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3.2 Nevins Hürden

Nevin lief gerade am Haupteingang des Gebäudes vorbei, als zwei Gestalten durch die großen Eingangstüren herauskamen. Es waren der Bruder und das blonde Mädchen. Er ließ den Fluch aus seiner Bisswunde durch seinen Körper in sein Ohr fließen, damit er besser hören konnte und ging zu einer Bank auf der gegenüber liegenden Seite.

»Ich kann es nicht glauben, dass wir alle täuschen sollen! Da predigen sie uns seit unserer Kindheit, dass Lügen gegen das Gesetz ist und sie tun es selbst hinter unseren Rücken!« Der Bruder ballte zitternd die Fäuste zusammen und verzog das Gesicht als hätte er Schmerzen.

Tessa legte einen Arm auf seine Schulter. »Still, Aiven. Das darf niemand erfahren.« Ein schmerzhafter Ausdruck fuhr über ihr Gesicht. »Glaubst du, sie lebt noch?«

»Natürlich lebt sie noch.« Aiven starrte in die Ferne, als könnte er dort seine Schwester sehen. »Ich hasse das Gefühl, nicht so wissen, wo sie ist. Wir waren noch nie getrennt.«

Das blonde Mädchen seufzte. Nevin holte ein kleines Heft aus seiner Tasche hervor und tat so als wäre er mit Lesen beschäftigt.

»Sie sollten uns jetzt hoffentlich in Ruhe lassen. Vorausgesetzt, wir benehmen uns in der Arbeit und halten den Mund.« Sie warf einen betonten Blick auf Aiven.

»Was? Ich werde nichts anstellen! Versprochen. Ich werde brav sein. Und meine Klappe halten, keine Sorge. Das schaffe selbst ich. Die Arbeit auf dem Pferdehof ist kein Problem für mich. Wo haben sie dich noch mal eingeteilt? Tut mir leid Tessa, ich hab nicht so genau zugehört.«

»Im Postamt.«

Nevin drückte die Lippen zusammen um nicht zu grinsen. Im Pferdehof konnte er Aiven leicht von seinem Plan überzeugen. Und vielleicht, wenn er auch Tessa für seine Pläne gewann, konnte sie ihm einige Feuerfalken besorgen, die als Postboten für lange Entfernungen in Höhental dienten.

Die beiden stiegen die fünf Stufen hinunter und nahmen den Weg vorbei am Hof wo die Kutschen standen.

Nevin ließ sie einige Meter weiter laufen, eher er aufstand und ihnen folgte. Sie machten sich auf in Richtung der Hügelkette und gingen entlang der Weiden wo Schafe und Ziegen grasten, bis sie zu einem besonders hohen Hügel gelangten, wo eine einsame, riesige Eiche stand. Die beiden setzten sich ins Gras, während Nevin sich hinter dem breiten Stamm der Eiche versteckte. Von hier hatten sie einen freien Blick auf die rostbraunen Schluchten, bis hinter zu der riesigen unbewohnten Steppe die zwischen Höhental und der Kaiserstadt stand.

»Tessa, ich werde nicht hier bleiben«, stieß Aiven seufzend aus. Tessa rupfte Grashalme aus dem Boden. Beide saßen mit dem Rücken zu ihm gerichtet, so dass Nevin nicht viel mehr wahrnehmen konnte, als ihre Stimmen und ihre Gestik.

»Willst du nach Hause zurück?«

»Nein. Ich werde nicht in Höhental bleiben. Ich weiß, dass alle gepredigt haben, dass Alina und ich irgendwann eigene Wege gehen müssen, aber nicht so. Ich werde nach Alina suchen.« Aivens Stimme zitterte, als er bei seinen letzten Worten ankam. Für einen Augenblick, bewegte sich keiner von ihnen, noch sagten sie ein weiteres Wort. Dann seufzte Tessa, lang und schwer.

»Warum überrascht mich das nicht?«

Aiven warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Warum bin ich jetzt überrascht? Wo bleibt deine Standpauke? Deine, du denkst nie bevor du handelst Rede?«

»Es gibt keine. Ich werde mitkommen.«

Wieder herrschte Stille zwischen den beiden.

Nevin grinste. Er sollte sich bald zu erkennen geben und mit ihnen sprechen. Ihnen erzählen, dass er helfen konnte.

»Was?« Aiven drehte seinen Kopf zu dem blonden Mädchen und starrte sie mit offenem Mund an.

»Ich werde mitkommen. Aber nur, wenn du noch ein paar Tage wartest. Ich will vorher noch ein paar Dinge herausfinden ehe wir gehen.«

Für einen kurzen Moment schwieg Aiven, sein Mund immer noch weit offen, ehe er antwortete: »Ich wollte nicht gleich heute verschwinden.« Er drehte sich wieder nach vorne und fuhr sich mit der Hand durch das lockige Haar. »Was hast du vor? Wie kommt es, dass die sonst so vernünftige Tessa, sich in ein waghalsiges Unternehmen stürzen will?«

»Aiven, halte mich für verrückt, aber vielleicht ist ja mein Bruder auch noch am Leben.«

Nevin horchte auf.

