Nevin blieb seufzend vor dem Erdhügel stehen. Eine weiße Lilie steckte vor der Kerze, die aus dem höchsten Punkt des Grabes herausstand. Naias' Grab.
Er setzte sich ins Gras und biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich hätte Nevin im Bett sein sollen. Das Morgengrauen würde noch dauern und obwohl seine Lider schwer und leicht geschwollen waren, schlug sein Herz viel zu kräftig. So war es unmöglich in Ruhe zu schlafen. Hier draußen, zwischen den Gräbern, lenkten Nevin die raschelnden Blätter der entfernten Obstbäume von seinem eigenen Herzschlag ab. Er rieb sich die Stirn, während er durch seine Drachensicht die weiße Blume betrachtete.
»Ich vermisse dich.« Nevins Stimme belegte sich so sehr, dass er mehrmals schlucken musste, um weitersprechen zu können. »Es hat wahrscheinlich keinen Sinn, so mit dir zu sprechen. Jetzt wo du nicht hier bist, aber ... jetzt gerade, ist alles etwas schwer. Sehr schwer sogar.« Er blinzelte mehrmals und hoffte, so die anbahnenden Tränen mit seinen Wimpern aufzufangen.
In den letzten Jahren, hatte er sich darin geübt, schmerzhafte Ereignisse und Gefühle zu verdrängen, um immer weiterzumachen, zu funktionieren. Damit der Fluch ihn nicht übernahm. Doch heute war sein Herz übervoll mit Trauer und Angst. Er musste sie herauslassen.
»Ich habe Elyon erzählt, alles wird gut. Und bis jetzt ist auch vieles gut gegangen. Ich weiß, ich hatte schon immer großes Glück. Aber was, wenn es dieses Mal anders ist? Was ist, wenn alles schiefläuft und diese Bestie alles und jeden auslöschen wird? Was ist, wenn der Geduldsfaden meines Vaters reißt? Werde ich dann den Mut haben, mich ihm entgegenzustellen? Meine Drachenkräfte für meinen Schutz einzusetzen?«
Nevin gab ein bitteres Lachen von sich und schlang die Arme um die angezogenen Beine.
»Ich fürchte mich so sehr vor meinem eigenen Vater, dass selbst der Fluch sich in meinen Adern völlig aufzulösen scheint, wann immer ich vor ihm stehe. Ich bezweifle, dass ich es überhaupt schaffen würde, mich vor ihm zu verwandeln.«
Er fuhr mit einer Hand über die Narbe an seinem linken Unterarm, entblößt durch den zurückgekrempelten Ärmel. Er war fünf Jahre alt gewesen, als sein Vater ihn dort aufgeschlitzt hatte, weil er am Anfang seines Schießunterrichts nie die Zielscheibe getroffen hatte.
»Ich bereue es nicht, dass ich mit Elyon den Schwur eingegangen bin. Ich glaube sogar, dass es mir etwas von dieser schweren Last abnimmt. Du weißt doch, dass ich abends immer Schulterschmerzen habe, du hast mir ja früher auch jedes Mal die Steine aufgewärmt und einen Wickel gemacht. Aber am letzten Abend, da waren sie nicht ganz so angespannt wie sonst.« Nevin schüttelte den Kopf.
»Aber ich sollte mich nicht erleichtert fühlen. Eigentlich sollte ich mich schämen. Elyon ist am Ende doch erst sechzehn. Und sie sieht erschöpft aus. Sehr erschöpft. Und ich weiß nicht, wie ich sie am besten unterstützen kann.«
Nevin legte die Stirn auf die Knie. Nicht weit von ihm, zwitscherte eine Nachtigall und ihre zarten Töne streichelten seine Ohren, wärmten seine Brust auf. Er griff auf sein Drachengehör zurück, um ihren Gesang deutlicher zu hören..
Dann hörte er die entfernten Rufe seiner Wache. Sie kamen vom Hof.
Nevin sprang auf die Beine und sprintete auf das Tor zu. Er hatte es noch nicht erreicht, als er Alina und Milo entdeckte. Sie standen nicht weit von dem Haupteingang in die Burg, vor ihnen lagen die Körper, verdeckt durch ein großes Leinentuch. Nur die grauen Schwanzspitzen waren zu sehen.
