Alina saß draußen, nicht weit von Aivens Grab und Gilwa war gerade dabei, ihre Haare zu flechten, als Lenius zwischen den Birnbäumen auftauchte.
»Lenius! Schau! Das ist mein bester Zopf bis jetzt! Alina sieht hübsch aus, oder?«
Alina lächelte schwach, auch wenn sie kaum Kraft dafür hatte. Gilwa war entzückend genug, um sogar durch die unzähligen Trauerschichten zu dringen, die sie sich um sie gewickelt hatten. Und jeden Tag, schienen sie dichter zu werden. Doch ihr Lächeln dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann breitete sich wieder ein Gewicht in ihren Gliedern aus, dass Alina sich kaum bewegen konnte.
»Sieht wirklich hübsch aus.« Lenius streichelte Gilwas hellbraunes Haar, dann setzte er sich ins Gras und nahm die kleinen Hände in seine. »Gilwa, ich muss dir was erzählen.«
Der Junge sah zu Boden und zog die Mundwinkel nach unten, als wüsste er, was kommen würde.
»Ich werde Elyon und den anderen dabei helfen, den Urdrachen abzulenken. Ich werde bald losfliegen und wahrscheinlich bis morgen nicht wieder zurückkehren.«
Lenius streichelte Gilwas Kopf.
»Musst du gehen?«, fragte der Junge mit zitternden Lippen.
»Ja, Kleiner. Wir sind zu wenige und Elyon braucht jede Hilfe, die sie kriegen kann. Ich tue es auch für dich und für mich. Vielleicht, wenn der Urdrache weg ist, geht auch der Fluch endlich weg.«
Gilwa wimmerte und presste sein Gesicht an Lenius' Schulter.
Alina traten Tränen in den Augen und ihr Herz schmerzte, als könnte sie die Angst spüren, die sich in Gilwa ausbreitete.
Lenius schlang die Arme um Gilwa und küsste sein Haar. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich verspreche dir, dass ich gut auf mich aufpasse. Ich bin doch einer der größten Drachen weit und breit, nicht wahr? Mir kann so schnell keiner was anhaben.«
Gilwa nickte.
Alina wartete, bis das Zittern in ihrer Kehle sich etwas beruhigt hatte, dann bot sie an: »Ich passe auf ihn auf, wenn du magst.«
Lenius lächelte sie dankbar an.
»Ich werde zurückkommen, Gilwa. Versprochen.« Wieder drückte er Gilwa einen Kuss auf den Kopf.
Der Junge löste sich von ihm und streckte seine Handfläche zu Lenius aus. Dieser lächelte, holte ein kleines Messer aus seiner Brusttasche heraus und legte es auf die kleine Hand. Danach löste er seinen dunkelblonden Halbzopf und griff nach einer Haarsträhne, die ihm bis zu den Schultern reichte. Mit schnellen Handbewegungen flocht er sie zu einem dünnen Zopf zusammen und hielt ihn oben an der Kopfhaut und an der Spitze fest.
Gilwa ging mit dem Messer zu Lenius und schnitt den dünnen Zopf ab, klappte das Messer zusammen und steckte es zurück in Lenius' Brusttasche. Zum Schluss band Lenius seine Haarsträhne um Gilwas Handgelenk fest. Dann sahen sich beide an, ohne ein Wort zu sagen. Stattdessen schienen sie diese mit ihren Blicken auszusprechen.
»Ich werde zurückkommen«, wiederholte Lenius.
Gilwa nickte und legte behutsam eine Hand um die Haarsträhne.
»Na komm.« Lenius stand auf, hielt Gilwa seine Hand hin und ging mit ihm auf die Obstbäume zu. Alina blieb im Gras sitzen, unsicher, ob sie mitgehen durfte.
Da warf Lenius ihr einen Blick über die Schulter und bedeutete ihr, ihnen zu folgen. Sie sprang auf und ging mit ihnen zum Hof, wo fünf andere Männer herumstanden, mit gepackten Taschen und nachdenklichen Gesichtern.
Gilwa blieb etwas abseits mit Alina stehen, während Lenius sich mit den anderen jungen Männern besprach. Der Junge lehnte sich an ihr Bein an, während die Männer zu einem verlassenem Lagerraum gingen, um sich zu verwandeln.
Lenius musste während seiner Verwandlung gleich aus dem Lager kriechen, da seine riesige Gestalt kaum reinpasste, erst recht nicht durch das Eingangstor.
Er ging auf sie zu, während die anderen sich mitten im Hof hinstellten und auf ihn warteten. Der weiße Drache streckte Gilwa seine Schnauze entgegen und der Junge warf die Arme um den Drachenkopf und drückte ihn fest.
»Bis später«, sagte Lenius.
Gilwa sagte nichts, er schniefte nur, rieb sich die Tränen mit dem Arm von den Augen und nahm Alinas Hand.
»Danke, dass du auf ihn aufpasst.« Lenius schenkte ihr wieder ein Lächeln.
»Gerne.« Alina konnte nur nicken.
