zitterte mit jedem Wort, doch verlor nichts an Kraft. Seine Augen glänzten feucht, doch sein Gesicht verlor nicht an Entschlossenheit.
Wieder lief ein Schauer über ihre Haut, bis hinunter zu ihrer Hüfte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen Adligen mit so viel Gefühl sprechen zu hören, das nichts mit Selbstsucht, Machtgier oder Wut zu tun hatte.
»Warum habt ihr aufgegeben? Warum habt ihr nicht weiter nach einer Auflösung des Fluchs gesucht? Warum habt ihr all euren Gelehrten verboten, weiterhin zu forschen? Wir glauben, dass mit Abschaffung des Urdrachens, vielleicht auch endlich dieser Fluch beseitigt wird. Wie könnt ihr uns Hilfe verweigern? Vor allem, wenn es immer mehr Drachen werden? Und zwar nicht nur im Kaiserreich. Ich kenne die Zahlen, ich weiß, dass es jedes Jahr weniger Wächter werden und dass nicht genug Lehrlinge nachkommen, um die Ränge zu füllen. Prinzessin Elyon verlangt noch nicht einmal, dass ihr den Urdrachen erlegt. Sie wird das tun. Sie ist bereit ihr Leben zu riskieren, um dem ganzen ein Ende zu setzen. Sie ist bereit, ein ganzes Land, dass rechtmäßig ihr gehört, aufzugeben! Legt eure Starrköpfigkeit ab und lasst die Wächter selbst entscheiden, ob sie ihr helfen wollen, oder nicht!«
Stille. Keiner sagte ein Wort. Die meisten hatten entfernte, nachdenkliche und bedrückte Blicke. Doch nicht die Großwächter. Ihr Gesicht war genauso hart und unnachgiebig wie zuvor. Elyon stand kurz davor ihnen ihr Schwert an den Hals zu halten.
»Prinz Nevin hat recht.« Senan trat aus der Reihe und stellte sich genau vor die Großwächter hin. »Eure Stimmen allein, reichen nicht aus, um uns zu befehligen, Großwächter Attanas. Wenn es um die Verteidigung unseres Landes geht, haben alle Obersten Wächter, mit Rücksicht auf die Wünsche und Rechte ihrer untergestellten Wächter, das letzte Wort. Und ich fordere unser Abstimmungsrecht ein. Ich fordere, dass alle Obersten Wächter, die sich in den Schluchtposten und an den Grenzposten befinden, sofort hier versammelt werden, um abzustimmen, sowie die Hälfte aller Wächter, die auf der Mauer stationiert sind.«
Kael nickte und lächelte, ohne sein stolzes Gesicht von seinem Sohn abzuwenden.
Attanas schob sein Kinn vor und wollte etwas sagen, doch ein entfernter Vogelschrei ließ alle Köpfe herumfahren. Fünf Wächter kamen angeflogen, zwei Männer, drei Frauen. Sie flogen direkt über ihnen und lehnte sich nach vorne, im Versuch, ihre Vögel nach unten zu steuern, doch die Tiere schrien auf und rissen die Köpfe zurück. So sehr die Wächter auch auf sie zuredeten, die langen Hälser klopften und sich nach vorne beugten, die Feuervögel ließen sich nicht nach unten bewegen.
»Wir haben ihn gesehen! Das riesige Ungeheuer! Nicht mehr lange und es wird die Steppen erreichen!«, rief eine Wächterin, während sie darum kämpfte, nicht von ihrem Reittier zu fallen.
Ein Knoten bildete sich in Elyons Hals und sie musste ihre Hände fest zusammenballen, um das verängstigte Zittern zu überspielen.
»Was ist eure Entscheidung? Helft ihr uns, oder nicht?«, fragte sie.
»Entfernt Euch von Höhental. Sofort. Wagt es nicht unser Volk weiterhin in Gefahr zu setzen!«, rief Attanas.
Elyon knurrte. Der Leitbulle, der genau hinter ihr stand, röhrte leise und blies ihre Haare durcheinander. Die Großwächter, die Schreiber und die anderen Wächter vor ihnen traten mehrere Schritte zurück.