Elyon sprang von Alinas Nacken ab. Als sie auf ihn zulief, wehte ihm ein leicht metallischer Duft entgegen. Erst jetzt bemerkte er die dunklen Flecken auf Elyons Filzumhang.
Nevin schluckte schwer, suchte sie nach Verletzungen ab, doch da sie ohne sichtbare Schmerzen auf ihn zugelaufen kam und auch die anderen keinerlei Blutspuren auf ihrem Fell trugen, musste das Blut jemand anderem gehören.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Nevin trotzdem.
Elyon folgte seinem Blick auf ihren Umhang, dann nickte sie.
»Nicht meins. Musste Wache töten.«
Nevin eigene Hände waren alles andere als unschuldig. Doch Elyon schien, im Gegensatz zu ihm, nicht davon berührt zu sein, fremdes Blut auf ihrer Kleidung zu tragen. Er ahnte, dass die Wildnis ihr jede Zaghaftigkeit ausgetrieben hatte.
»Wo kann ich sezieren?«, fragte sie.
»Lass uns die Körper zur hinteren Mauer tragen.«
Er ließ nach einem Diener rufen, der sich um Kleidung für Alina und Milo kümmerte und sie danach zurück in die Burg führte, wo sie sich ausruhen sollten. Währenddessen verwandelte Nevin sich in der Sattelkammer, auf der linken Seite des Hofs, dann trug er mit seinen eigenen Pfoten die toten Drachen zum zweiten Brunnen an der Rückmauer, dort wo der Eichenwald begann. Hier waren sie weit genug von Jesko und Ilka entfernt, dass Nevin hoffte, sie würden nichts oder nur wenig von dem mitkriegen, was gleich passieren würde.
Neben dem Brunnen, lagen Eimer, Tücher, Schwerter und Dolche bereit, sowie ein Papierheft, Kohle- und Grafitstücke.
Elyon prüfte mit funkelnden Augen die Dolche. Ein kaltes Gefühl packte seine Eingeweide. Nevins Körper wurde wie ein Magnetstein von der Burg angezogen, weg von dem schauerlichen Anblick. Doch er blieb stehen, um dem Mädchen zur Seite zu stehen. Und, weil er auch ein wenig neugierig war.
Sie nahm sich zuerst den kleineren Drachen vor, dessen Fell etwas dunkler war. Ohne zu zögern, kniete sie sich vor ihm hin und stach vorsichtig in seinen Nacken und schnitt in Richtung der Schultern.
Eine dunkle Flüssigkeit floss aus dem Schnitt heraus. Erschrocken trat Elyon zurück. Ein leises Zischen war zu hören. Doch das, was Nevin einen kalten Schauer einjagte, war der Geruch. Der gleiche scharfmodrige Gestank wie der Schlack, der von dem Urdrachen ausging.
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Regungslos starrte Elyon auf die Wunde, aus der immer noch die dunkle Säure herausfloss und das Leinentuch zerfraß.
»Das ... das ist nicht normal, oder?« Nevin hielt die Luft an.
Sie nickte, die Augen immer noch stark auf die Wunde gerichtet.
»Warum?«, hauchte Elyon, dann kniete sie sich hin und berührte vorsichtig die Wunde mit den Fingerspitzen.
»Warte! Was tust du da!«, rief Nevin und beugte sich zu dem Mädchen, weil er sie von dem Drachen wegziehen wollte. Doch dann hielt er inne.
Unbekümmert zerrieb Elyon die Flüssigkeit zwischen ihren Fingern. Kein Zischen war zu hören, kein schmerzhafter Ausdruck in ihrem Gesicht zu sehen. Erst als sie die Finger zu ihrer Nase führte, verzog sie leicht das Gesicht.
»Ist kein Blut«, murmelte sie, dann tauchte sie die Finger in den Eimer, der neben ihr stand, und notierte etwas auf das gelbliche Heftpapier zu ihrer linken. Dann schnitt sie weiter an dem dunkelgrauen Hals immer mehr Flüssigkeit landete auf das Tuch.
