Gähnend stieg Alina die knarrenden Holztreppen hinunter. Gilwa saß am Tisch, mit Steinen und Tannenzapfen vor ihm verteilt, die er im spielerischen Ernst in Grüppchen zusammenschob.
»Guten Morgen. Wo ist Elora?«
»Sie ist im Wald um zu jagen. Ich hole sie später ab.« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er vorsichtig einen weiteren Stein auf einen hohen Haufen legte, den er gerade baute.
Alina lächelte, dann nahm sie etwas Brot und schmierte es mit Butter ein, die sie gestern eingekauft hatten. So wie Gilwa sich gestern darüber gefreut hatte, versuchte sie das Streichfett so dünn wie möglich auf die Brotscheibe zu schmieren, damit sie länger davon zehren konnten. Gerade als sie davon abbeißen wollte, ertönte in der Ferne lautes Geschrei.
»Irgendwas ist auf der Burg los!« Gilwa sprang so heftig von seinem Stuhl auf, dass er dabei alle seine Steinhaufen umwarf. Mit dem Brot im Mund, rannte Alina ihm hinterher um vor dem verschlossenem Burgtor zu stehen und zu horchen, was vor sich ging.
Es war ein so lautes Durcheinander an Befehlen, dass Alina kein einziges Wort verstand. Da schnappte Gilwa nach Luft. Er packte Alina am Saum ihres Hemds und zog sie zurück ins Haus.
»Was ist los?«, fragte sie erschrocken.
»Es ist König Demian! Er ist unterwegs. Schnell, wir müssen uns verstecken. Er darf mich nicht sehen!«
Gerade als sie die Tür erreichten, schossen fünf hellgraue Drachen direkt über ihnen auf die Burg zu. Auf einem von ihnen saß ein hellblonder, junger Mann. Für einen winzigen Augenblick, sah sie sein Profil. Alinas Atem stockte, während ihr Herz mit schmerzhafter Hoffnung anschwoll. Es konnte nicht sein. Sie wagte es nicht zu hoffen. Sie presste ihre Füße gegen den Boden und hielt sich an den Türrahmen fest, um nicht mit ins Haus gezogen zu werden.
»Gilwa! Ich muss in die Burg! Sofort!«
»Nein, wir dürfen nicht. Wenn Demian dich sieht, nimmt er dich mit.«
»Ich muss! Gilwa, das war mein Cousin!«
Der kleine Junge ließ ihr Hemd los und trat ein paar Schritte zurück.
»Dein Cousin? Dein Cousin ist der gemeine, weiße Drache?«
»Was? Wovon redest du da?«
»Er ist ein weißer Drache. Und er ist gemein. Er nimmt alle mit und zwingt sie, für ihn zu arbeiten. Deswegen müssen wir uns verstecken. Sonst müssen wir auch gegen das Kaiserreich kämpfen!«
Alina schüttelte den Kopf. »Wir können nicht den gleichen meinen. Demian ist ...« Sie raufte sich die Haare, dann beugte sie sich zu Gilwa hinunter und legte ihre Hände auf seine Schultern. »Gilwa, bitte. Ich muss in die Burg! Ich muss ihn sehen!«
Der Junge wimmerte leise und wich ihrem Blick aus. Dann zeigte er endlich auf die Mauer.
»Wenn du weiter nach rechts entlang der Mauer läufst, findest du eine Leiter.«
Ohne ein weiteres Wort, preschte Alina los. Sie fand die Strickleiter, packte sie mit zitternden Händen und kletterte hoch. Sie verpasste die letzte Stufe und rutschte von der Leiter ab. Doch im letzten Moment schlang sie den Arm um eine Zinne, zog sich hoch und landete auf dem Wehrgang. Ihr Kopf rasten so viele Fragen und Gedanken, dass es ihre Sinne betäubte.
»Hey! Was hast du hier zu suchen?«, riefen einige der Männer, als Alina die Treppen zum Hof hinuntergerannt kam. Die fünf Drachen standen in der Mitte des Hofs und drehten sich zu ihr um.
»Wo ist Demian? Ich muss ihn sofort sprechen!« Ihr stockte der Atem, als der hellste Drache mit grimmigem Blick den Hals beugte.
»Wozu?«
Alina ballte die Fäuste und schob ihre Schüchternheit zur Seite.
»Ich bin seine Cousine! Bitte sag mir, wo er ist!«
Der Drache klappte überrascht sein Maul zu, dann zeigte sein Kopf in Richtung der Doppeltüren des Saalbaus. Alina stürmte weiter. Die Tür öffneten sich zu einer niedrigen Vorhalle hin, mit einem grauen, abgenutzten Boden und Wände die früher einmal weiß gewesen waren. Von rechts hallten Schritte durch den Gang. Sie rannte ihnen nach und als sie am Ende des Gangs kam, standen die beiden vor einer Holztür die Lenius gerade öffnete, nur wenige Schritte weg von Alina. Lenius hielt verblüfft inne.