Aivens Hand fror mitten in seinen Haaren ein. Dann fiel sie zur Seite, als wäre sie ein schweres Gewicht.

»Nein, das ist nicht verrückt. Ich habe mich das auch schon gefragt, aber nicht getraut, was zu sagen.«

»Ich will zuerst herausfinden, ob tatsächlich die Möglichkeit besteht. Er war nicht alleine, als er angeblich gestorben ist. Ich habe bereits nachgefragt, wer damals mit ihm in der Gruppe war und das er mit einem seiner Kameraden besonders gut befreundet war. Er ist immer noch im Einsatz und ich bin sicher, dass du ihn im Stall erwischen wirst, wenn du morgen dort als Stallbursche anfängst. Er ist für die innere Sicherheit in Höhental zuständig. Du musst für mich mit ihm reden.«

Die Wächter, die für die Sicherheit innerhalb des Landes arbeiteten, waren alle zu Fuß oder mit Pferden unterwegs. Sie waren nicht so hoch angesehen wie die Wächter an den Grenzen, doch wichtig genug, dass auch sie mit Argusaugen von der Regierung beobachtet wurden. Es war zu gefährlich, um einen dieser Wächter fragen über etwas zu stellen, dass die Regierung verheimlichen wollte.

»Gut. Ich kann es mal probieren. Aber es kann sein, dass wir dadurch in Schwierigkeiten geraten. Hast du nicht gesagt, ich soll meinen Mund halten?«, fragte Aiven.

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»Wenn wir sowieso abhauen, können wir es riskieren, ein paar Fragen zu stellen. Ich will auch herausfinden, was es mit den Drachen auf sich hat. Mir ist erst jetzt aufgefallen, wie dumm wir waren. Wie wenig uns über die Drachen erzählt wurden. Obwohl wir sie schon lange bekämpfen. Das macht doch keinen Sinn.«

Aiven starrte gedankenverloren auf das Gras. »Du hast recht. Es macht absolut keinen Sinn. Das selbst dir das nicht schon früher aufgefallen ist.«

Nevin presste sich enger an den Baumstamm. Gleich, gleich sollte er sich preisgeben.

»Weil wir den Wächtern und der Regierung vertrauen. Von klein auf wurde uns erzählt, dass sie nur unser Bestes wollen. Deswegen habe ich nie etwas infrage gestellt.« Tessa fuhr sich durch die kurzen hellblonden Haare. »Ich bin verwirrt. Und ich brauche noch ein paar Antworten. Gib mir ein paar Tage Zeit.«

»Ich glaube, ich könnte euch jetzt schon ein paar Antworten geben«, sagte Nevin laut und trat vorsichtig auf die beiden zu. Sie drehten sich erschrocken um und stellten sich in verteidigend auf.

Beide waren gleich groß, doch während Tessa sehr drahtig gebaut war, hatte Aiven kräftige Arme und Schultern. Im Vergleich zu ihnen, wirkte Nevins Körper dünn und schwach. Die beiden konnten nicht ahnen, dass er sie beide ohne Schwierigkeiten überwältigen konnte. Er lächelte und hielt beschwichtigend die Hände hoch.

»Keine Angst. Ich will euch nichts tun. Ich bin Nevin.«

Aiven trug seinen Zorn offen in seinem Gesicht. Tessas Miene war wie eingefroren und ihr kalter Blick schnitt ihn wie ein Messer. Sie würde sich durch ein Lächeln nicht beschwichtigen lassen. Er löste es von seinen Lippen, sondern behielt nur den Blick auf die beiden gerichtet. Tessas Körper war angespannt, doch sie betrachtete ihn mit einem kühlen Ausdruck im Gesicht, während Aivens Nasenflügel bebten und sein Körper leicht zitterte, als würde Aiven es kaum aushalten, still zu stehen und sich am liebsten auf Nevin stürzen wollte.

»Ich war heute bei der Trauerfeier. Ich habe euren Wallach gehalten. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass das Mädchen, Alina, nicht tot ist. Sie wurde in einen Drachen verwandelt.«

Aiven ließ seine Fäuste sinken. »Woher weißt du das?«

»Sagen wir, dass ich Ähnliches erlebt habe.« Nevin entgegnete Tessas forschen Blick mit all der Ruhe, die er in seiner empfindlichen Lage aufbringen konnte. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Vorsichtig trat er noch einen Schritt näher und flüsterte: »Ich bin eigentlich nicht von hier. Ich komme aus dem Kaiserreich. Ich wohne in der Singbucht, an der südlichen Küste. Es ist ein Zufluchtsort für diejenigen, die sich in Drachen verwandelt haben.«

Jetzt senkte auch Tessa ihre Fäuste und tauschte einen kurzen Blick mit ihrem Cousin aus. Aivens Augen flackerten hoffnungsvoll.

