Elyon rümpfte die Nase, als sie den Fleischspieß betrachtete, den Lenius ihr gerade in die Hand gedrückt hatte.
»Warum isst du dein Fleisch eigentlich immer roh?«, fragte Alina, die ebenfalls einen Spieß bekommen hatte.
Sie war an diesem Morgen wieder als Mensch aufgewacht und war zusammen mit Lenius, Gilwa und Elyon in die nächste Stadt geflogen, um einzukaufen.
Statt ihr zu antworten, biss Elyon in ihren Spieß hinein und zog sich die Kapuze tiefer über die Stirn. Alina räusperte sich verlegen. Als Elyon ihr einen Seitenblick zu warf, waren ihre Wangen tiefrot. Das passierte fast jedesmal, wenn Alina von ihr keine Antwort bekam. Sie seufzte schwer, biss angewidert von dem durchgekochtem Fleisch ab.
»Bin so aufgewachsen. Musste oft rohes Fleisch essen«, erzählte sie mit vollem Mund. Sofort hellte sich Alinas Gesicht auf. Dabei entging ihr, dass sich ihr Umhang etwas geöffnet hatte und ihre Knie zu sehen waren.
»Vorsicht. Umhang.«
Alina zog das braune Tuch enger um ihre Knie, um die Hosen, die sie trug, zu verbergen. Da sie langes, welliges Haar hatte und deutlich weiter um ihre Büste war als Elyon, konnten sie Alina schlecht als Jungen ausgeben. Deswegen musste sie ihre Hosen, die Frauen im Kaiserreich nicht trugen, mit einem Umhang verbergen.
Während Elyon weiter ihr Mittagessen hinunterwürgte, wartete sie auf Lenius, der mit Gilwa losgezogen war, um Waffen einzukaufen. Als sie fertig war und den Spieß wegwarf, waren die zwei immer noch nicht zurück. Elyon stellte sich mitten auf dem Marktplatz und hielt nach ihnen Ausschau. Von überall schallten die lauten Stimmen der Händler auf sie ein. Die Sicht auf die bunten Stände und die Ware war verdeckt durch die Massen an Menschen, die sich darum tummelten. Elyons Herz wummerte in ihrem Brustkorb. Sie löste sich von dem Anblick der vielen Menschen und ging zurück zu Alina, die auf einer Bank saß. Hoffentlich kam Lenius bald zurück.
»Seht her! Meine Damen, meine Herren! Ich habe ein so seltenes Gut anzubieten, das kann sich keiner entgehen lassen! Echtes Drachenblut!«, schrie eine besonders durchdringende, männliche Stimme.
Alina sah mit entsetztem Blick von ihrem Essen auf. Elyon drehte sich um und suchte nach dem Besitzer der Stimme. Schräg gegenüber, hinter einem Stand, vor dem sich jetzt erst die Kauflustigen sammelten, stand ein dünner Mann mit einem schwarzen Vollbart. Sein kleiner Stand passte gerade noch so zwischen einen Obst- und einen Kräuterhändler. Der Dünne hielt eine winzige, blaue Glasflasche in der Hand.
»Seht selbst her! Das wirksamste Heilmittel in ganz Rovisland!«
Elyon trat vorsichtig näher. Jetzt hatte sich bereits eine große Schar von Leuten um ihn herum gesammelt. Elyon drängte sich, dicht gefolgt von Alina, durch die Schaulustigen, bis sie den Verkäufer sehen konnten. Der schwarzhaarige Mann setzte die Flasche auf den Tisch, nahm ein Messer und schnitt sich in die Handfläche. Er zeigte der Menge die blutende Wunde. Dann nahm er die Flasche, ließ ein Tropfen auf seine Handfläche fallen, verteilte es auf die Wunde und hielt sie wieder den Zuschauern hin.
Mehrere Augenblicke vergingen. Nichts passierte. Dann stimmte die Menge ein Raunen an. Die Wunde trocknete vor den Augen aller aus. Ein wenig später, wuchs die Haut über den Schnitt, als wäre er niemals da gewesen.
Ein lauteres Raunen. Alle fingen an aufgeregt miteinander zu reden. Die etwas reicheren Marktbesucher begannen bereits nach Preisen zu fragen.