»Alina? Was machst du hier?«
Sein langhaariger Gast drehte sich um.
»Demian!«
Alina warf sich mit ausgestreckten Armen an seine Brust.
»Alina?!« Demian Stimme zitterte, während er die Hände auf ihren Kopf legte. Er schob sie sanft etwas zurück und betrachtete sie mit feuchten Augen.
Vier Jahre. Vier Jahre hatte sie nur Tessas eigenes Gesicht als Erinnerung an ihren alten Spielkameraden gehabt, der ihr so nahe stand wie ihre eigenen älteren Brüder.
»Alina, bist du es wirklich?«
Demian schloss sie in seine Arme. Er schluchzte leise auf ihrer Schulter und Alina konnte ihre eigenen Tränen nicht mehr zurückhalten.
»Ich kann es nicht glauben, dass sie gelogen haben. Wenn Aiven es wüsste. Und Tessa!«, wimmerte Alina und Demian drückte sie etwas fester. Immer noch schluchzend löste sie sich etwas von ihm, weil sie sein Gesicht sehen wollte. Es war immer noch kaum zu glauben. Er stand vor ihr. Am Leben! Wie hatte die ganze Familie vor zwei Jahren um seinen Tod getrauert. Der nie geschehen war. So viel Schmerz, nur wegen dem Trug der Großwächter.
»Lenius, wir reden später. Ich möchte mit meiner Cousine allein sein.«
»Gerne. Könnte ich sie nur für eine Minute sprechen? Es ist dringend.«
Alina drehte sich fragend zu Lenius um. Seine Lippen pressten sich zu einem dünnen Strich zusammen. Seine Stirn runzelte sich. Wieso war er so nervös?
»Nein. Es kann warten. Wir haben uns seit vier Jahren nicht mehr gesehen.« Demian löste sich von ihr und öffnete die hölzerne Tür.
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»Alina, nur ganz kurz. Bitte«, wisperte Lenius flehend.
»Komm, Alina«, sagte Demian, der immer noch vor der offenen Tür wartete.
Noch völlig von dem Wiedersehen benommen, ließ sie Lenius stehen und trat in den kleinen Raum ein. Er war bis auf einen großen Tisch in der Mitte völlig leer. Das Polster auf den drei Stühlen, die noch da standen war so abgenutzt, dass Alina sich fast nicht traute sich daraufzusetzen, damit der Stoff sich nicht durch den Druck weiter auflöste. Demian zog zwei Stühle von dem Tisch und stellte so nahe hin, dass sich ihre Knie berührten als sie sich gegenüber saßen. Mit einem sanften Lächeln, nahm er ihre Hand und drückte sie herzlich.
»Ich kann es kaum glauben, dass du hier bist. Aber, Alina, ich rieche den Fluch in dir. Wurdest du auch gebissen?«
Alina nickte.
»Wie? Sind die Drachen schon so weit in Höhental eingedrungen?«
Alina schüttelte den Kopf und berichtete ihm was er in den letzten zwei Jahren verpasst hatte. Über die Wächterausbildung und über ihren Unfall.
»Das heißt, du weißt nicht was mit Aiven und Tessa geschehen ist, nachdem du fliehen musstest?«, fragte Demian besorgt.
»Nein. Gar nicht.«
»Verdammt«, flüsterte Demian. »Wenn sie nicht schweigen, könnte ihnen Schlimmes zustoßen.«
»Was? Wie meinst du das?«
Demian seufzte. »Die Großwächter werden sie streng überwachen. Doch Tessa ist schlau. Sie wird schon wissen wie sie sich zu verhalten haben.«
»Wie bist du aus Höhental entkommen?«
»So ähnlich wie du. Als ich gebissen wurde, wussten meine Kameraden, die alle um einiges älter waren, bereits Bescheid und richteten ihre Waffen auf mich. Ich bin ihnen davon galoppiert und habe glücklicherweise schnell herausgefunden, wie man fliegt. Dann hab ich mich später mit einigen Drachen zusammengeschlossen.«
»Stimmt es, dass du jetzt ein König bist?«
Demian lächelte schwach und wandte den Blick ab. »Ja. Das ist eine lange Geschichte, die ich dir später erzählen werde. Ich kann Lenius nicht so lange warten lassen. Du wirst doch mit mir kommen, oder? Mein Königreich ist für Drachen sicher. Und ich habe auch ein paar weibliche Drachen auf meinem Schloss, die sich gut um dich kümmern würden.«
Alinas Herz ging noch weiter auf. Sie hatte von Lenius bereits mitbekommen, dass weibliche Drachen selten waren und hatte nichts dagegen, sich wieder mehr mit Mädchen und Frauen unterhalten zu dürfen. Vor allem mit solchen, die das gleiche Schicksal erlitten hatten, wie sie.
»Ich komme auf jeden Fall mit. Ich muss nur Elora vorher Bescheid sagen. Vielleicht will sie mitkommen. Ach, fast hätte ich es vergessen! Sie hat dein Kurzschwert, kennt ihr euch?« Demians Lächeln löste sich auf, während sämtliche Farbe von seinem Gesicht wich. Er packte ihre Schultern und drückte sie so fest, dass Alina vor Schmerzen zusammenzuckte.