Sie blieb mit Gilwa im Hof, sah den Drachen beim Abflug zu und folgte ihnen, mit ihrem Drachenblick, bis selbst dieser die Drachen nicht mehr am Himmel ausmachen konnten.
–
Nach dem Abendessen, von dem weder Gilwa noch Alina kaum etwas hinunterbrachten, gingen sie früh ins Bett. Sie führte den Jungen in ihr Zimmer, denn sie konnte den Gedanken nicht aushalten, alleine in dem riesigen Schlafzimmer und auch noch in dem riesigen Bett zu schlafen. Alina hatte noch nie in ihrem Leben ein eigenes Zimmer gehabt. Oder alleine geschlafen. Selbst nachdem sie und Aiven in die Wächterstadt gezogen waren, hatte Alina in einem Schlafsaal mit zwanzig anderen Wächterinnen gelebt.
Und Gilwa schien es nichts auszumachen, mit ihr ein Zimmer zu teilen.
Sie half ihm, die Hände und das Gesicht zu waschen, ehe sie ihm ein Nachthemd zurechtlegte.
»Ich verstecke mich unter der Decke, dann kannst du dich umziehen«, sagte der Junge und kletterte ins Bett. Er legte sich nicht nur die Decke über den Kopf, sondern steckte ihn sogar noch unter das Kissen. Sie beeilte sich mit dem Umziehen, dann ging sie zum Bett und klopfte ihm vorsichtig auf den Rücken. Er steckte seinen Kopf aus der Bettdecke, die Haare völlig verwirbelt. Alina glättete sie wieder mit sanften Handstrichen.
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»Jetzt sind sie bestimmt schon in den Steppen, oder?«, fragte Gilwa.
Alina zog die Bettdecke zurück und legte sie über ihre Beine.
»Ich glaube schon.«
»Ist der Urdrache sehr groß? Größer als ein Berg?«
Alina hatte keinen Blick auf seinen gesamten Körper bekommen, damals in der Höhle. Doch sein Kopf war riesig genug.
»Er ist sehr groß. Größer als alles, was ich bis jetzt gesehen habe.«
Sie legte ihren Kopf auf das Kissen und Gilwa schmiegte sich an ihre Seite, als wäre sie seine Mutter, oder seine Schwester und nicht jemand, den er erst vor kurzem kennengelernt hatte.
Wie konnte er so offen sein? So nahbar und keine Hemmung vor Berührungen haben? Fröhlich sein, spielen, ein Drache sein. Wenn er doch so viel verloren hatte. Mehr sogar, als Alina, wenn sie sich richtig erinnerte. Seine Eltern, seine Geschwister. Sie stand kurz davor, ihn zu fragen, was mit seiner Familie geschehen war.
Doch ihr Herz war schwer genug. Abends war es immer besonders schlimm. Wenn alles um Alina herum stiller und ruhiger wurde, spürte sie das Gewicht all ihrer dunklen Gefühle noch deutlicher. Das riesige Loch, dass in ihr klaffte, schien sich aufzutun und drohte, sie zu verschlucken. Sie brauchte etwas anderes zur Ablenkung.
Alina drückte Gilwa fester an sich, versuchte auf die Wärme des kleinen Körpers zu achten, auf seine Atmung. Doch es war nicht genug, um sie abzulenken. Das Loch in ihr klaffte immer weiter auf und schien nach und nach all das zu verschlucken, was ihr Halt geben konnte. Hoffnung. Auf was sollte sie noch hoffen? Zukunft. Diese konnte sie sich nicht vorstellen. Liebe. Alles, was sie spürte, war Leid. Schlaf. Die Leere und der Schmerz in ihrer Brust waren zu gewaltsam, als dass sie Schlaf finden konnte.
Ihre Lider waren schwer, ihre Gedanken verworren und erschöpft. Doch alles fühlte sich viel zu heftig, so lag sie wach, ohne sich zu bewegen, ohne einzuschlafen, während die dunklen Gefühle in ihr tobten. Alina schloss die Augen. Und ihr Herz fühlte sich wieder so an, als würde bluten.
Gilwa regte sich unter ihrem Arm. Alina versuchte ruhig zu atmen, ihren Arm locker zu halten, um den Jungen nicht aufzuwecken. Doch er zog sich sanft von ihrem Halt weg und kroch aus dem Bett.
Sie öffnete ein Auge und griff auf ihre Drachensicht zurück. Sie sah noch ein kurzes Blitzen von Gilwas Drachenaugen, ehe er hinter dem Schrank verschwand. Stoff strich über Haut, dann klopften leise Schritte auf das Holz. Gilwa hatte Stiefel angezogen. Wenig später, fiel die Tür leise zu.
Sie warf die Decke zurück und hastete zu ihrer eigenen Kleidung, die neben dem Schrank gefaltet auf einer Truhe lag. Mit zitternden Händen schlüpfte sie in ihre Hosen und Hemd und ließ ihre Schuhe links liegen. Gilwa war sicherlich nicht auf dem Weg zum Abort. Er hatte etwas anderes vor.
