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12.2 Nevins Vater

»Idris, begleite deinen Bruder hinaus.«

»Jawohl, Vater.« Idris verbeugte sich und ging Nevin und Dilek voran aus dem Raum. Nevin hielt sich dicht am Rücken seines älteren Bruders und sobald sie die Treppen erreichten, zischte er in seine langen, hellbraunen Haare hinein. »Halte dich und deine Handlanger fern von der Prinzessin.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, gab Idris betont unschuldig zurück.

»Du glaubst, ich bin zu gutmütig um meine Hand gegen dich zu erheben, aber du vergisst, wer ich bin. Ich stehe über dir, in der Thronfolge und in der Nahrungskette. Sei also vorsichtig. Solange die Prinzessin noch frei ist, bleibt sie meine Verlobte. Solltest du ihr oder Finan etwas antun, werde ich dich des Hochverrats an die Kaiserfamilie für schuldig erklären und ich werde der Erste sein, der sein Schwert und seine Fangzähne gegen dich richtet.«

Sie erreichten gerade den Hof. Idris blieb stehen und drehte sich schmunzelnd um. Doch sein Blick spie Feuer. Idris' dicke Augenbrauen zogen sich zusammen, wie eine jüngere Version des Kaisers.

»Oho, dein Dasein als Ungeheuer hat dir wohl ein paar Krallen verpasst, die du gegen mich ausfahren willst. Schade nur, dass sie mir nichts antun können, da ich Vaters rechte Hand bin. Du solltest dich nicht in deinem Ton vergreifen, vor allem mir gegenüber, solange Vaters Beil noch über dir hängt, Drachenjunge. Vergiss nicht, wer in seiner Gunst steht und wer nicht. Was deine lächerliche Verlobte angeht, kann ihr momentan niemand von uns etwas anhaben. Denn sie ist nicht aufzufinden, ich habe es selbst schon versucht. Und Finan sollte brav seine Klappe halten, was dich angeht. Er hat sich an die Seite unserer Familie zu stellen und nicht von widerlichen Bestien wie dir.« Sein heißer Atem blies gegen Nevins Gesicht. Am liebsten hätte er Idris eine verpasst. Mit seinen Krallen, direkt über seine hohen Wangen, auf die Idris so stolz war. Doch er hielt sich zurück. Er war hier als Prinz gekommen, nicht als Drache.

»Viel Erfolg, noch kleiner Bruder. Hoffen wir, dass du ein weiteres Jahr als abscheuliches Ungeheuer überlebst.«

Dilek knurrte leise mit seiner Drachenstimme. Ein scharfer Geruch füllte die Luft. Schnell streckte Nevin seine Hand aus und packte Dileks Ärmel.

»Nicht hier«, flüsterte er. »Halte dich zurück.«

»Bis zum nächsten Mal.« Idris machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte zurück ins Haus. Nevin seufzte und verließ hastig das Gelände.

»Warum, Nevin? Warum lässt du dir das alles gefallen? Es ist lächerlich! Dein Vater kann dir nichts anhaben. Er weiß noch nicht mal wo du lebst, weil er glaubt, dass du dich in deiner Burg verbarrikadiert hast! Und dein Bruder erst! Zeig ihm doch mal, was du wirklich bist, dann hält er seine dreckige Schnauze.«

Nevin seufzte. Es hatte keinen Sinn etwas darauf zu erwidern. Wie oft hatten sie das schon besprochen? Er war müde. Seine Schläfen pochten. Und er musste jetzt noch nach Siegenshafen fliegen.

»Es ist die Prinzessin, nicht wahr? Sie ist der Hauptgrund, warum du deinem Vater nicht deine Macht zeigst. Aber wenn wir sie finden, können wir ihm dann endlich den Rücken zukehren? Können wir dann endlich in Ruhe und Frieden leben?« Dilek stampfte über dem Erdweg, als wollte er ihn noch weiter ebnen.

