Am nächsten Tag, als die Sonne hoch am Himmel stand, landeten sie in der Nähe des Kaiserflusses, dem größten und längsten im ganzen Kaiserreich. Dieser trennte auch den nordwestlichen Teil der Kaiserstadt von den Wilden Steppen.
Als Elyon von Nevin abstieg, reichte ihr das Steppengras bis an die Brust. Hinter ihr prustete Isko, der mit Dilek zusammen auf einem der Drachen aus dem Tempel mit ihnen geflogen war.
Elyon hob eine Augenbraue und warf ihm einen spitzen Blick zu. Der junge Mann mit den dunklen Locken zog den Kopf ein und murmelte eine Entschuldigung aus. Hinter ihm saßen Kael. Neben ihm, auf einem anderen, hellgrauen Drachen, saßen zwei weitere Höhentaler, die aus dem Tempel gekommen waren, um Elyon zu unterstützen. Ein ehemaliger Wächter und ein Stadtschreiber, beide älter als Isko, doch jünger als Kael.
»Bist du dir sicher, dass ich dich nicht weiter fliegen soll?«, fragte Nevin.
Elyon nickte. »Riesenbüffel sind nicht zu weit.«
»Gut, dann folge ich dir aus sicherer Höhe.«
Während die anderen begannen, ein paar Äste zusammenzusammeln und das Gras mit der Hilfe von Filzdecken platt zu drücken, schulterte Elyon einen Ledersack auf den Rücken und begann ihren Marsch durch das hohe Gras.
Sie hatte von der Ferne die Riesenbüffel gesichtet und konnte sich durch das rostrote Hochtal am Horizont orientieren, um so ihren Weg zu den Tieren zu finden. Der erste Schritt ihres Plans war der einfachste. Auch wenn sie sich einen der gefährlichsten Tierarten im ganzen Kaiserreich stellen würde, es war nichts im Vergleich zu den Schritten, die darauf folgen würden.
Mit Muskeln, die vor freudiger Erregung prickelten, schob sie die Gedanken an ihren restlichen Plan zur Seite. Sie konzentrierte sich ganz auf die legendären Tiere, denen sie bald begegnen würde.
Die Büffel sollten sich nicht unterschiedlich verhalten, als andere Rinderarten. Dank eines Bauers aus den Sturminseln hatte Elyon gelernt, wie sie die Aufmerksamkeit von Kühen erlangen konnte, ohne dass sie sich erschreckten. Sie hoffte, es würde auch auf mit den Büffeln klappen.
Obwohl es bereits Spätsommer war und die Sonne von hellgrauen Wolken bedeckt war, schwitzte Elyon bereits, als der Fluss bereits ein weites Stück entfernt war. Besonders am Rücken, wo sie Äpfel verstaut hatte, die sie für die Büffel mitgebracht hatte.
Weit über ihr zog Nevin kreise im Himmel. Da immer wieder weiße Wolken das unendliche Blau verdeckten, war der riesige Drache durch sein helles Fell manchmal kaum auszumachen.
Als die Mittagszeit vergangen war, tauchten große, dunkelbraune Punkte in der Ferne auf. Elyon hielt an. Ihr Herz wummerte in ihrer Brust und eine prickelnde Aufregung breitete sich in ihrem Körper aus.
Sie konnte die Augen nicht mehr von den braunen Flecken im goldgrünen Gras lösen.
Die Tiere standen tatsächlich vor ihr. Die Riesenbüffel, die sie bis jetzt nur aus Zeichnungen kannte. Gefährlicher als Berglöwen oder Bären. Gefürchtet von den Einwohnern von Rovisland und Höhental zugleich.
Elyon rückte den Beutel auf ihrem Rücken zurecht und ohne weiteres Zögern auf die Tiere zu. Es war eine Qual, ihre Schritte in einer langsamen Geschwindigkeit zu behalten. Am liebsten hätte sie den Beutel abgeworfen und wäre auf die majestätischen Tiere zu gerannt. Doch Elyon zügelte ihre Füße und lächelte in sich hinein.
Die kurzen Hörner und die Kopfform erinnerten sie an Wisente, doch der restliche Körper der Riesenbüffel war bedeckt mit langem, leicht struppigem Fell. Man konnte gerade noch die Unterbeine sehen, die unter dem riesigen, braunen Bündel herausschauten. Die meisten waren dunkelbraun, doch sie bemerkte auch ein paar rotbraune Tiere, von denen sich etwa hundert sich durch das hohe Gras bewegten. Die meisten Köpfe gesenkt, hier und da sprangen ein paar Kälber umher, die größer waren als ausgewachsene Hausrinder.
Elyon wagte es noch ein paar Schritte weiterzugehen, dann hielt sie an und setzte ihre Tasche ab. Ihr Herzschlag pochte bis zu den Ohren, ihre Sinne schärften sich und die freudige Aufregung blühte immer weiter in ihrer Brust auf.
