Alina suchte ein letztes Mal den Obstgarten ab. Doch Tessa war nirgends zu sehen. Seitdem sie weggelaufen war, hatte sie keiner mehr gesehen. Seufzend machte Alina sich auf dem Weg zurück zum Hof.
Dort angekommen, standen Dilek und Nevin mit gepackten Taschen da. Zwischen ihnen, eine Bahre, auf der Elyon lag. Nevin kniete sich neben dem dunkelhaarigen Mädchen hin und legte eine Decke auf sie.
»Hast du sie gefunden?«, fragte Nevin als Alina sich auf der anderen Seite der Bahre in die Hocke ging.
»Nein.«
Die Schatten auf Elyons Lidern waren bereits heller geworden. Ein erster Anflug von Farbe lag auf ihrem Gesicht.
»Ich hoffe, dein Bruder findet sie. Sonst müssen wir sie zurücklassen«, sagte Dilek und schränkte die muskulösen Arme vor der Brust. Nicht nur Dileks Drachengestalt war breit. Durch seinen einschüchternden Körperbau und dem ernsten Gesichtsausdruck, traute Alina sich nicht zu protestieren. Sie wollte Tessa nicht zurücklassen. Hilfesuchend, sah sie Nevin an. Doch er starrte nachdenklich in die Leere, während er Elyon mit Seilen an die Bahre festband.
Seit Alina ihm alles über Demian erzählt hatte, grübelte er vor sich hin, ohne jemandem zu erzählen, was ihm durch den Kopf ging.
Stumm half sie Nevin, die Seile am Fußende zu verknoten.
»Tessa, warte!« Es war Aiven. Alina richtete sich auf. Tessa kam direkt auf sie zu gestampft. Die Haut um ihre Augen voller roter Flecken. Ihre Iris so hell, dass sie zu leuchten schien. Das passierte nur, wenn Tessa weinte. Und zwar viel.
Ehe Alina irgendetwas sagen konnte, packte Tessa sie an den Schultern.
»Bring mich zu ihm.« Ihre Finger bohrten sich in ihren Schultern hinein.
»Tessa, nicht!« Aiven wollte seine Cousine zurückziehen, doch Tessa schüttelte ihn ab.
»Bring mich zu Demian.« Ihre Stimme klang gepresst. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Du weißt, wo er ist. Du kannst fliegen. Verwandle dich und bring mich zu ihm!«
Tessas weinerliche Stimme schnitt tief in Alinas Herz und Tränen sammelten sich in ihren eigenen Augen. Kein Wort kam aus ihrer verschnürten Kehle heraus. Stattdessen schüttelte Alina den Kopf und starrte den Boden an.
Tessa schüttelte sie. »Bring. Mich. Zu. Ihm. Sofort!«
Alina stieß sie von sich und drehte ihrer Cousine den Rücken zu.
»Ich kann nicht«, wisperte Alina.
»Du kannst nicht? Du kannst nicht?!« Tessa stampfte wieder auf sie zu und baute sich mit bebenden Lippen vor ihr auf. »Er ist dein Cousin! Wie konntest du ihn nur alleine lassen? Verlangst du etwa von mir, tatenlos hier zu sitzen, wenn mein Bruder noch am Leben ist?«, schrie Tessa.
Tränen rannen Alinas Wangen herab. Tessa schrie nicht. Niemals. Alina hatte sie noch nie so aufgelöst gesehen. Selbst Aiven stand wie erstarrt da, mit angsterfülltem Gesicht.
Da stellte sich Nevin zu ihnen und hob beschwichtigend die Hände.
»Tessa, ich kann erahnen, wie sehr du dich danach sehnst, ihn endlich wieder sehen zu dürfen. Vor allem, nachdem dir alle erzählt haben, er sei tot.« Nevin sprach leise und langsam. »Es tut mir sehr, sehr Leid. Ich weiß, dass es wehtut. Aber sicher hat Alina einen guten Grund, warum sie dich im Moment nicht zu ihm bringen kann. Sie ist deine Cousine. Sie liebt dich und deinen Bruder. Sie tut gerade das, was ihr im Augenblick am besten erscheint.«
Tessa trat einen Schritt zurück und presste einen Handrücken gegen ihre Augen.