»Was hat das mit der Prinzessin zu tun?«, fragte Nevin. Sie war vielleicht ein Grund. Aber nicht der einzige. Wieder drängte sich das Bild seiner Mutter ihm auf. Und er spürte das Gewicht, dass sich auf ihn gelegt hatte, nachdem seine Großmutter die Thronfolge verkündigt hatte.

»Nevin, glaubst du ernsthaft, ich weiß nicht, warum du so versessen darauf bist, sie zu retten? Es geht doch gar nicht darum, dass sie vielleicht eine Lösung gegen den Fluch hat. Es geht darum, dass du Mitleid mit ihr hast. Du siehst dich selbst in ihr. Aber nur, weil ihr beide abartige Väter habt und von anderen wie ein wildes Tier gesehen werdet, heißt das noch lange nicht, dass sie deine Hilfe will. Sie ist weggelaufen, Nevin. Sie wird sich kaum von ihrem, ihr aufgezwungenem Verlobten retten lassen wollen!«

Nevin hielt an, ballte die Fäuste zusammen und drehte sich zu Dilek um.

»Es geht nicht allein um sie. Wie könnte ich es wagen? Ich bin der Thronfolger! Ich kann nicht einfach dem Kaiserreich meinen Rücken zukehren! Es ist meine Pflicht, mich mit den Angelegenheiten des Reichs zu befassen. Ich muss meinen Vater treffen, wenn er mich beordert!«

»Du kannst dem Reich sehr wohl deinen Rücken zukehren! Nur weil deine Großeltern dich ernannt haben, musst du noch lange nicht regieren. Du hast noch 16 andere Brüder, die das genau so gut tun können. Du willst den Thron doch gar nicht haben!« Dileks Hals war rotgefärbt, wie immer, wenn er sich ärgerte.

Nevin atmete tief ein, bevor er sich zu Dilek umdrehte und langsam, aber mit fester Stimme sprach.

»Es geht nicht darum, was ich will oder nicht. So wurde ich erzogen. Ich kann nicht anders, als so zu denken und entsprechend zu handeln. Solange ich noch am Leben bin, und solange der Fluch mich nicht übernimmt, lebe ich für das Wohl des Reiches. Für das Wohl aller Bewohner von Rovis. Aber auch, für das Wohl meiner wahren Familie, Jaro, Jesko, Ilka. Auch für dein Wohl. Und das der Drachen. Du weißt genau, dass, sollte Idris oder ein anderer meiner Brüder den Thron übernehmen, die Drachen weiterhin ausgemerzt werden. Ich bin derjenige, der am meisten was dagegen tun kann.«

Nevin löste das Band von seinem Haar und zog den Umhang von seinen Schultern.

»Wir fliegen als Nächstes nach Siegenshafen.«

Seufzend schüttelte Dilek seinen Kopf und ging zu einer lichteren Stelle im Wald, um sich zu verwandeln.

Als Nevin und Dilek Siegenshafen erreichten und sich durch die Stadt, nahe ans Meer durch die vollen Straßen gekämpft hatten, stand eine so riesige Ansammlung von Menschen am Hafen, dass der Boden nicht mehr zu sehen war. Dilek bahnte ihnen ein Weg, mit Hilfe seiner Ellbogen, bis sie nahe genug waren um zu sehen, was die Bewohner an den Hafen getrieben hatte. Ein langer, königlicher Zug bewegte sich langsam auf eine Holzbühne, am Rand es Hafens zu, wo im Hintergrund eine viermastige Karavelle schaukelte, reich verziert mit meerblauen Tücher und weißen Blumen.

Demian ritt hinter einer Truppe von sechs königlichen Wachen, auf einem weißen Pferd. Mit den hellblonden Haaren und eisblauen Augen, wirkte er wie ein Fremdkörper in der Masse von dunklen Haaren und bronzefarbener Haut, die so typisch für Siegenshafen waren.