»Gebt uns Zeit, wir müssen die obersten Wächter sammeln.« Senan warf einen kurzen Blick über seine Schulter und nickte Elyon zu, bevor er sich wieder seinen Vorgesetzten wandte. »Die Großwächter dürfen unser Recht nicht verweigern. Es wird eine Abstimmung geben.«
Kael trat näher an Elyon heran. »Prinzessin, die Tiere wiegeln die Feuervögel auf. Vielleicht wäre es besser, wenn Ihr unten in der Schlucht wartet, bis die Wächter Euch ihre Entscheidung mitteilen.«
Elyon ächzte, noch mehr Warterei. Da spürte sie eine Hand auf ihre Schulter. Nevin. Er drückte sie kurz und flehte sie mit den Augen an, Kaels Rat zu befolgen.
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»Wir können noch warten. Der Drache hat schon viel zerstört, es wird nur noch ein wenig mehr sein, dann werden wir ihm ein Ende setzen.« Dieses Mal, lächelte Nevin nicht. Sein Gesicht blieb ernst. Die Hand auf ihrer Schulter zitterte nicht. Als wäre er die Ruhe selbst. Elyon wünschte, sie könnte seine Selbstsicherheit aufsaugen, denn sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so ungeduldig und so aufgeregt gewesen war.
»Einverstanden.« Elyon seufzte und kletterte auf den Leitbullen.
»Ich werde hier bleiben, um die Abstimmung zu überwachen«, sagte Kael mit einem betonten Blick auf die Großwächter.
»Bist du dir sicher? Ganz allein?«, fragte Nevin, der gerade nach dem Fell seiner Büffelkuh griff und innehielt.
Kael nickte und grinste. »Mein Sohn wird schon dafür sorgen, dass seinem alten Vater nichts geschieht. Keine Sorge. Wir sehen uns gleich wieder.«
Danach führte Elyon die Herde wieder hinunter in die Schlucht und ließ sie dort rasten. Hier unten war Gras rar, doch die riesigen Tiere trotteten auf ein paar kümmerliche Büsche zu und umwickelten die trockenen Äste mit ihren langen Zungen, um genüsslich auf ihnen zu kauen.
Elyon setzte sich auf einen Felsen hin, zu klein, als dass sich noch jemand neben ihr setzen konnte.
»Willst du was essen?«
Nevin stand vor ihr und hielt Elyon einen Beutel hin. Ein rauchiger, leicht säuerlicher Duft wehte ihr in die Nase. Dörrfleisch. Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast noch nichts gegessen. Du brauchst Kraft. Und Essen kann manchmal die Nerven beruhigen.«
Statt sein Dörrfleisch zu nehmen, legte Elyon ihre Tasche ab und holte etwas getrocknetes Traumtod heraus und verteilte die Portion auf ihre Hände. Eine davon, hielt sie Nevin hin.
»Traumtod?«, fragte er.
»Beruhigt auch Menschen. Fluch weiter aufhalten.«
Ohne etwas zu sagen, nahm Nevin das Kraut und legte es sich in den Mund. Dilek und Isko gesellten sich zu ihnen.
»Was werdet Ihr tun, wenn die Wächter sich weigern, uns zu helfen?«, fragte Isko. »Werdet ihr tatsächlich hier auf das Ungeheuer warten?« Er schluckte schwer.
Elyon sagte nichts. Nickte nicht. Schüttelte aber auch nicht mit dem Kopf.
Sie wusste es nicht. Vor allem, da es nun keine Entscheidung der Großwächter sein würde, denen sie am liebsten nicht nur den Urdrachen, sondern alle Riesenbüffel und alle Drachen an den Hals hetzen wollte. Nun lag die Entscheidung in den Händen Wächter, von denen die meisten bis jetzt noch nicht mal geahnt hatten, dass Drachen eigentlich Menschen waren.
Es gab nicht viele Abstimmungen im Kaiserreich oder auf den Sturminseln. Doch Fürsten mit genug Rang, durften dort manchmal für bestimmte Gesetzesänderungen und Einführungen ihre Stimmen erheben.