Sie hatte keine Angst vor den Tieren. Sollte irgendetwas schiefgehen, würde Nevin ihr sofort zur Hilfe eilen und sie wegfliegen. Doch Elyon würde es nicht dazu kommen lassen. Bis jetzt hatte sie noch jedes Tier gebändigt, sie wollte sich diese einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, legte Elyon die Hände trichterförmig um den Mund, dann stieß sie einen langgezogenen, hohen Ruf aus. Melodischer als das Heulen von Wölfen, war der Jodelruf sehr beliebt auf den Stumrinseln, um Rinderherden herbeizurufen.
Die Köpfe der Tiere erhoben sich, während Elyon immer wieder die Rufe von sich gab, so laut sie konnte. In Büchern stand, dass Riesenbüffel sich sofort auf jeden Eindringt stürzten, den sie entdeckten. Doch jetzt standen sie wie Statuen da, alle Augen und Ohren auf sie gerichtet. Stil blieben sie für eine Weile stehen. Doch dann waren es die Kälber, die sich als Erste vorsichtig annäherten. Sie blieben über fünfzig Schritte von ihr entfernt stehen, während der Rest der Herde langsam nachzog.
Elyon ließ ihren zehnten Ruf ausklingen und wartete ab. Die Tiere zuckten mit den Ohren und einige begannen zu flehmen. Ein breit gebauter Büffel, größer als die restliche Herde, stampfte mit einer Vorderhufe. Diesen musste sie besonders im Auge behalten, da sie vermutete, dass er das Leittier war.
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Elyon bewegte sich nicht vom Fleck und begann wieder mit den Jodelrufen. Sie nahm dafür die Kraft hauptsächlich aus ihrem Zwerchfell, so wie die Bauern es ihr gezeigt hatten.
Endlich kamen die Büffel näher. Am Anfang in Schrittgeschwindigkeit, dann brach ein besonders mutiges Kalb aus der Herde und trabte auf sie zu. Sein dichtes, langes Fell bewegte sich wie wippende Wellen nach hinten.
Elyon musste sich das Lächeln verkneifen, um weiter Rufen zu können. Das Kalb war mit großer Wahrscheinlichkeit ein Männchen und würde später seine eigene Herde führen, so mutig wie es war.
Als das riesige Kalb etwa zwanzig Schritte von ihr entfernt war, hielt es wieder an. Mit zuckenden Ohren flehmte es, den Kopf weit nach oben gestreckt, danach warf es einen kurzen Blick zurück auf die Herde. Der Bulle kam nun angetrabt. Sein Körper war so massiv, dass Elyon selbst aus dieser Entfernung das Hämmern seiner Schritte im Boden spüren konnte.
Als der Riesenbüffel das Kalb erreichte, verstummte Elyon und achtete darauf, den beiden nicht in die Augen zu sehen. Sie durften sie auf gar keinen Fall für ein Raubtier halten. Stattdessen achtete sie auf ihre Beine, auf die Ohren, auf den Schwanz, an dem ebenfalls langes, welliges Fell hing.
Der Bulle stieß ein Schnauben aus, ein gutes Zeichen. Er war neugierig, doch er nahm sie noch nicht als Gefahr wahr.
Auch das Kalb neben ihm schnaubte. Trotz der fehlenden Hörner und den großen, hellbraunen Augen, war der Kleine ein Abbild des Bullen. Da sein Fell noch nicht ganz so lang und buschig war, konnte Elyon besser den Körperbau des Kalbs ausmachen. Eher breit und bullig, wie andere Rinder auch, nicht elegant und schlank wie Pferde oder Rehe.
Im Hintergrund stand die Herde eng beieinander und die Tiere zuckten immer wieder mit den Ohren und ihren Köpfen.
Sollte der Bulle sie für gefährlich halten, würde selbst ein schwacher Tritt ausreichen, um Elyon zu töten. Wieder schnaubte er und legte ein Ohr nach hinten. Das Leittier war unentschlossen. Doch Elyon gab nicht auf. Bis jetzt hatte sie jedes Tier gezähmt. Seit sie klein war, hatte sie sich wie ein Magnet zu ihnen hingezogen gefühlt und mit diesem Tier war es nicht anders. Als wären sie dazu bestimmt, eine Verbindung zueinander aufzubauen.
Sie wollte am liebsten zu ihm hinlaufen, seinen Körperbau abtasten, ihn streicheln, sein Verhalten aus der Nähe studieren. Doch Elyon verharrte dort wo sie stand. Stück für Stück beugte sie sich zu ihrer Tasche und holte einen Apfel heraus. Zur gleichen Zeit bewegte sich das Kalb etwas näher, bis der dreimal so großen Bulle sich dem Kleinen in den Weg stellte.
Das kolossale Tier schnaubte, dann trat er selbst vorsichtig auf Elyon zu, den Kopf gesenkt, die Ohren seitlich aufgestellt. Elyon senkte ihren Blick und starrte das Gras an, während sie einen Arm ausstreckte und ihm den Apfel entgegenhielt.