»Riechst du es auch?«, fragte Dilek, während sie sich weiter durch die Menge kämpften, um einen besseren Blick auf die Bühne zu bekommen. Nevin nickte. Der Geruch von Drachen. Da jedoch keine der Tiere in Sicht waren, mussten sie sich in ihren menschlichen Formen irgendwo in der Menge aufhalten. Bei so vielen Leuten war es unmöglich, allein durch die Fährte herauszufinden, wer von ihnen vom Fluch befallen war.

Posaunenrufe erschallte über ihre Köpfe. Die Wachen marschierten die Stufen zur Bühne hinauf. Wie eine Mauer, bauten sie sich am Bühnenrand auf.

Die Stimmen der Zuschauer ebbte langsam ab, während sich die Menschenmasse auf die Bühne zubewegte. Arme, Schultern und Beine drückten aus allen Richtungen gegen Nevin. Schweiß rannte ihm von der Stirn. Dilek hielt sich so dicht wie möglich vor Nevin, was ihm vielleicht den Druck von vorne erleichterte, aber nicht von den Seiten und von hinten.

Demian stand nun breitbeinig auf der Bühne. Seine Augen glitten über die Menge, bevor er zu sprechen begann. Nevin war zu weit weg, um ihn deutlich hören zu können. Wärme strömte in seine Ohren, als er auf sein Drachengehör zurückgriff.

»Heute ist der Tag, an dem Siegenshafen sich offiziell der Herrschaft des Kaisers entsagt! Zu lange hat der Kaiser auf das größte Königreich in ganz Rovis herabgesehen! Ihr, das Volk, habt eure Stimme gegen die strengen Gesetze und die hohen Steuern erhoben, die der Kaiser zur eurer Unterdrückung auf euch gelegt hat. Und er hat euch nicht erhört. Doch ich, König Demian verspreche, dass ich Rovis der Allmächtige, für euch in die Knie zwingen werde! Ich werde Siegenshafen zu neuem Glanz erheben! Wir brauchen den Kaiser nicht! Wir können selbst bestimmen, wie unser Königreich zu regieren ist und wie wir die Früchte unserer harten Arbeit nutzen wollen. Nicht für das Wohl des Kaisers! Nein! Sondern für das Wohl von Siegenshafen!«

Die Luft bebte durch die Jubelrufe der Menge. Seit einigen Jahren hatte sich Frust im südlichsten Reich angestaut. Denn Demian hatte recht. Es war das größte Königreich und das ertragreichste. Da Siegenshafen die wichtigste Handelsverbindung zu den südlichen Kontinenten war, kam viel Gewinn für das Kaiserreich ein. Und ließ nur wenig davon für Siegenshafen selbst übrig. Mit Absicht. Seitdem Höhental sich unabhängig gemacht hatte, war es die größte Angst der regierenden Kaiser gewesen, dass die anderen Könige dem Beispiel der Hochebene folgen würden. Und mehr Geld würde Siegenshafen die Möglichkeit geben, ihre Marine, die sowieso schon berüchtigt war, noch weiter aufzurüsten und sich mit Hilfe der südlichen Länder garantiert seinem Vater entgegenstellen.

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Nevin hatte nur darauf gewartet, dass jemand Mächtiges das Volk gegen den Kaiser aufhetzen würde. Nun war es geschehen.

»Heute zeige ich euch, welche Macht ich mitgebracht habe! Stärker, als die gesamte Heerzahl des Kaisers, steht unserer Unabhängigkeit nun nichts mehr im Wege!« Demian streckte seinen Zeigefinger in Richtung des Schlosses aus, das auf einem Berg über die Hauptstadt thronte.

Die Posaunen ertönten wieder. Stille breitete sich über den Platz aus. Alle Blicke waren gespannt auf den weißen Palast gerichtet. Nevins Nackenhaare stellten sich auf, denn er spürte, roch und hörte was sich näherte. Eine Masse von hellgrauen Drachen strömte hinter den Schlossmauern in die Höhe. In einer langen Reihe, schlängelten sie sich in Richtung des Hafens. Die Menge schrie auf und wich zurück.