Als sie den Gang betrat, war er nicht zu sehen. Doch das Fenster am Ende des Gangs war offen. Die Nachtbrise hatte die Kerzenleuchter an den Wänden gelöscht.
Alina lief nach links und sah hinaus. Gilwa kletterte gerade ein paar Ranken hinab. Sein Gewicht war leicht genug, dass die dünnen Pflanzen ihn tragen konnten. Und er benutzte wahrscheinlich den Fluch, um sich noch leichter zu machen.
Alina trat zurück und nahm tief Luft. Sie hatte es noch nie probiert, mithilfe des Fluchs ihren Körper leichter zu machen, doch sie musste Gilwa unbedingt einholen und die Ranken würden ihr Gewicht nicht aushalten. Und die anderen machten es auch ständig.
Sie schloss die Augen und ließ den Fluch von ihrem Arm hinunter in ihre Beine fließen. Doch nicht zu viel, nur bis Alina eine Leichtigkeit in ihrem Körper spürte, als würde er sich mit Luft auffüllen. Dann sprang sie aus dem Fenster und ließ sich fallen.
Es war nicht genug, ihr Körper viel wie ein Stein Richtung Boden. Sie ließ mehr Wärme durch ihren Körper fließen. Doch dann spürte sie, wie ihre Haut kribbelte. Ihr Fell drohte zu wachsen. Schnell zog Alina die Wärme zurück, kurz bevor ihre Füße auf den Boden trafen. Zu schnell. Ihre Füße konnten ihren Körper nicht auffangen, ihre Beine knickten ab, ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Beine und Alina landete auf den Rücken.
Sie zog scharf nach Luft ein und presste die Zähne zusammen, um keinen Laut von sich zu geben. Wenigstens war sie auf Gras gefallen, statt auf die Kieswege.
»Alina? Hast du dir wehgetan?«, wisperte Gilwa besorgt. Seine kleine Gestalt beugte sich über ihr.
»Alles in Ordnung«, stieß sie aus und als Alina sich aufsetzte, war der pochende Schmerz fast wieder vergangen. »Was machst du hier?«
Gilwa schwieg und starrte zu Boden.
»Gilwa. Du kannst nicht einfach mitten in der Nacht verschwinden, ohne mir Bescheid zu sagen. Wo willst du hin?«
»Ich halte es nicht aus«, wimmerte er. Er sah sie mit feuchten Augen an. »Es ist schlimmer für mich, hier zu warten und nicht zu wissen, was passiert. Ich will ins Krankenlager fliegen. Ich hab gehört, wie sich die anderen darüber unterhalten haben. Sie bauen es nicht weit von den Steppen auf, für die Wächter und ihre Vögel. Ich will hingehen und zusehen.«
»Dem Kampf?« Alina schluckte schwer.
»Ja.«
Alina legte ihre Hände auf Gilwas Schultern. Sie waren so winzig. Wie konnte sie zulassen, dass ein kleiner Junge einem so grausamen Kampf zusah?
»Nein, mach das nicht. Bleib hier.«
»Nein, das ist zu schrecklich. Ich muss Lenius beim Kämpfen zusehen. Ich muss. Sonst kann ich nicht schlafen, oder essen, oder spielen, oder denken! Bitte, bitte Alina. Lass mich gehen. Mir ist es egal, wie schlimm der Urdrache ist. Ich hab schon viele schlimme Dinge gesehen. Ich kann das. Aber ich kann nicht so lange von Lenius weg bleiben, wenn es so gefährlich für ihn wird! Bitte!«
Alina seufzte und ließ ihn los. Seine Worte schnitten ihr direkt ins Herz. Sie konnte ihn verstehen. Sie sollte ihn nicht aufhalten. Doch sie würde ihn auch nicht alleine lassen und ihr Versprechen brechen. Alina würde auf ihn aufpassen, so gut sie konnte.
»Gut. Aber ich gehe mit dir. Ich fliege dich hin. Ich brauche nur noch einen Umhang und eine Tasche, dann können wir los.«
Gilwa nickte und legte seine eigene Tasche vor ihren Füßen ab.
»Ich hol sie dir schnell.« Schnell wie ein Blitz, lief Gilwa zurück zu den Ranken und Alina zog sich aus, um sich zu verwandeln.
Früher, hätte sie sich davor gefürchtet, Lenius' Bitte zu missachten. Sich in etwas zu stürzen, dass viel zu gefährlich werden konnte. Oder irgendwohin zu gehen, wo sie jemanden zur Last fallen würde. Doch diese Gedanken und Gefühle waren nicht da. Sie war ruhiger, als oben in ihrem Zimmer, auf ihrem Bett. Sie fühlte sich besser in ihrer Drachengestalt und etwas leichter, als sie oben in der Luft war und Gilwa ins Lager flog.
Als sie ihre Gedanken darauf konzentrieren musste, sich durch den Himmel zu bewegen und es schwieriger für die Erinnerungen an Aiven waren, Alina völlig zu überwältigen.