»Wie sieht sie aus?!«
»Was? Wieso?«
»Ist sie klein, zierlich, hat dunkle Augen und schulterlange, dunkle Haare? Trägt sie ein Wolfspelz um die Schultern? Spricht sie nur selten und sehr gebrochen?«
»Ja. Wieso? Kennst du sie tatsächlich?«
»Wo ist sie?« Demian sprang auf. »In der Burg? Ich muss sofort zur Prinzessin!«
»Sie ist nicht auf der Burg. Wir schlafen in eins der Häuser vor der Burg, neben den Feldern. Warte mal, hast du gerade Prinzessin gesagt?!«
»Prinzessin Elyon die Siebte, von den Sturminseln. Ich muss zu ihr, schnell!«
Alina fragte nicht weiter, sondern rannte mit Demian den ganzen Weg zurück. Ihr lagen einige Fragen auf der Zunge, doch sie schob sie beiseite und führte ihn zurück zum Hof. Hoffentlich war Elora, nein, Prinzessin Elyon wieder von der Jagd zurück.
»Öffnet das Tor!«, rief Demian, sobald sie den Hof betraten. Lenius löste sich von den Männern, mit denen er sich gerade unterhalten hatte und schloss sich ihnen an, sobald das Tor hochgezogen wurde.
»Was ist los?«
»Keine Zeit für Erklärungen«, gab Alina zurück. Lenius rannte dicht neben ihr.
»Alina, bitte, geh nicht zum Haus«, wisperte er, doch Alina lief noch schneller und schlug die Haustür auf. Der Raum war menschenleer.
»Elyon! Gilwa! Kommt herunter! Es ist tatsächlich mein Cousin!« Sie ging auf die Treppe zu und stellte sich auf Zehenspitzen um einen Blick auf die Liegen zu bekommen. Doch auch dort war niemand da.
»Sie sind nicht hier«, erklärte Alina atemlos, als sie wieder draußen stand.
Demian warf Lenius einen eisigen Blick zu. Alina schluckte. Diesen Ausdruck hatte sie noch nie von ihm gesehen.
»Eine Erklärung, wenn ich bitten darf? Ich hatte dir befohlen mir sofort zu berichten, solltet ihr die Prinzessin finden.«
»Es tut mir leid, Demian. Ich habe es selbst erst gestern Abend herausgefunden«, stammelte Lenius.
»Warte, das sieht aus wie Gilwa.« Alina zeigte nach oben.
Ein kleiner Drache schlängelte sich durch die Luft. Er hielt an, als er sie bemerkte und drehte sich zur Seite um davonzufliegen, doch Alina winkte ihn eifrig zu sich. Zögernd kam er angeflogen, landete dicht hinter Lenius und versteckte den Kopf mit einem leisen Winseln hinter seinem Rücken.
»Ein weißer Drache? Ich dachte, du wärst der einzige.« Demians leise Stimme verzerrte sich vor Wut. Wieder überrascht, starrte sie ihren Cousin von der Seite an.
»Demian, er ist gerade mal 6 Jahre alt. Ich bin alles, was er gerade hat. Bitte verstehe, er ist noch zu jung.«
»Das tut nichts zur Sache. Je früher er eingeübt wird, desto besser. Doch genug davon. Wo ist die Prinzessin?«
Gilwa machte sich so klein es ging und gab nur ein Winseln zur Antwort. Alina drückte sachte die Schulter ihres Cousins.
»Demian. Er ist wirklich noch klein. Lass mich mit ihm reden.«
Sie hockte sich vor Gilwa hin.
»Demian kennt Elora, die übrigens Elyon heißt. Und er muss dringend mit ihr sprechen. Weißt du, wo du sie das letzte Mal gesehen hast?«
»Ich habe sie beim Fluss abgesetzt, aber ich finde sie nicht mehr«, flüsterte Gilwa und presste die Stirn fester gegen Lenius' Rücken.
Sie gab die Antwort an Demian weiter, der Daumen und Zeigefinger an den Mund hielt um zu pfeifen.
Sofort kam ein hellgrauer Drache über die Mauer geflogen und legte sich auf den Boden, damit Demian aufsteigen konnte. Als er oben saß, streckte er seine Hand zu Alina aus.
»Komm mit. Vielleicht kannst du sie dazu überzeugen, mich in mein Reich zu begleiten.«
»Ich kann es versuchen.«
Alina nahm seine Hand und hievte sich mit Hilfe ihres Cousins auf den Drachen. War Elyon tatsächlich nicht auf die Schnelle zu finden, oder versteckte sie sich mit Absicht? Der Gedanke von ihr zurückgelassen worden zu sein, schmerzte Alina kurz. Doch es war nun egal. Lächelnd starrte sie die hellblonden Haare an, die Demian sich gerade zu einem Knoten zusammenband.