Ein leises Wimmern schreckte Elyon auf. Lenius stand neben Alina und hinter ihm Gilwa, der sich verängstigt gegen den dunkelblonden Mann drückte.
»Ganz ruhig bleiben. Alles ist gut, mein Kleiner.« Lenius legte eine Hand auf den kleinen Kopf.
Alina sah mit blasser Nase auf die Flaschen. Elyon vermutete, dass ungefähr 100 Stück auf dem Tisch standen. Und hinter dem Tisch lagerten fünf weitere Holzkisten. In der Art wie Lenius' blaue Augen vor Wut flackerte, ahnte Elyon, wie der Mann an das Blut herangekommen war. Irgendwo, musste der Händler seinen eigenen Drachen halten, den er wie eine Kuh ausmolk. Ein Schauer fuhr über ihre Arme, als sie daran dachte, dass er wahrscheinlich nicht der einzige Drachenbluthändler im Reich war.
»Können wir helfen?«, fragte Gilwa leise.
»Ich weiß es nicht. Wir müssten ihn suchen, aber wir müssen noch einkaufen gehen«, antwortete Lenius.
Elyon wandte sich von dem Mann ab und bahnte sich einen Weg aus der Menge. »Folgen«, raunte Elyon, als die anderen aufgeholt hatten. Sie bog in die nächste Seitenstraße zu ihrer Linken ein und wartete, bis keine Menschen mehr an ihnen vorbeiliefen. Dann zog sie sich an das niedrigste Fensterbrett, das sie finden konnte hoch und kletterte hinauf auf das Hausdach. Alina folgte ihr. Lenius und Gilwa brauchten nur einen Sprung, um ihnen zu folgen. Neidisch beobachtete Elyon sie dabei, wie sie, leicht wie Federn, auf dem Dach landeten.
»Warum wird Drachenblut verkauft?« Elyon zeigte in Richtung des Händlers, dessen Stimme immer noch zu hören war. Sie wusste, dass es nicht erlaubt war, ohne eine Genehmigung des Kaisers, Drachen zu halten, denn der offizielle Befehl lautete, dass alle Drachen getötet werden mussten.
»Drachen werden im ganzen Kaiserreich gejagt und gefangen gehalten, damit man ihr Blut melken kann. Das wird dann schließlich von Schwarzhändlern verkauft«, erklärte Lenius.
Gilwa wimmerte neben ihm. Sein Blick entfernte sich, als würde der Kleine etwas vor sich sehen. Etwas Schreckliches. Elyon schluckte und wandte den Blick ab, als eine Erinnerung zurückkam, die bei Elyon die gleichen Gefühle hervorrief, die sie in Gilwas Gesicht sah. Für einen kurzen Moment, spürte sie wieder die Peitsche ihres Vaters auf ihren Rücken. Wie sie tiefe Furchen hineinschlugen, deren Narben bis heute schmerzten, wenn sie sich auf den Rücken legte.
»Gilwa, alles ist gut. Denk nicht mehr daran. Du bist sicher. Ich lasse nicht zu, dass sie dich wieder einfangen.« Er drückte den Jungen enger an sich und erklärte weiter. »Eigentlich ist es verboten, ohne die Erlaubnis des Kaisers Drachen zu halten. Aber da Drachenblut sehr viel Geld einbringt, tauchen immer wieder Schwarzhändler auf.«
»Drachen finden. Befreien.« Elyon ignorierte die überraschten Blicke der anderen. »Warten, bis Händler fertig ist, dann verfolgen. Ihr währenddessen einkaufen.«
Gilwa zog an ihrem Pelzumhang. »Du solltest nicht alleine gehen. Es ist sehr gefährlich.«
Elyon legte eine Hand auf seinen Kopf und zerzauste sanft die weichen Haare.
»Bin gefährlicher.«
»Der Händler sollte noch bis zu den nächsten zwei Glockenschlägen dort stehen, mindestens. Wenn du hier wartest und ihn beobachtest, gehen wir drei einkaufen. Dann komme ich hier her zurück, nachdem ich Alina und Gilwa in Sicherheit gebracht habe, und wir verfolgen ihn.«
Elyon nickte. Lenius war ein fähiger Kämpfer und mit seinen Drachenkräften, denen er sich selbst in seiner menschlichen Form bedienen konnte, von großem Nutzen.