Die Drachen schwebten nun in Kreisen über der Bühne. 30, 40, 50. Es kamen immer mehr angeflogen. Am Ende zählte er über 80 Drachen, die wie eine graue Wolke über dem Hafen schwebten.

Es war kein einziger weißer Drache dabei und ihre Köpfe waren nicht viel größer, als die von Pferden. Für Dilek und Nevin also recht kleine Drachen. Doch es war eine beeindruckende Zahl. Eine bedrohliche Zahl. Nevin fürchtete, dass es noch nicht alle Drachen waren, die Demian besaß.

Er tippte auf Dileks Schulter und bedeutete ihm zu folgen. Während sie sich einen Weg zurück in die viel leereren Straßen kämpften, stieg ein mulmiges Gefühl in Nevin auf. Dilek suchte bereits die Menge ab. Er hatte es auch bemerkt. Jemand verfolgte sie.

»Ich hab ihn. Ein Mann mittleren Alters, mit einer Narbe über seine linke Augenbraue. Seine Augen sind aufgeleuchtet. Er ist auch ein Drache«, wisperte Dilek.

»Lass uns ihn in der Gasse, dort vorne links, treffen.«

Nevin ging voran und warf dabei immer wieder Blicke über seine Schulter, um sicherzustellen, dass der Mann ihnen folgte. Als sie in der Gasse waren, setzte Nevin sein allbeliebtes Lächeln auf. Dilek verzog grimmig das Gesicht.

»Was können wir für dich tun, Drachenkamerad?«, fragte Nevin.

Statt eine Antwort zu geben, schnupperte der Mann mit erhobener Nase. Sein Gesicht hellte sich begeistert auf.

»Ihr seid weiße Drachen, nicht wahr?«

»Was geht dich das an und was willst du von uns?«, fragte Dilek.

»Keine Angst. Euch passiert hier nichts. Für Drachen ist Siegenshafen der sicherste Ort im ganzen Kaiserreich. Und zwei weiße Drachen wie ihr, könnten viel Gutes für unser Reich und das restliche Land tun. Wärt ihr bereit, mich ins Schloss zu begleiten? Ich gehöre zu Demian und bin immer auf der Suche nach neuen Drachen, die sich seiner Armee anschließen möchten. Heute Nachmittag findet eine Musterung im Schloss statt, wo Demian persönlich sein Anliegen vorstellt.«

Nevins Herz schwoll vor Erleichterung an. Es war die perfekte Gelegenheit. Er konnte sich das nicht entgehen lassen. Er wollte bereits zusagen, als Dilek seine Schulter berührte und leise seinen Kopf schüttelte. Ja, es war riskant. Genauso riskant wie der Zorn seines Vaters, der nach Antworten verlangte.

»Können wir mitgehen und uns zuerst anhören, was der König zu sagen hat, ehe wir uns entscheiden?«

»Gewiss. Aber glaubt mir, König Demian kann man nichts abschlagen. Einen besseren Mann, kenne ich nicht und er tut alles für die Sicherheit der Drachen. Kommt mit.«

Sobald sie den Hof erreichten, erstarrte Nevin in seinen Schritten. Der Geruch des Fluchs hing wie ein dichter Nebel in der Luft. Jeder der im Hof an ihnen vorbeilief, trug ihn an sich, auch wenn sie nicht in ihrer Drachengestalt waren. Diese schlenderten stattdessen über die Schlossmauern, oder flogen durch das riesige, silberne Tor, das in den königlichen Park führte.

»Wie viele Drachen hat Demian bereits angeheuert?«, fragte Nevin und versuchte seine Stimme dabei möglichst beiläufig klingen zu lassen.