Das unaufhörliche Zischen brachte Nevins Körper zum Zittern und er tänzelte unruhig hin und her, immer noch entzweit, ob er bleiben, oder lieber wieder verschwinden sollte.
Als Elyon die Mitte des Rückens erreicht hatte, klappte sie die obere Hälfte zurück. Alles, was Nevin erkennen konnte, waren Knochen. Der Rest waren mehrere, schleimige Brocken die in einer Suppe aus der schwarzen Säure schwamm.
Nevin würgte und hustete, wandte sich ab und lief auf den Brunnen zu. Sein Magen kollerte so heftig, dass es sein Körper sich zusammenkrümmte. Als Drache schwitzte er nicht, doch die Übelkeit heizte ihn so sehr auf, dass Nevin gezwungen war, wie ein Hund die Zunge herauszuhängen, um zu hecheln. Er streckte die Zunge nach dem Rohr aus, aus dem das Wasser in den Trog floss.
»Nevin, Hilfe!«
Sofort zog Nevin seine Zunge zurück und hastete zurück zu Elyon. Das dunkelhaarige Mädchen zog gerade den noch heilen Drachenkörper von dem anderen weg, da sich die Säure immer weiter über das Tuch und das Gras ausbreitete.
Er sprang auf sie zu, schnappte den toten Körper am Nacken und trug weg. Da sie nahe an der Mauer standen, standen sie bald auf gepflasterten Boden, dem das ätzende Gemisch nichts anhaben konnte.
»Noch nie gesehen?« Elyon zeigte auf die schwarze Pfütze und Nevin schüttelte als Antwort den Kopf.
»Noch nie toten Drachen seziert? Oder offen gesehen?«
Nevin schluckte und zwang sich, den Blick von der Säure wegzunehmen. Doch der Geruch hing wie ein dichter Nebel in der Luft. Wieder krampfte sich sein Magen zusammen.
»Drachen werden sofort nach ihrem Tod schnell verbrannt. Und unsere Waffen haben wir alle von kaiserlichen Schmieden her, denen es als einzige erlaubt ist, den Drachen ihre Knochen zu entnehmen. Ich war nie bei der Entnahme dabei oder habe über so etwas wie das da gehört.« Nevin zuckte mit dem Kopf in Richtung des regungslosen Körpers, der von einer riesigen, schwarzen Pfütze umgeben war. »Da viele Leute Angst vor dem Fluch haben, fühlen sie sich sicherer, wenn nur noch die Asche der Drachen übrig bleibt. Deswegen werden sie alle verbrannt.«
Elyon dachte kurz nach, dann schnappte sie sich wieder das Heft und schrieb sich Notizen auf.
»Drachenkörper dort vorne, wahrscheinlich schon länger tot. Körper fühlt sich anders an. Weicher, gibt schneller nach. Wie Wasserschlauch, der nicht prall gefüllt ist.«
Das flaue Gefühl in seinem Magen, raubte ihm die Worte. Nevin überlegte ernsthaft einfach wegzufliegen. Doch was auch immer Elyon entdeckte, könnte ihm auch nützlich sein.
Das Mädchen begann gerade an dem zweiten Drachen zu schneiden. Statt der schwarzen Säure, trat dieses Mal die tiefrote Flüssigkeit aus der Wunde heraus, nach der Händler im ganzen Kaiserreich gierten, um sie als Heilmittel zu verkaufen.
»Kein Blut. Zu flüssig.« Elyon hielt sich wieder die Finger vor den Augen, dunkelrot beschmiert, ehe sie weiter bis zur Mitte des Rückens schnitt. Danach landete das Schwert neben ihr auf den Pflastersteinen und sie legte eine Hand auf die obere Körperhälfte. Doch statt sie aufzuklappen, hielt sie inne und starrte Nevin an. Sie öffnete den Mund, zögerte, klappte ihn wieder zu, dann öffnete Elyon ihn wieder.
»Nicht erschrecken.«
Nevin konnte nicht erahnen, was sie meinte. Doch ihre Aussage verstärkte das flaue Bauchgefühl noch weiter. Trotzdem war er zu neugierig, um wegzusehen.