Alinas Augen waren vor Furcht weit aufgerissen. Sie öffnete ihren Mund, wie um etwas zu sagen, doch Lenius und Gilwa standen auf, ehe sie ein Wort herausbrachte.
»Verzeih' mir, aber ich werde dich tragen, so geht es schneller.«
Alina sah ihn gerade fragend an, als er sie bereits aufhob, um dann mit ihr wieder hinunter auf die Straße zu springen, als keine Leute in Sicht waren. Elyon lief dabei bereits über die Dächer, um näher an den Stand zu kommen und den Händler dort ungestört zu beobachten.
–
Als Lenius sich zu Elyon aufs Dach gesellte, verkaufte der Händler gerade seine letzten Flaschen. Der Markt war noch lange nicht vorbei.
»Vielen Dank für die Geschäfte, meine wehrten Damen und Herren, aber für heute bin ich leider ausverkauft!«, rief der Händler und begann seine Sachen zu packen. Zum Schluss nahm der Mann die Schatulle mit seinem Gewinn an sich und verließ seinen Stand.
Elyon und Lenius folgte ihm über die Hausdächer. Nachdem er für einige Zeit nur der Hauptstraße gefolgt war, bog der Händler rechts in eine Nebenstraße ein. In dieser befanden sich weniger Läden und mehr Wohnhäuser, doch es liefen noch genug Menschen herum, dass Elyon sich bemühte so leise wie möglich über die Dächer zu schleichen. Dafür waren Lenius' Schritte, selbst mit ihrem guten Gehör, kaum zu vernehmen. Elyon schob es für später auf, ihn auf seine Kräfte anzusprechen und inwieweit er sie als Mensch nutzen konnte.
Die Straße bog leicht nach rechts und die Wohnhäuser wichen großen, hölzernen Lagerräumen. Hier waren nur Männer zu sehen, die auf ihren Schultern und Rücken, oder in riesigen Karren, ihre Güter trugen. Holz, Pelze, Ton, Lebensmittel. Alles war vertreten.
Der schwarzhaarige Händler überquerte gerade einen Hof auf der anderen Straßenseite, dann verschwand er durch eine große Holztür eines Lagerhauses. Die Tür war groß genug, um einen Drachen in Alinas Größe durchzukriegen. Das Schloss schnappte so laut zu, dass sie es selbst vom Dach aus hörten.
»Auf anderes Dach klettern.« Elyon zeigte auf das Flachdach des Lagers, dann tippte sie auf ihr Ohrläppchen. »Drachengehör?«
Lenius nickte. Sie beobachteten die Straße und als niemand zu sehen war, sprang Lenius, während er Elyon an den Schultern festhielt, hinunter auf die Straße. Danach liefen sie schnell über den Hof und als sie das Ende erreichten, hielt Lenius wieder Elyons Schultern fest und sprang mit ihr auf das Lagerhaus. Oben angekommen, drückte er sein Ohr an das Dach und horchte.
»Jemand geht gerade Richtung Tür.«
Beide krochen zum Dachrand hin. Der Händler kam herausmarschiert, schloss die Tür hinter sich ab und verließ dann den Hof.
»Noch jemand im Lager?«, fragte Elyon.
»Ich kann nichts hören.«
Sie wartete einen Augenblick ab, bis der Mann ganz aus ihrem Blickfeld verschwunden war, um schließlich mit Hilfe der Fensterbänke und Regenrinnen die hölzerne Wand des Lagers hinunterzuklettern. Als sie vor der großen Tür stand, zog sie einen Dietrich aus ihrem Stiefel heraus und betrachtete das Schloss.
»Sag bloß, du kannst auch Schlösser knacken?«
Elyon bewies kurz danach mit einem lauten Knacken des Schlosses. Sie drückte die Tür ein wenig auf und horchte. Nichts als Stille. Vorsichtig schob sie die Tür weiter auf. Direkt vor ihnen führte eine Holztreppe hinunter ins Lager.
»Lass mich vorgehen«, sagte Lenius.
