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28.1 Elyons Plan

Elyon schob ihren am Rand vergoldeten Teller von sich, der immer noch halb gefüllt mit einem Kalbsbraten, Kartoffelbrei und gekochtem Gemüse war. Sie befanden sich im Speiseraum der Burg. Ein heller Raum, mit weißen Wänden und hohen Fenstern. Der lange Tisch war verdeckt mit einer blauen Tischdecke, im gleichen Ton wie die Polster ihrer alten Holzstühle, dessen hohe Lehne Elyon kurz vergaß und so ihren Kopf auf das Holz schlug, als sie sich zurücklehnte.

Alle Augen fielen auf Elyon und sie senkte den Kopf, damit ihre Haare nach vorne fielen, um so die erhitzten Wangen zu verdecken.

Sie war so erschöpft, dass selbst dieser leichte Stoß den Tisch vor ihr schwanken ließ. Nach mehrmaligem Blinzeln stand sie vorsichtig auf.

»Verzeihung«, murmelte sie, sobald der Raum sich nicht mehr vor ihren Augen drehte und verließ den Tisch. Gleich nachdem die hohe Flügeltür hinter ihr von einem Diener geschlossen worden war, wurde sie wieder aufgerissen.

Sie kannte mittlerweile den Rhythmus der hastigen Schritte. Seufzend blieb sie stehen und drehte sich zu Nevin um.

»Genug«, murmelte sie, als er vor ihr zum Stehen kam und den Mund aufriss. Er schloss ihn wieder und rieb sich den Nacken.

»Mir gefällt dein Plan immer noch nicht.«

»Ich weiß«, murmelte Elyon. Nevin hatte es ihr vor dem Abendessen oft genug gesagt. Hätte der Diener sie nicht zum Essen geholt, würden sie immer noch in seinem Arbeitszimmer sitzen, um über ihren Plan zu diskutieren. »Bin müde. Will ausruhen.«

»Solltest du es dir anders überlegen, wir haben bis morgen vor Sonnenaufgang Zeit, um das ganze abzubrechen. Wir können statt zu den Wilden Steppen zu fliegen, in die Kaiserstadt reisen. Noch ist der Urdrache im unbewohnten Teil des Landes unterwegs.« Nevin verschränkte die Arme vor der Brust. »Zur Not nehmen wir vielleicht doch die Hilfe dieses Aiks an, statt dein Leben zu riskieren.«

»Hab ihm Brief geschrieben. Drum gebeten, sich am Treffpunkt anzuschließen.«

Nevin trat überrascht zurück. »Was?«

Elyon rieb sich die Stirn. Sie hatte ganz vergessen ihm dieses Detail zu erzählen. Sie hatte beschlossen, die Hilfe des fremden Mannes anzunehmen und ihm eine Rolle in ihrem Plan zu geben. Auch wenn ihr Bauchgefühl Elyon immer noch sagte, dass er gefährlich war. Ihr war momentan jede Hilfe recht. Hauptsache, sie erhöhten ihre Überlebenschancen. Und Elyon ahnte, dass die Macht, die er in sich trug, vielleicht sogar auf gleicher Augenhöhe war mit dem Fluch, der von ihrer Familie ausgebrochen war.

Elyons Lider drohten, sich von alleine zu schließen und ein unangenehmer Druck in ihren Augenhöhlen sorgte dafür, dass ihre ganze Stirn unter Spannung stand. Elyon massierte sich die Brauen mit den Fingerspitzen, doch der Druck verschwand nicht. Sie sehnte sich nach Ruhe, weichem Gras und den Sternenhimmel über ihr.

»Es tut mir leid. Ich weiß, du willst nicht mehr darüber reden, aber ich mache mir Sorgen.«

Elyon war zu erschöpft, um ihren Blick zu heben, doch die Worte, die er aushauchte, erinnerten sie daran, dass sie sich nicht alleine dem Ungeheuer stellen musste.

So nervig der Prinz auch manchmal war, er erinnerte sie ein wenig an ihren Ziehbruder. Der Wolfsrüde war ihre persönliche Klette gewesen. Hatte sie überall hin begleitet und wann immer sie in die Nähe von Wasser gekommen war, hatte er sich schützend zwischen ihr und der Quelle gestellt.