Mit jedem Schritt des Tieres, zitterte der Boden unter Elyons Füßen Sie spürte das Gewicht seiner Gegenwart, die immer näher kam. Eine geballte Kraft, der sie bis jetzt noch nicht begegnet war.
Elyon starrte weiterhin den Boden an, auch als der Bulle ihr so nahe stand, dass bei seinem nächsten Schnauben das Sekret aus seiner Nase als dicke Tropfen auf ihrer Hand landeten.
Ein Geruch nach süßlichem Gras und Wolle traf auf ihre Nase. Elyons ganzer Körper erschauderte, als seine Schnauze direkt vor ihrer Hand lag. Ihre Armhaare stellten sich auf, während das Tier sie beschnupperte.
Immer wieder kitzelte sein kräftiger Atemhauch ihre Finger, dort, wo sie unbedeckt von den Lederbändern waren, die Elyon sich immer um die Hand und Oberarme wickelte.
Da spürte sie eine warme, feuchte Lippe auf ihren Fingern, danach drückte sich ein Gewicht auf den Apfel und er verschwand aus ihrer Hand.
Der Bulle kaute nicht einmal, sondern schluckte die für ihn winzige Frucht einfach hinunter, dann schnupperte er wieder an ihrer Hand und leckte ihre Handfläche ab.
Dann stieß er ein leises, tiefes Brummen aus und als hätte es nur darauf gewartet, trottete das Kalb näher an Elyon heran. Vorsichtig holte sie zwei weitere Äpfel aus der Tasche, immer darauf bedacht, sich so langsam wie möglich zu bewegen.
Sie hatte den Apfel kaum herausgeholt, als das Kalb bereits danach schnappte. Elyon zog rechtzeitig ihre Hand zurück, als die gelben Zähne ihre Fingerspitzen streiften, die zum Glück nur den Apfel trafen.
Der Bulle brummte und stupste den Kleinen mit der Schnauze an. Elyon gab dem älteren Tier einen weiteren Apfel, dann streifte sie mit spitzen Fingern sein weiches Kinn.
Der Büffel zog seinen Kopf weg und zuckte wieder mit den Ohren, doch als sie einen Blick auf seine Augen erhaschte, lag ein neugieriger Ausdruck in ihnen.
Langsam bewegte sich auch der Rest der Herde auf sie zu. Die gewaltigen Körper, die sich auf Elyon zubewegten, brachten die Erde so stark zum Beben, dass Elyon sich breitbeinig hinstellen musste, um nicht ihr Gleichgewicht zu verlieren.
Ihr Herz raste immer noch vor Aufregung und der Nervenkitzel brachte ihr Blut zum Prickeln, als würden sich riesige Naturgewalten auf sie zubewegen.
Die Herde war etwa zwanzig Schritte von Elyon entfernt, als der Bulle einen Ruf von sich gab, der durch Elyons Knochen bebte und ihr Atem zum Stocken brachte.
Die Herde hielt an und beobachtete Elyon für einen Augenblick, dann stieß das Kalb Elyon so heftig mit dem Kopf an, dass sie fast zur Seite fiel. Er streckte seine Zunge aus, die länger als Elyons Unterarm war, und holte damit einen Apfel aus ihrer Tasche. Dann noch einen. Und einen weiteren.
Langsam näherte Elyon sich dem Kalb von der Seite an, während er mit Essen beschäftigt war und legte eine Hand auf seine Schulter. Diese konnte sie nur auf Zehenspitzen erreichen. Da er sich nicht von den Äpfeln ablenken ließ, begann sie den jungen Büffel zu kraulen.
Das Kalb hob den Kopf, hielt mampfend inne, dann drehte es den Kopf zu ihr um und starrte sie mit seinen dunkelbraunen Augen an. Als er sich nicht weiter bewegte, streichelte sie ihn etwas kräftiger. Sein Fell war weich, doch leicht filzig und es war schwierig, mit dem Finger durch die einzelnen Fasern zu kommen. Sie vermutete, dass Pfeile ihnen nicht viel anhaben konnten.
Das Kalb schloss die Augen und streckte seinen Kopf nach oben, während er das Kraulen genoss. Der Bulle beobachtetes für eine Weile, bevor er sich wieder mit Grasen beschäftigte. Die anderen Herdentiere folgten dem Beispiel ihres Leittiers und bald waren alle Köpfen versunken im hohen Gras. Elyon ließ von dem Kalb ab und bewegte sich mit vorsichtigen Schritten durch die Gruppe.
Ein kurzer Blick nach oben verriet, dass Nevin nicht mehr da war. Sie hatten ausgemacht, dass er zurückfliegen würde, sobald sie sich den Tieren ohne Gefahr genähert hatte. Elyon wollte nicht riskieren, dass die Tiere ihn bemerkten und aggressiv wurden. Sie hatte gelesen, dass Riesenbüffel sich selten wie Fluchttiere verhielten, denn mit ihrer massiven Größe und ihrem tödliche Röhren, konnten ihnen nicht viele Lebewesen etwas anhaben.