Elyon zog ihn wieder zurück und schüttelte eisern den Kopf. Bevor er noch weiter protestieren konnte, schlich sie bereits die Treppen hinunter. Vorsichtig spähte sie um die Ecke der Holzwand, als sie die unterste Stufte erreichte. Niemand schien im Raum zu sein. Doch dann bewegte sich etwas, und das leichte Klirren von Metall, zog Elyons Aufmerksamkeit auf sich. Mitten im Raum lag ein Drache, kaum größer als Alina, mit so vielen Ketten umschlungen, dass man nur noch seinen Kopf und seine Schwanzspitze sehen konnte. Und hinter ihm, an der Wand lag ein noch kleinerer Drache, mit offenen, trüben Augen. Eine leblose Zunge hing aus seinem Maul heraus. Tot. Elyon schluckte.
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Der angekettete Drache regte sich nicht mehr. Nur das schwache Heben und Senken der Ketten um seinen Körper deuteten an, dass er noch am Leben war. Auf der linken Seite des riesigen Lagers, waren Holzkisten aufeinander gestapelt. An der rechten Wand standen ein paar Tische mit Werkzeug. Leise schlich sie zu dem angeketteten Drachen hin und berührte mit sanfter Hand seinen Kopf. Seine Lider zitterten. Nur mühsam öffneten sich die dunkelblauen Augen.
»Kannst du mich verstehen?«, fragte sie leise.
Der graue Drache winselte. Hinter ihr knarzten die Treppen leise, Elyon sah erschrocken zurück, doch es war nur Lenius. Sie ignorierte ihn und versuchte ein paar der Ketten wegzuschieben, um den Drachen nach Verletzungen abzusuchen. Sein Fell war so sehr von Blut durchtränkt, dass es schwer war, die Schnitte zu finden.
»Leben sie noch?«, fragte Lenius. Er stand einige Schritte entfernt, als würde er sich nicht trauen näher zu kommen.
»Dieser. Sehr schwach. Anderer, tot.« Elyon entdeckte die ersten Schnitte in der Bauchgegend. Und es wurden immer mehr.
Lenius kniete sich vor den Drachen hin und legte eine Hand auf seinen Kopf.
Der Drache winselte, doch es war so leise, dass es wie eher ein Keuchen klang. Elyon sog scharf Luft ein, als sie seine Hinterbeine abtastete. Eins fehlte.
»Bein abgeschnitten.«
»Bastard!«, rief Lenius leise. »Damit er nicht fliehen kann. Und seine Flughaut ist wahrscheinlich auch abgeschnitten worden. Es dauert, bis sie verheilt und bis dahin, können wir uns vor Schmerzen kaum bei Bewusstsein halten.«
»Kann nicht verwandeln?«, fragte Elyon.
»Nicht in seinem Zustand. Er ist zu schwach. Und wahrscheinlich wurde er geschlagen, jedesmal wenn er es versucht hat, sodass er sich gar nicht mehr traut. Das war bei Gilwa auch so.«
Elyon stieg, mit stechender Brust, über den Schwanz des regungslosen Drachens und suchte die Ketten nach dem Schloss ab. Sie fand es zwischen den Schultern des jungen Drachens. Lenius gab ihm etwas Wasser von seinem Schlauch, während Elyon das Schloss aufknackte. Danach begann sie mit Lenius' Hilfe die Ketten von seinem Körper zu streifen. Als sie fertig waren, versuchte der Drache seinen Kopf zu heben, doch er fiel erschöpft zurück. Elyon seufzte. Sie hatte keine Kräuter dabei, um ihn wiederzubeleben.
Da fiel ihr Blick auf die Holzkisten. Die gleichen wie am Stand. Mit schnellen Schritten erreichte Elyon die erste Kiste, öffnete eine mit Hilfe eines Messers, dass sie aus ihrem Stiefel zog und fand was sie erhofft hatte. Kleine, blaue Glasflaschen. Sie öffnete eine und ließ ein paar Tropfen auf ihren Handrücken fallen. Es hatte eine dunkle, fast schwarze Farbe. Die Flüssigkeit war viel dünner als Blut und roch leicht nach Rost, gemischt mit dem scharfen Geruch von Kräutern. Auch wenn es verdünnt war, hoffte Elyon, dass es helfen würde.
»Lenius. Kisten zum Drachen ziehen. Blut einflößen und auf Wunden geben.«
Mit seinen Drachenkräften trug er gleich drei der großen Holzkisten auf einmal zu dem Drachen hin.
»Was wenn der Händler wieder kommt?«, fragte Lenius atemlos, während er Elyon dabei half, die Flaschen zu öffnen.