»Wir sollten ihn nicht alleine lassen. Was auch immer passiert ist, er hatte sicher einen Grund. Wir müssen zu ihm und mit ihm reden!«, wimmerte Tessa. »Alina, bring mich zu ihm, bitte!«
»Ich kann nicht. Ich kann mich zwar in einen Drachen verwandeln, aber ich kann mich nicht nach meinem Willen wieder in einen Menschen zurückverwandeln.«
Tessa trat wieder auf Alina zu. Nevin stellte sich halb dazwischen, damit Tessa ihr nicht näher kommen konnte.
»Ist das der einzige Grund? Wenn das stimmt, was du gesagt hast, dann ist Demian in gefährliche Dinge verstrickt. Und du willst ihm nicht helfen, weil du Angst hast, dass du dich nicht in einen Menschen zurückverwandeln kannst? Meinst du das im Ernst?« Tessas Stimme wurde immer lauter.
»Das ist nicht der einzige Grund«, wisperte Alina. „Du warst nicht da. Du hast nicht gesehen, was er getan hat. Wie er sich verändert hat."
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»Das ist genau der Grund, warum wir zu ihm fliegen sollten! Und zwar sofort! Er ist mein Bruder! Er ist dein Cousin! Wir sind zusammen aufgewachsen! Willst du ihn jetzt ihm Stich lassen, nur weil er Dinge tut, die du nicht verstehen kannst?!«
Jetzt trat Aiven auf sie zu und packte ihre Schulter.
»Tessa! Es reicht! Du verlierst gerade deinen Kopf und das wird weder uns, noch Demian weiterbringen! Du kannst dich nicht einfach blind in etwas hineinstürzen! Du bist aufgewühlt, das kann ich verstehen, aber zwing Alina nicht etwas zu tun, das ihr Angst macht oder das nicht mit ihrem Gewissen vereinbar ist! Du bist aus Höhental! Du bist eine Wächterin! Du solltest es besser wissen!«
Tessa schlug seine Hand von ihrer Schulter und blitzte ihn mit eiskalten Augen an. Am Rande bekam Alina mit, wie Nevin Dilek etwas zuflüsterte und Dilek dann zurück in die Burg lief, während Nevin wieder vorsichtig auf Tessa zutrat.
»Tessa, du hast einen klugen Kopf«, begann Nevin wieder. »Du denkst immer nach, bevor du sprichst oder handelst. Das ist eine gute Eigenschaft. Eine Eigenschaft, die dir helfen kann die Situation zu verstehen und zu planen, wie du deinem Bruder am besten begegnen solltest. Bitte gib dir ein paar Tage Zeit, lass dir nochmal genau das, was Alina dir erzählt hat, durch den Kopf gehen und dann könnt ihr zu dritt planen, wie ihr am besten vorgehen solltet. Ihr könnt gerne dafür hierbleiben, wenn euch as lieber wäre.«
Dilek kam gerade zurückgelaufen, mit einer kleinen Flasche in der Hand. Tessa antwortete nicht mehr und starrte mit zitternden Lippen den Boden an. Alina hätte sich am liebsten hinter Aiven gedrängt, doch sie ahnte, dass Tessa sich dadurch nur ausgeschlossen fühlen würde. Deswegen blieb sie stehen, ließ die drei Schritte Abstand zwischen ihr und ihrem Bruder und sagte kein einziges Wort. Dilek reichte Tessa die Flasche. »Trink das. Ist gut für die Nerven.«
Tessa nahm die Flasche, doch trank nichts. Stattdessen drückte sie das kleine Gefäß an ihre Brust und schloss die Augen, als würde sie unter qualvollen Schmerzen leiden.
»Tessa, es tut mir so, so Leid«, wisperte Alina.
Gerade als Tessa ihr den Rücken zudrehte, hallte ein Ruf im Hof.
»Nevin! Warte!« Es war Milo, ein schlaksiger Junge, ungefähr in Elyons Alter, gefolgt von Lenius und Gilwa. Sie hielten keuchend vor Nevin an.
»Was gibt es? Wir sollten uns doch unten beim Gasthof treffen«, sagte Nevin.
»Bitte, nimm Gilwa mit«, antwortete Lenius keuchend.