Das einzige Problem war, dass Nevin kein Wolf war und sie langsam die Geduld mit ihm verlor. Am liebsten hätte sie ihn so stehen lassen und wäre nach draußen gegangen. Doch ihre Beine bewegten sich nicht und die Worte, die sich in ihrem Kopf bildeten, verließen schneller ihre Lippen, als das Elyon sie noch zurückhalten konnte.

»Du glaubst, ich habe große Fähigkeiten. Was mir hilft ist, wenn du weiterhin vertraust. Nicht im Weg stehen. Unterstützen. Bitte.«

Für einen Moment betrachtete Nevin sie mit großen Augen. Dann tauchte sein berühmtes Lächeln in seinem Gesicht auf, wenn auch viel schwächer als sonst, und er nickte.

»Gute Nacht«, sagte der Prinz und kehrte zurück in den Speiseraum.

Elyon atmete auf und ging weiter auf die Tür zu, die zum Küchengarten hinter der Burg führte. Der Kiesweg führte sie vorbei an den Gemüsebeeten, auf den Zierbrunnen zu, der umgeben von Blumensträucher und Bänken war. Begleitet von dem Knirschen der kleinen, hellen Steine unter ihren Füßen, bewegte sie sich nach rechts auf das Eichenwäldchen zu.

Nevin hatte ihr ein Zimmer gegeben, doch als sie sich während des Tages dort zum Briefeschreiben zurückgezogen hatte, waren Erinnerungen an ihrem alten Gemach in der Sturminselburg hochgekommen. Ihr Herzrasen war erst vergangen, als sie den Raum wieder verlassen hatte.

Hier, wo Wände die Abendbrise nicht abschirmten und sie Elyons Wangen berühren konnte, löste sich die Anspannung in ihrem Kopf. Gepaart mit dem Duft von Laub und Gras, vertrieb ihre Umgebung die vielen Gedanken und Sorgen, die in ihrem Kopf herumschwirrten.

Elyon tauchte unter das Blätterdach der knorrigen Eichen und marschierte direkt auf die zwei Drachen zu, die vor sich hin dösten. Sie zuckten mit den Ohren, als Elyon auf einen gefallenen Ast trat und hoben ihre Köpfe.

Jesko und Ilka wedelten mit den Schwänzen und standen auf, sobald Elyon zu ihnen auf die Lichtung trat. Als sie sich zu ihr bückten, streckte Elyon ihre Arme aus um sie zu streicheln.

Da die untergehende Sonne noch etwas Licht abgab, konnte Elyon erkennen, dass Ilkas Augen nicht mehr wie die eines Raubtiers aussahen. Sie hatte nun hellbraune Augen, mit menschlichen Pupillen. Auch Jeskos Fell war nicht mehr so dunkel wie gestern. Er lag zwar noch in Ketten, aber Elyon hoffte, er würde sie bald nicht mehr um den Hals tragen müssen.

Nach ihrer Begrüßung, legten sich die Drachen wieder hin, dort wo die letzten Sonnenstrahlen das Gras golden färbten.

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Jesko, der größer war, legte sich immer gerne an seiner Seite, sodass er ein perfektes, breites Fellbett abgab.

Ohne zu zögern, kletterte Elyon seinen Bauch hinauf und legte sich in sein weiches Fell, das nach Gras und Wind roch. Sobald seine Körperwärme ihre Glieder berührten, lockerten sich Elyons Muskeln und sie merkte erst dadurch, wie sehr ihre Muskeln verspannt gewesen waren.

Schritten brachten die gefallenen Eichenblätter zum Knistern. Elyon hob den Kopf. Alina betrat gerade die Lichtung, mit hängenden Schultern und Kopf.

Die Drachen streckten ihre langen Hälser und auch Elyon setzte sich auf, während sie immer näher kam. Die Höhentalerin beachtete keinen von ihnen, sondern lief immer weiter auf Jesko zu. Erst als er leise brummte, schreckte sie zusammen und sah auf.

Trotz ihrer Überraschung, lag eine tiefe Erschöpfung in ihrem Gesicht, das selbst das schwachwerdende Tageslicht nicht verbergen konnte.

Elyon hatte sie den ganzen Tag nicht gesehen. Selbst beim Abendessen hatte sie gefehlt. Sie kam wohl gerade von Aivens Grab.