»Drachenohren spitzen. Wenn was hört, Bescheid sagen. Ich kümmere mich.«
Während sie dem Drachen sein eigenes Blut einflößte, kümmerte Lenius sich um die Wunden.
Als sie eine Kiste geleert hatten, begann der Drache sich zu regen. Zuerst zuckte er mit den Ohren, dann öffnete er die Augen und starrte verwirrt um sich.
»Keine Angst, wir sind hier um zu helfen.«
Der Drache zog sich mit Mühe auf die Beine.
»Kannst du dich verwandeln?«, fragte Lenius.
Der Drache machte einen Buckel und presste die Augen zusammen. Dann löste er keuchend seinen Körper und schüttelte den Kopf. Seine Lider flatterten vor Erschöpfung.
Lenius begann, ihm noch mehr Blut einzugeben.
Elyon überließ ihm den Rest der Arbeit und ging auf den toten Drachen zu. Mit schnellen Handgriffen tastete sie den Kadaver ab. Er war erst diesen Nachmittag gestorben. Sie sollte ihn eigentlich links liegen lassen. Doch ihre Finger juckten vor Neugier. Sie hatte so viel gelernt, als sie damals mit den Ärzten die auf der Burg ihres Vaters forschten, Tierkadaver seziert hatte. Sie konnte es nicht sein lassen. Vielleicht konnte sie so das Geheimnis dieses Fluchs aufdecken.
Viel Zeit hatten sie nicht mehr, denn der Händler würde noch heute den Kadaver loswerden müssen. Sie zog das neue Kurzschwert, dass Lenius ihr soeben gegeben hatte, aus der Scheide und versuchte entlang der Wirbelsäule zu schneiden, bis ihr einfiel, dass dieses Schwert eine normale Klinge hatte. Nur Drachen und Feuervögel konnten die Haut durchdringen.
Statt es weiter zu versuchen, packte sie das Schwert zurück in die Scheide und stieg sie über den toten Drachen, um zu seinen Vorderbeinen zu gelangen. Es dauerte etwas, bis sie die Gelenkknorpel zwischen Vorder- und Unterbein mit viel Drehen und Wenden voneinander gelöst hatte. Zum Glück war dieser Drache kleiner als Gilwa. Als es knackte, ließ sie von dem linken Bein ab und benutzte die Kralle der rechten Pfote um einen Schnitt in das gebrochene Glied zu machen. Sobald die Haut aufgeschnitten war, riss sie leicht und Elyon zog mühelos die Knochen des Vorderbeins heraus, nachdem sie mit dem Schwert die Sehnen und Muskeln getrennt hatte.
»Elora! Was um alles in der Welt machst du da?!«, zischte Lenius entsetzt. Hinter ihm stand nun ein Junge, etwas älter als Gilwa, zusammengekauert auf dem Boden. Er legte dem Kleinen gerade seinen Umhang auf den Schultern. »Wir müssen hier weg! Sofort!«
Elyon ignorierte ihn und kehrte mit der Pfote zurück zum Rücken. Mithilfe einer Kralle konnte sie nun endlich die dicke Haut aufschneiden.
»Elora! Wir müssen gehen! Warum schneidest du an dem Drachen rum?«
»Geh, warte auf Dach.« Elyon erreichte gerade die Mitte des Rückens, als die Kralle hängen blieb. Sie zog an dem Fell, um die obere Hälfte aufzuklappen.
Lenius würgte leise, dann hörte Elyon rasche Schritte, die die Treppen hinauf eilten. Sie zog weiter an der oberen Haut und klemmte ein Messer in die Öffnung hinein. Als sie ein paar Muskeln zur Seite schob, tauchte ein menschlicher Fuß aus der blutroten Masse heraus. Elyon hielt die Luft an. Starrte ungläubig auf den kleinen Fuß, der unter einer dicken, elastischen Haut lag. Zögernd richtete sie die Kralle auf die Muskeln, um mit etwas Drücken und Schieben den Rücken ganz aufzuschneiden.
Sie schluckte mehrmals, ehe sie sich traute den Kadaver aufzuklappen. Direkt unter der schlangenähnlichen Wirbelsäule, in einem dünnen Hautsack, lag ein totes Mädchen. Elyon sprang von dem Kadaver weg, da hörte sie ein lautes Stampfen über ihr. Es kam vom Dach. Lenius. Als nächstes, hörte sie einen lauten Türschlag über den Treppen.