Elyon fand dies besser, als das ganze Bestimmungsrecht nur einem König oder Kaiser in die Hand zu geben. Weshalb es ihr nicht wohl dabei war, sich den Obersten Wächtern in den Weg zu stellen, selbst wenn sie sich dazu entscheiden sollten, ihr nicht zu helfen. Doch ohne sie, würde es viel schwieriger werden, den Urdrachen zu erlegen. Was wäre, wenn sie auch starb? Wen würde der Urdrache als Nächstes nachjagen?
»Lasst uns erstmal abwarten, was die Obersten Wächter entscheiden werden.« Nevin verschränkte die Arme. »Und wer weiß, vielleicht werden wir ja doch Unterstützung aus Siegenshafen bekommen.«
Dilek brummte unzufrieden. »Mir wäre lieber wenn nicht. Dann doch die störrischen Höhentaler. Mir ist Demian noch weniger geheuer. Immerhin sind die Wächter in vielerlei Hinsicht unschuldig und wurden von den Großwächtern hinters Licht geführt.«
Keiner sagte mehr ein Wort darauf und schon bald ließen sie Elyon allein. Womit sich die anderen beschäftigten, bemerkte Elyon nicht. Sie versank ganz in ihre eigenen Gedanken, wo sie noch einmal ihren Plan durchging. Sie wusste was sie zu tun hatte und wie. Elyon hatte bis jetzt eigentlich nur leise Zweifel an ihre Fähigkeiten gehegt. Doch diese Zweifel köchelten nun immer mehr in ihr auf, verdrehten ihren Magen, ließen kalten Schweiß aus ihren Händen treten, je deutlicher sie sich vorstellte, wie sie dem Urdrachen begegnen würde. Sie erinnerte sich an seine Größe. An seine mit Zähnen bespickten Schnabel und Zunge.
Elyon sprang auf die Füße. Einige der Büffel, die um sie herum standen, sahen sie neugierig an. Ablenkung. Sie brauchte Ablenkung. Statt weiter zu grübeln, trat sie auf den Leitbullen zu. Er beschnupperte gerade einen Busch, der in einem Riss in der steinernen Schluchtwand wuchs.
Elyon schnalzte und das Tier drehte sich um und beugte sich zu ihr hinunter, als würde er ihre nächste Bitte erwarten. Elyon kraulte mit beiden Händen seine samtigen Wangen und der Riesenbüffel schloss die Augen. Er brummte und blieb bei ihr stehen, bis sie Nevins Stimme hörte, die nach ihr rief.
Sie lief auf das Ende der Schlucht zu, wo der Weg hinauf begann. Die anderen standen dort, sowie Kael, Senan und noch drei Oberste Wächter. Ein Mann und zwei Frauen, etwas jünger als Senan. Höhental schien wohl sehr auf die Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu bestehen, zumindest was die Anwesenheit der Wächter anging. Wenigstens eine gute Eigenschaft aus dem hochmütigen Land.
»Wir haben abgestimmt und beschlossen, Euch zu unterstützen.«
Elyon atmete erleichtert auf. Doch dann bemerkte sie, wie Senan betreten zu Boden sah.
Eine Frau mit hellblonden Haaren, die sie locker nach hinten gebunden hatte, beäugte Elyon mit einem neugierigen Blick, ehe sie sprach. »Wir haben es den Wächtern überlassen, sich freiwillig zu melden. Wir können Euch also keine Zahl angeben, wie viele sich tatsächlich anschließen werden, doch es werden nicht hundert sein. Wir müssen noch genug Kräfte hier an der Grenze bereit haben, sollten wir es nicht schaffen, den Urdrachen rechtzeitig in den Steppen aufzuhalten.«
Elyon nickte. Sie hatte nicht mit hundert gerechnet und war bereit gewesen zu verhandeln und mit weniger loszuziehen. Sie hoffte auf fünfzig. Das sollten genug Wächter und Vögel sein, um den Urdrachen abzulenken, während sie nach der Person suchte, die der Ursprung des Fluchs war.
»Ihr werdet noch ein wenig warten müssen, ehe wir alle Wächter an der Grenze befragt haben. Doch wir sind geübt darin, Nachrichten so schnell wie möglich zu verbreiten und Rückmeldungen zu bekommen«, erklärte Senan.
Mehr Warten. Elyon rieb sich die Stirn. Doch sie konnten nicht ohne die Wächter losziehen. Oder zumindest ohne zu wissen, wie viele ihnen helfen würden.