»Wir hören«, sagte Tessa streng.

»Ich habe schon mehrere Berichte gehört und Fälle gesehen, die eurem sehr ähnlich waren. Viele Drachen und ihre Familien stehen unter meinem Schutz. Einige wurden verbannt, gejagt oder gefangen genommen. Sie haben viel gelitten. Ich bin hier, weil ich ihnen helfen will. Dafür muss ich die Wächter entlarven, mit Hilfe von alten und wichtigen Schriften aus der Gelehrtenbibliothek in der Hauptstadt. Ich hab die Bibliothek bis jetzt schon mehrmals durchsucht, aber sie noch nicht gefunden und mittlerweile sind die Sicherheitsvorkehrungen dort erhöht worden. Ich brauche Hilfe um ein letztes Mal hineinzugelangen.«

»Was ist in den Schriften enthalten?«, fragte Tessa.

»Hauptsächlich die Geschichte Höhentals. Vor der Zeit der Wächter. Als das Land noch von einem König regiert wurde. Und hoffentlich auch etwas über die Drachen und wie man den Fluch aufheben kann. Da wir vermuten, dass er hier seinen Ursprung genommen hat.«

»König?«, fragte Tessa. Aiven hielt seine Hand vor ihr hin. »Warte, erzähle uns zuerst über diesen Fluch. Was bedeutet das?«

»Alle Drachen sind eigentlich Menschen. Wir vermuten, dass es ein Fluch ist, der sie in Drachen verwandelt, sobald sie von einem gebissen wurden. Ich versuche schon seit Jahren einen Weg zu finden, um ihn aufzuheben.«

Aiven tauschte einen Blick mit seiner Cousine aus. Er sah immer noch hoffnungsvoll aus, doch ihre Miene war so streng wie am Anfang.

»Wieso weißt du so viel darüber? Und wir nicht? Wieso ist das nicht unter den Wächtern bekannt?« Sie verschränkte die Arme.

»Weil ich aus dem Kaiserreich komme. Wir wissen ein wenig mehr über die Drachen. Aber selbst ich weiß nicht alles. Wenn ihr noch mehr Antworten wollt, brauche ich eure Hilfe um sie zu beschaffen«, erklärte Nevin und presste seine Lippen leicht zusammen.

»Tessa, wir sollte es versuchen«, flüsterte Aiven.

»Warum sollten wir dir vertrauen?« Tessas Augen blitzten ihn misstrauisch an.

»Du wirst eine Stelle im Postamt anfangen, nicht wahr?«, fragte Nevin.

Sie nickte nur.

»Wenn du kannst, versuche in den Turm im Postamt zu gelangen, dort wo die Feuerfalken landen und suche nach Briefen, die mit einem braunen Lederband zusammengebunden sind. Sie kommen aus der Singbucht. Sie werden nicht gelesen, sondern sofort verbrannt. Du kannst gerne versuchen einen von ihnen zu lesen. Lass dich nur nicht erwischen. Wir können uns morgen Abend wieder treffen. Ich werde um Mitternacht hier sein und auf euch warten. Bitte behaltet diese Unterhaltung für euch. Die Spione dürfen nichts davon erfahren.«

Beide rissen die Augen auf.

»Was? Was meinst du damit?«, fragte Aiven.

»Eure Regierung setzt Spione auf die Wächter, die entweder einen Drachenbiss oder eine Verwandlung mitbekommen haben. Und auch auf die Verwandtschaft des Gebissenen.«

Tessas Arme fielen herunter. »Spione?«

Nevin nickte. »Damit sie sicher sind, dass niemand etwas ausplaudert.«

»Und was passiert, wenn jemand etwas sagt?«, fragte Aiven.

Nevin presste seine Lippen zusammen. Keiner von ihnen hatte überlebt.

»Nichts Gutes. Ich muss zurück in die Arbeit. Überlegt es euch bis morgen. Wenn ihr mir helft, kann ich euch sicher aus Höhental schleusen.«

»Du kannst mit mir rechnen«, platzte es aus Aiven heraus.

Tessa packte seine Schulter. »Aiven, sollten wir uns das nicht zuerst besser überlegen?«

Er schüttelte den Kopf. »Du kannst noch so vernünftig auf mich einreden, wie du willst. Ich muss sie finden. Sie ist meine kleine Zwillingsschwester. Wir haben versprochen, dass wir immer gegenseitig auf uns aufpassen. Das kann ich nicht, wenn ich nicht weiß, wo sie ist.«

Tessa seufzte und fuhr sich durch ihre kurzen blonden Haare. Während sie überlegte. Dann nickte sie leicht. »Wir helfen. Dafür bekommen wir mehr Informationen über die Singbucht, die Drachen, Zugang zur Singbucht und Hilfe um meine Cousine wiederzufinden. Aber nur, wenn das, was du über die Briefe gesagt hast, stimmt.«

Nevin ließ sein Lächeln wieder über die Lippen kommen. »Abgemacht.«