Elyon huschte schnell zu den Holzkisten und verbarg sich hinter der Größten.
»Wer ist da?!«, rief der Händler hinunter ins Lager.
»Was geht hier vor sich? Wo ist mein Drache?!«, schrie der Händler, als er unten war und stampfte auf die am Boden liegenden Ketten zu. Elyons blutverschmierte Hand lag auf das Kurzschwert. Bereit zuzustechen. Die Ketten klirrten, dann fielen sie mit einem lauten Schlag zu Boden.
»Was ist mit dem Kadaver passiert? Welcher Witzbold hat das getan? Raus mit dir, wo auch immer du dich versteckst!« Der Mann hatte kaum seinen Kopf in ihre Richtung gedreht, als Elyon hinter der Kiste hervorsprang, auf ihn zu lief und ihre Klinge in seine Brust rammte. Fast sofort, fiel der Mann in sich zusammen. Schnell löste sie die Klinge aus dem leblosen Körper und ließ ihn nach hinten fallen. Dann wischte Elyon die Klinge an seinem Hemd ab. Im selben Augenblick, tauchte Lenius am Fuß der Treppen auf.
»Elora!« Er blieb wie angewurzelt stehen, als er den toten Mann sah. Seine Kinnlade klappte herunter. Elyon schnitt ein Stück vom Saum des Hemdes, an dem sie gerade ihr Schwert abgewischt hatte, ab um damit das Blut auf ihrem Gesicht zu entfernen. Lenius schnappte mehrmals nach Luft, ohne ein Wort herauszubringen. Sie warf das Stück Stoff zu Boden und lief an ihm vorbei die Treppen hinauf.
»Gehen. Schnell!«
Als sie hinaus an die frische Luft trat, stieg ihr der Geruch von Blut in die Nase. Ihre Hände waren immer noch rot verschmiert, doch Elyon ignorierte es und konzentrierte sich darauf, die Wand des Lagers zu erklimmen. Sie zog sich gerade am Dachrand hoch, als Lenius neben ihr aufs Dach sprang.
»Was um Himmelswillen ist falsch mit dir?!«, zischte Lenius leise. »Was, was ... Ah! Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll! Dir hätte was passieren können! Und schau dich an! Du siehst aus, als kämest du direkt aus dem Schlachthof! Wir können nicht einfach in fremde Lager eindringen und ihre Besitzer ermorden!«
Elyon starrte auf ihren Pelzumhang. Er war mit Blut vollgeschmiert. Sie hätte ihn abnehmen müssen und auf dem Dach liegen lassen. Jetzt würde es ewig dauern, bis sie das ganze Blut wieder raus gewaschen hatte. Doch dafür war jetzt keine Zeit. Sie mussten verschwinden. Elyon sah gerade wie zwei breitgebaute Arbeiter über den Hof liefen.
»Wohin?«, fragte sie.
Lenius atmete schwer aus, dann hob er den verschreckten Jungen auf und rannte über die Dächer voran zum südlichen Stadtteil.
–
Sie erreichten die Burg am Abend. Sobald Elyon abgestiegen war, nahm sie ihren Umhang, den sie als Bündel auf ihrem Rücken geschnürt hatte und ging damit zum Bach, der aus einem kleinen Wasserfall entsprang, zwischen den Felsen auf der rechten Seite der Burg. Die anderen riefen nach ihr, doch sie hielt nicht an. Ihr waren Alinas beunruhigte Blicke egal. Auch Gilwas Freude über den Jungen, den sie gerettet hatten. Oder Lenius' ernsten Blick. Das Blut musste so schnell wie möglich raus gewaschen werden. Am Ufer nahm sie einen Stein der gut in ihrer Hand lag, tränkte das Fell im kalten Wasser und begann die Flecken mit dem Stein abzureiben. Als sie Schritte hinter sich hörte, warf Elyon einen kurzen Blick über die Schulter. Es war Lenius. Unbekümmert, rieb sie den Stein weiter über das Fell.
»Wir müssen reden«, sagte er ernst.
Elyon ließ nicht von ihrer Arbeit ab. Sie konnte nicht ruhen, ehe nicht das Blut vom Fell ihres Großvaters raus gewaschen war.