»Tut mir leid. Ich wusste nicht ...«, flüsterte Alina und seufzte. Mit leeren Augen starrte sie nach vorne.

Elyon schluckte und sie drehte sich zur Seite, während sie überlegte, was sie sagen, oder tun sollte. Sie war schrecklich mit Worten. Und es gab sowieso keine Worte, die Alina wirklich trösten konnten. Noch war ihr Verlust zu frisch, zu überwältigend. Doch Elyon wusste, dass es grausamer war, alleine mit der Trauer zu sein.

»Draußen übernachten?«

Die Höhentalerin hob den Kopf, doch ihr Gesicht zeigte keine Spur davon, dass sie Elyon verstanden hatte.

»Du, hier übernachten? Zusammen?«

Alinas Lider hoben sich etwas, ihr Mund klappte auf. Doch statt was zu sagen, nickte sie nur, kletterte an Jesko hoch und legte sich ebenfalls in sein dunkles Fell, nicht weit von seinem Oberschenkel, während Elyon näher an der Brust lag.

Regungslos saß Elyon zunächst da und beobachtete das ältere Mädchen, das sich auf die Seite legte. Dann seufzte Alina tief und Elyon rechnete fest damit, dass sie anfangen würde zu weinen. Doch sie blieb still liegen, die einzigen Töne, die von ihr kamen, waren ihr Ein- und Ausatmen. Wahrscheinlich war sie zu erschöpft, um zu weinen.

Elyon hatte sich immer noch nicht geregt, als ein kurzes Bild aus ihrer Vergangenheit in ihr hochkam. Kurz nachdem die Wölfe sie als kleines Mädchen gefunden und zurück in ihr Bau getragen hatten, hatte Elyon sich mehrere Nächte lang in den Schlaf geweint. Die Wölfe hatten sich daraufhin immer eng um sie herum gelegt, während ihre Ziehmutter immer wieder ihre Haare abgeleckt hatte.

Ein Stich fuhr durch ihre Brust und Elyon knüllte ihr Hemd über ihr Herz zusammen. Ihre Familie war tot. Die Tiere, die besser für sie gesorgt hatten, als ihr eigen Fleisch und Blut, das sich Vater nannte.

Mit enger Kehle versuchte Elyon tief einzuatmen, dann krabbelte sie vorsichtig auf Alina zu.

Im Hintergrund schwang Ilka sich auf die Beine und trottete zu ihnen. Mit ihrer Schnauze beschnupperte sie das liegende Mädchen, dann begann sie Alinas Kopf sanft anzustupsen.

Elyon streckte kurz ihre Hand aus und legte sie fast auf Alinas Schulter, doch dann zog sie diese wieder zurück und legte sich stattdessen neben ihr hin.

»Wenn ich nicht betrübt bin, fühle ich mich, als wäre ich ebenfalls tot.«, hauchte Alina. »Ich kann gerade noch nicht einmal weinen. Ist das normal? Ich kann mich nicht daran erinnern. Damals, als wir dachten, dass D... Dass mein Cousin tot war, kam es mir nicht so vor.«

»Ist normal.« Elyon dachte daran, wie oft sie sich auf der Burg gefragt hatte, ob ihr Herz noch schlug, weil sie keinerlei Leben in ihren Adern gespürt hatte. Keine Gefühle von Freude, Wut, Trauer oder Angst.

Ilka legte den Kopf auf Jesko, sodass sie Alinas Haare berührte. Der schwarze Drache regte sich ebenfalls und beugte sich vorsichtig zu ihnen herunter, ohne dass sie von seinem Körper fielen. Er schnupperte an Alina, dann jaulte er kurz auf und legte sich so hin, dass sein Kopf nicht weit von ihnen lag. Das Verhalten der Drachen gab Elyon Zuversicht, dass sie ihre Menschlichkeit wieder erlangen konnten und sie wünschte, sie könnte mehr mit ihnen Arbeiten. Doch sie würden leider warten müssen.