Als sie die Drachenhaut zurückklappte, verstand Nevin immer noch nicht, was sie meinte. Doch dann, erblickte er mit seinem heilen Auge etwas zwischen den Rippen. Unter ihnen lag, verhüllt durch eine halbdurchsichtige Haut, eine menschliche Gestalt.
Nevin japste erschrocken, stolperte nach hinten und stieß gegen eine Eiche. Der dicke Stamm hielt stand, doch sein Schwanz brach einige der Äste ab, die raschelnd auf ihn fielen.
»Was zum ...!«
Elyon saß da, ihr Gesicht so ernst und bedächtig wie zuvor.
»Wusstest du das? Hast du das schon einmal gesehen?«
Das Mädchen nickte nur und machte sich weitere Notizen, dieses Mal auch mit einer groben Skizze des Drachenkörpers. Danach nahm sie den Dolch in die Hand und schnitt mit der Spitze behutsam die dünne Haut auf, die über dem Körper lag.
Nevin musste sich wegdrehen. Das Bild seines eigenen Körpers drängte sich ihm auf. Gefangen in den Rippen eines Drachens, still, regungslos. Ein so heftiger Schauer überfiel Nevin, dass seine Haut schmerzte. Es war lächerlich. Er hatte bereits so viele tote Menschen und Tiere gesehen. Zerschunden, verstümmelt, ihre Innereien um sie herum verteilt. Doch es kostete ihn eine hohe Überwindung, seinen Blick wieder auf das Geschehen vor ihm zu richten.
Mittlerweile, lag der leblose Mann, nicht viel älter als Nevin selbst, auf dem Gras, gelöst von seiner elastischen Hülle. Mehrere Gewebestränge, ähnlich wie Nabelschnüre, hingen an seinem Körper. Sie führten hinein in den rosafarbenen Hautsack, in dem der Körper vorher gelegen hatte. Elyon nahm eine dieser Stränge in die Hände, unberührt von der klebrigen Flüssigkeit auf ihren Händen, und die nach ihrer Aussage kein Blut war, um sich bis hinein in der Körper vorzutasten.
»Nevin, bitte aufhalten«, murmelte sie.
Mit einem schweren Schlucken zwang er seine Beine ihn zu dem Toten zu tragen, um dann die Pfote auszustrecken und die obere Körperhälfte hochzuziehen, sodass Elyon ihre Hände tiefer in das Gewebe stecken konnte. Sie fand die den restlichen Gewebestrang in der Hauttasche und verfolgte ihn weiter den Hals hinauf.
Nevin wandte den Kopf ab und hechelte durch den Mund, um die sauren und modrigen Gerüche verdrängen.
Sehnsüchtig wartete er auf ein Wort von dem Mädchen, das ihn aus seiner misslichen Aufgaben befreien würde, doch sie sagte lange nichts. Er hörte die schmierigen Geräusche von ihren Händen, die in den Innereien herumfummelten. Das Plätschern des Wassers, wenn sie ihre Hände in den Eimer tauchte. Das Kratzen von Kohle auf Papier. Dann fing das Ganze von vorne an. Selbst mit geschlossenen Nüstern fühlte es sich an, als würde der Geruch sich langsam in seinem Maul festsetzen.
»Bin fertig«, sagte sie endlich.
Nevin ließ den Körper los, machte einen riesigen Satz auf die Burgmauer zu, nahm zuerst tief Luft, dann einen Schluck von dem Brunnen und gurgelte, bis er das Gefühl hatte, dass der Geruch nicht mehr auf seiner Zunge lag.
Als er wieder zu ihr zurückkehrte, waren Elyons kleine Hände sauber. Nur die dunklen Flecken an ihren Knien verrieten, dass sie so eben im Körper eines Drachens herumgewühlt hatte. Das Mädchen starrte mit gerunzelter Stirn auf das Gras, tief in Gedanken versunken. Ohne den Kopf zu heben, sprach sie ihn an.
»Brauche einen Raum. Zum Überlegen und Nachdenken.«
Nevin nickte erleichtert. Endlich konnte er sich Richtung Burg bewegen.