»Elora. Könntest du dich bitte zu mir umdrehen?«
»Kann so auch zuhören.«
Lenius stöhnte genervt und ging neben ihr in die Hocke. Sie hörte das Rascheln von Papier.
»Schaut Euch bitte das hier an, Prinzessin Elyon.«
Ein eiskalter Schauer packte sie am ganzen Körper. Ihre Hände froren in ihren Bewegungen ein. Langsam drehte sie ihren Kopf zu Lenius. Er hielt ihr ein Stück Papier hin. Es war noch hell genug, dass sie lesen konnte, was darauf stand. Der Stein fiel aus ihrer Hand, rollte das Fell hinunter und wurde vom Bach weggetrieben. Elyon hatte gerade noch genug Geistesanwesenheit, um ihren Umhang aus dem Wasser zu ziehen.
Es war ein Steckbrief. Eine der letzten Porträtradierung, die von der Hofdruckerei ihrer Burg angefertigt worden war, war darauf abgedruckt. Man sah ihr ernstes Gesicht, umrahmt von langen, dunklen Augen.
»Woher?«
»Ich habe es zufällig beim Einkaufen gefunden. Alina und Gilwa haben es nicht gesehen. Ich habe es vorher heruntergerissen.« Mit einem schweren Seufzer fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht.
Elyon nahm das Papier an sich und überflog die Zeilen. Es war eine Personenfahndung im Auftrag des Kaisers. Er hatte sogar Kopfgeld auf sie gesetzt.
Ihre Täuschung war aufgeflogen. Sie hatte es bereits erwartet. Vor allem ihr Vater würde niemals glauben, dass ausgerechnet sie von wilden Tieren gerissen worden war. Aber sie hatte gehofft, er würde es so lange wie möglich für sich behalten. Und unauffällig nach ihr suchen lassen, ohne dass der Kaiser oder König Demian davon erfuhren.
Sie ließ den Steckbrief fallen und rieb sich murrend die Stirn. Jetzt würde sie um jeden Preis alle Städte, wahrscheinlich sogar alle Dörfer meiden müssen. Der Steckbrief war bestimmt sofort, nachdem der kaiserliche Prinz sie in der Nähe vom Reich Tannschwärze gesehen hatte, in Auftrag gegeben worden. Und jetzt wusste der Kaiser, in welcher Gegend sie sich aufhielt.
Elyon hielt in ihren Sorgen inne. Sie war auf einer verlassenen Burg, die man unmöglich zu Fuß, oder zu Pferd erreichen konnte. Und die Drachen und Männer auf der Burg waren für sie nicht so gefährlich, wie die Monarchen die nach ihr fahndeten.
»Prinzessin Elyon, ich muss Euch bitten die Burg bei Morgengrauen zu verlassen.«
Elyon sah erschrocken auf.
»Ich kann Euch hier nicht mehr beherbergen. Ihr bringt wegen der Fahndung meine Bande in Gefahr.« Lenius seufzte tief und starrte nachdenklich auf das Wasser. »Und außerdem bin ich ... Ich bin einer von Demians Handlangern. Er kommt regelmäßig vorbei um die Drachen, die ich hier im Osten von Rovis aufsammle abzuholen. In den nächsten Tagen, steht wieder ein Besuch von ihm an. Er hat mir den Auftrag gegeben, nach Euch Ausschau zu halten und ihm auszuliefern, sollte ich Euch finden.«
Elyon sprang auf die Beine und wich vor Lenius zurück.
»Hört zu, eigentlich müsste ich Euch an ihn übergeben. Aber ich arbeite nicht freiwillig für ihn. Solange wir es schaffen, Eure Identität und Euren Aufenthalt geheim zu halten, sollte Demian niemals etwas erfahren. Ihr habt mir geholfen. Und ich kenne ihn. Egal was er mit Euch vorhat, es kann nichts Gutes sein.« Lenius stand auf und sah ihr entschlossen entgegen. »Wenn Ihr bis morgen verschwindet, werde ich niemanden von Eurer wahren Identität erzählen. Geht in der Früh mit Gilwa in den Wald, zum Jagen. Dann schickt ihn zurück und sagt, er soll Euch später abholen. In der Zwischenzeit könnt Ihr fliehen.«
Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, ließ er Elyon allein in der Abenddämmerung zurück.