Elyons Kehle schnürte sich zu, als sie an das dachte, was ihr bevorstand. Sie hatte einen Plan, doch keine Garantie, dass er klappen würde. Es wäre ihr leichter gefallen, einer wirklichen Bestie entgegenzutreten, statt einem einst menschlichen Wesen. Statt ihrer eigenen Verwandtschaft. Ihr Herz machte ein Satz und ihr Körper pulsierte im Takt des Schlags. Elyon verkrallte ihre Finger in Jeskos Fell.

»Ich ... Lenius hat mit mir gesprochen. Ich fliege mit ihm morgen nach Siegenshafen und bitte Demian um Hilfe.« Ihre Stimme klang belegt.

Elyon setzte sich auf. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Sicher? Musst nicht, Lenius nimmt Brief von Nevin mit.«

»Ich gehe.«

Die untergehende Sonne verwandelte Alina immer mehr in eine dunkle Silhouette. Trotzdem konnten Elyon sehen, wie die Höhentalerin ihre Arme eng um sich schlang.

»Aiven hätte es getan. Und Demian ist Schuld. Er hätte den Urdrachen in Ruhe lassen sollen. Dann wäre vielleicht nichts passiert.«

Ihre Stimme zitterte, als sie seinen Namen erwähnte. Dieser würde nun für lange Zeit mit dem Tod ihres Zwillingsbruders für Alina verbunden sein. Genau so wie Elyons Vater für sie selbst mit dem Tod ihrer Mutter verbunden war. Mit dem Leid, dass er ihr angetan hatte.

Sie fasste sich am Handgelenk, dort wo die Lederbänder Narben verdeckten. Die Spuren von den Handschellen, die man ihr angelegt hatte, kurz nachdem sie aus dem Wald geholt worden war. Und die Elyon über zwei Jahre getragen hatte.

Seufzend zog sie die Beine an und legte das Kinn auf ein Knie. »Danke.«

Alina hielt kurz den Atem an, als würde sie über etwas nachdenken, ehe sie weitersprach.

»Ich möchte irgendwie helfen. Auch wenn ... Auch wenn ich in diesem Zustand bin. Das hätte ... Aiven auch getan. Er hätte es getan, aber, jetzt, jetzt bin nur noch ich hier. Und es gibt nicht viel, dass ich tun kann. Das konnte ich noch nie.« Alinas Stimme versagte und sie schluckte schwer. »Hätte Demian mich erwischt ...« Alina wimmerte leise.

Elyon streckte erneut eine Hand aus, doch sie fror mitten in der Bewegung ein, als kleine Schritte im Unterholz knisterten. Die Drachen hoben ihre Köpfe und eine kleine Gestalt kam zu ihnen gerannt.

»Übernachtet ihr hier?«, fragte Gilwa atemlos, als er vor Jeskos Hinterbeinen anhielt. Die Kinderaugen leuchteten gelb auf.

Ilka quiekte leise, dann schnupperte sie an Gilwa und schleckte seine Wange ab. Kichernd streichelte der Junge den dünnen Drachenkopf.

»Kann ich auch hier übernachten?«

»Sicher«, sagte Elyon und Erleichterung breitete sich in ihrem Körper aus. Gilwa hatte keine Schwierigkeiten, andere Menschen zu berühren. Er konnte Alina viel besser trösten, als sie selbst.

Kaum war der Junge zu ihnen hochgeklettert, legte er sich auch schon zwischen ihnen und kuschelte sich an Alinas Rücken. Die Höhentalerin drehte sich zu ihm um und legte einen Arm um den kleinen Jungen und drückte ihn fest an sich.

Elyon blieb sitzen, lehnte sich auf ihre Hände und betrachtete die Drachen, die wieder friedlich dösten. Horchte auf das Zirpen der Grillen, dann verfolgte sie die winzigen, blinkenden Lichter der Glühwürmchen.

Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus und Elyon legte sich langsam neben Gilwa hin. Ein klarer Sternenhimmel lag über ihnen und der Anblick trug ihre Gedanken fort von dem, was morgen auf sie zukommen würde. So weit, dass sie es sogar schaffte, nach Konstellationen Ausschau zu halten. Sie entdeckte den großen Adler, die westliche Schlange, doch durch die Wärme, die von Jeskos immer warmen Körper ausging, dem sanften Atem der zwei schlafenden Menschen neben ihr, wurden ihre Gedanken immer verschwommener und es dauerte es nicht lange bis Elyons Lider zufielen.