»113. Und mit etwas Glück, kommen heute noch einige mehr. Wir gehen direkt zum Thronsaal. Dort warten schon die anderen, die sich uns heute hoffentlich auch anschließen werden.«

113! Nevin hatte Mühe seine Haltung zu wahren. Sein Vater würde toben. In der Singbucht waren gerade mal 36 Drachen. Auf Nevins Rücken drückten Dileks drängende Blicke. Er wusste genau, dass Dilek sofort wieder umkehren wollte. Doch er konnte noch nicht gehen. Er musste so viele Informationen wie möglich sammeln. Unbeirrt, lief Nevin dem Mann hinterher und stand schon bald vor den Türen des Thronsaals. Je mehr er erfuhr, desto länger konnte er sich das Schwert seines Vaters vom Hals halten.

»Wir sollten gehen, Nevin«, zischte Dilek in sein Ohr.

»Noch nicht. Warte auf mein Zeichen.«

Sie gingen an zwei Wachen vorbei, hinein in den mit Marmor ausgeschmückten Saal. Von der Decke hingen blaue Fahnen. In der Mitte stand ein mit Perlen und Muscheln besetzter Thron, über den das goldene Wappen von Siegenshafen hing. Ein zweimastiges Schiff und ein Schwalbenfisch.

Sie wurden zu der linken Seite des Saals geführt, wo unter blauen Bannern andere aus dem Gemeinen Volk warteten. Jeder von ihnen, strömte den leicht modrigen Geruch des Fluchs aus. Nevin erkannte unter den Wartenden ein paar der markanten Falkennasen aus dem westlichen Norden. Die pechschwarzen Locken von Tannschwärze. Und die drei einzigen Frauen waren eindeutig aus der bergigen Landschaft in der Mitte des Reichs, berühmt für überirdisch schöne Mädchen. Jaro und Ilka stammten von dort.

»Ich kann es nicht glauben, dass ich endlich friedlich in einer Stadt leben kann, ohne um mein Leben zu fürchten!«, erzählte einer freudig.

»Hoffentlich knöpft sich König Demian den Rovis Bastard vor. Allmächtig, dass ich nicht lache!«

Nevin beschloss, nicht mehr auf ihre Gespräche zu lauschen und beobachtete den restlichen Saal. Zehn Wachmänner standen verteilt im Saal. Doch links und rechts neben dem Thron, standen jeweils zwei junge Männer, barfuß und mit einem langen Umhang bedeckt. Drachen.

»Demian der Erste, König von Siegenshafen!«, rief einer der Wachmänner in den Saal. Gleich darauf marschierte Demian mit weiten Schritten an ihnen vorbei und setzte sich auf den weißen Thron.

Nun stellten sich nach und nach die jungen Männer und Frauen der Reihe nach vor Demian hin. Nevin folgte ihrem Beispiel. Dabei wurde er von Dilek getrennt, der sich ganz rechts aufstellte, während Nevin selbst direkt vor dem Thron stand.

Jetzt, wo der junge, blonde Mann vor ihm saß, begann sich ein flaues Gefühl in Nevins Magengrube einzuschleichen. Es war ein Fehler gewesen hier herzukommen. Es war ein Fehler gewesen, dem Mann aus der Menge zu folgen.

Demian begann zu Reden, doch Nevin schnappte kein einziges Wort auf. Angst betäubte sein Gehör. Hoffentlich bekam Dilek alles mit. Nevin hatte ganz vergessen, dass Demian ein enger Mitarbeiter des ehemaligen Königs gewesen war. Er musste sich also mit den politischen Angelegenheiten gut auskennen. Und dazu gehörte, dass man sich jedes Mitglied der kaiserlichen Familie einprägte. Nicht nur vom Namen her, sondern auch ihr Aussehen. Die letzte offizielle Radierung seines Porträts war vor zwei Jahren herausgegeben worden, auch wenn nur für die Privatsammlungen der Könige des Kaiserreichs. Ihre engsten Mitarbeiter, hatten ebenfalls Zugang zu den Radierungen.