Nevin richtete überrascht die Augen auf den kleinen Jungen, der sich hinter Lenius versteckte und den hochgewachsenen jungen Mann genau beobachtete.
»Ich weiß, dass du uns nicht vertraust, aber bitte nimm Gilwa mit. Die Singbucht scheint ein sicherer Ort zu sein. Ich will nicht, dass Demian ihn kriegt und für sich arbeiten lässt. Deshalb flehe ich dich an, ihn mitzunehmen.« Lenius näherte sich Alina an. »Ich kann ihn dir doch anvertrauen, nicht wahr? Du würdest dich gut um ihn kümmern?«
Alina nickte, überrascht von seiner Bitte. Lenius war sonst nicht von Gilwa zu trennen.
Nevin seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch die schulterlangen Haare. Dilek trat näher an ihn heran und raunte: »Wir müssen gehen. Und zwar so schnell wie möglich.«
Alina merkte, dass die beiden noch viel mehr zueinander sagten. Durch Blicke die sich wissend trafen, durch die kleinen Gesten von Kopfnicken, durch Hände und Finger die zuckten oder sich zusammenschlossen. Das gleiche, was sie auch mit Aiven tat.
»Es ist nicht so, dass ich euch allen nicht vertraue. Es gibt einen Drachen unter deiner Gruppe, dem ich nicht traue. Gilwa kann mitkommen, aber dafür würde ich dich um einen Gefallen bitten. Beobachte deine Männer in der nächsten Woche, finde heraus, ob sie alle wirklich bereit sind, Demian nicht mehr zu folgen. Danach melden wir uns wieder bei dir«, bot Nevin an.
»Nevin!«, zischte Dilek.
Verdutzt hob Lenius die Augenbrauen. »Wen genau meinst du?« Seine Stimme klang kalt. Alina wusste nicht, ob es daran lag, dass Lenius ebenfalls misstrauisch gegenüber seinen Männern war, oder weil er Nevins Vermutung nicht teilte.
»Es ist nur eine Ahnung. Aber normalerweise hat mein Bauchgefühl recht«, erklärte Nevin. »Wir gehen jetzt los. In Richtung des Waldes, der hinter dem Gasthof liegt. Bis dahin kannst du es dir überlegen. Tessa, was ist mit dir? Kommst du mit?«
Mittlerweile hatte Alinas Cousine die Flasche geleert, genauso wie ihre Augen. Alinas Herz verkrampfte sich wieder. Sie hatte Tessa schon einmal so gesehen. Nachdem sie erfahren hatte, dass Demian angeblich gestorben war. Sie schon damals nicht gewusst, wie sie Tessa helfen konnte.
Alina ignorierte die Angst in ihrem Kopf, trat auf Tessa zu und nahm ihre Hand. »Komm mit uns mit. Bleib bei uns. Ich verspreche, dass wir uns was einfallen lassen. Wegen Demian.«
Ihr Blick, immer noch abwesend, nickte Tessa leicht mit dem Kopf.
»Ich werde dir den Gefallen tun. Bitte nehmt Gilwa mit«, sagte Lenius hinter ihnen.
Alina schluckte schwer, als sie Gilwas feuchte Augen bemerkte. Er presste die Lippen fest zusammen, im Versuch nicht zu weinen und tapfer zu erscheinen. Mit einem kurzen Kopfnicken Richtung Aiven, brachte Alina ihn dazu, ihren Platz neben Tessa einzunehmen.
»In Ordnung«, sagte Nevin, dann stellte er sich am Kopfende der Bahre hin. »Na dann, auf geht's.«
Dilek und Nevin nahmen die Trage zwischen sich und so verließen sie alle den Hof in Richtung des Waldes. Alina folgte mit den anderen. Gilwa hatte sich von Lenius gelöst und packte Alina am Ärmel. Da bückte sie sich runter und nahm den Jungen auf den Arm. Gilwa presste seine feuchten Augen an ihre Schulter. Lenius ging hinter ihnen her.
»Alles wird gut, Kleiner. Alina und Elyon sind bei dir. Sei brav und mach ihnen keinen Ärger, dann bin ich mir sicher, dass wir uns bald wiedersehen können.« Lenius raufte die braunen Haare des Jungen. Als Antwort, kam nur ein leises Schluchzen. Alina drückte ihn fester an sich.