Nevin hielt seinen Blick gesenkt und hoffte, dass die nun viel kürzeren Haare seine Identität verbargen.

»Jeder der dabei helfen will, den Kaiser zu stürzen und das Land Rovis zu einem sicheren Ort für Drachen zu machen, möge nach vorne treten und mir seine Treue schwören«, rief Demian.

Ein eiskalter Schauer lief über Nevins Rücken. Er hatte es herausgehört. Ganz kurz. Das erzwungene r in dem Wort Ort. Er kannte es gut. Denn er hatte es selbst immer schlucken müssen, als er in Höhental war. Und er sah es jetzt auch in seinen Zügen, die Art wie er sich bewegte, wie angestrengt seine Lippen die Worte formte. Selbst seine Haare und seine Augenfarbe, die so selten im Kaiserreich war, doch häufig im Norden vorkam, gab seine Herkunft preis. Nevin war sich ganz sicher. Demian kam aus Höhental.

Der erste Mann auf der linken Seite trat vor, kniete sich vor dem Thron und gab seinen Schwur ab. Nevin beobachtete, ob jemand zurückblieb, doch einer nach dem anderen trat vor, um sich Demian anzuschließen. Nevin schluckte. Nur noch zwei. Dann war er an der Reihe. Er musste verschwinden.

Da traf er Demians Blick, der zunächst an ihm vorbeifuhr, doch die hellblauen Augen zuckten zurück und blieben an Nevin hängen. Demians Stirn legte sich in Falten. Nevin sah auf die Frau, die gerade nach vorne schritt. Doch er spürte noch immer den Blick auf sein Gesicht und etwas anderes. Ein ganz bestimmter Geruch. Scharf und luftig, wie frischer Wind. Der Geruch eines weißen Drachens.

»Halt!«, donnerte Demians Stimme im Saal.

Nevin ließ sofort den Fluch durch seinen Körper strömen. Im nächsten Augenblick riss sein Hemd an den Nähten. Weißes Fell spross aus seiner Haut heraus. Der Boden entfernte sich immer weiter von ihm. Ganz rechts passierte das Gleiche mit Dilek. Und vor ihm, Demian, dessen Körper ebenfalls mit weißem Fell überzogen war.

Nevins Verwandlung endete zuerst. Er holte aus und stieß mit seinem Schwanz alle um, die auf seiner Hälfte des Saals standen. Während Dilek sich um die rechte Saalhälfte kümmerte, sprang Nevin in die Luft und schlug kräftig mit den Flügeln. Der Wind warf alle Wachmänner um, die noch standen, samt den Thron und Demian, dessen ausgefahrene Krallen über den weißen Boden kratzten, als er versuchte sich festzuhalten.

»Verwandelt euch! Auf ihn!«, brüllte Demian.

Es waren vielleicht zwanzig Drachen im Saal, Demian nicht mit eingeschlossen. Keine große Zahl für Nevin und Dilek. Zumal selbst Demian, obwohl er weiß war, nur eine kleine Drachengestalt hatte. Doch es würde nicht lange dauern, bis die anderen kamen.

»Dilek! Dampf!« Nevin schoss auf die Decke des Raums zu, während der Boden sich mit brennend heißen Dampfschwaden füllte. Bevor die weißen Wolken ihn erreichten, knickte Nevin den Kopf ab und schoss mit seinen Hörnern voran durch die massive Decke. Er brach durch das Dach. Dilek kam gerade aus dem Nebel herausgeschossen. Nevin streckte seinen Körper, bis das lange Fell seiner Schwanzspitze Dileks Maul erreichte, der schnell hineinbiss. Nevin breitete seinen Flügel aus. Füllte so viel Dampf wie möglich in seine Flughaut hinein. Dann, mit einem heftigen Flügelschlag, schoss er mit Dilek im Schlepptau davon.