Der Abend dämmerte, als sie die Küste erreichten. Dilek trug Alina, Gilwa und Aiven über die weite Landschaft direkt auf die Küste zu, während Milo Tessa trug. Nevin flog voran und gab das Tempo an, da er Elyon auf ihrer Bahre in seinen Pfoten trug.
Selbst ohne das Gesicht ihrer Cousine zu sehen, wusste Alina, dass sie immer noch wegen Demian vor sich hin brütete. Seufzend löste sich Alina von dem blonden Kopf und betrachtete die Umgebung.
Das Meer kam in Sicht, doch kein Strand, da die Küste zu steil war. Und weil sich gleich hinter der Klippe ein paar Meter höher, eine fast schwarze Felswand erhob, auf die Nevin unbeirrt zusteuerte. Er stieß einen Warnlaut aus, dann tauchten zwei weiße Drachen zwischen Klippe und Felswand auf, die vor Nevin anhielten. Alina war zu müde, um dem Gespräch zuzuhören. Ihr Griff um Dileks Fell lockerte sich und sie benutzte eine Hand, um sich die schweren Lider zu reiben.
Als Dilek wieder losflog, verlor sie fast ihren Halt. Aiven und Gilwa packten ihre Schultern und halfen Alina wieder ihr Gleichgewicht zu finden. Dilek ließ sich langsam in die Schlucht herabsinken. Obwohl die Sonne noch schien, schluckten die dunkel Felswände die links und rechts standen sämtliches Licht. Alina konnte die kanten und Risse nur dank der Fackeln sehen, die in regelmäßigen Abständen an den schwarzen Wänden angebracht waren.
Zu ihrer Rechten, tauchte eine Balme in der Felswand auf und im Vorbeifliegen, sah sie Menschen, die um ein Wassersteinbecken standen und ihnen zuwinkten.
Obwohl sie an der Küste und in einem fremden Ort waren, hatte die Schlucht eine seltsame, beruhigende Wirkung auf Alina. Als der natürliche Gang sich gabelte, bogen Nevin und die anderen nach links ab. Dann tauchte er vor ihren Augen auf. Ein Strand. Der Sand war, durch die Strahlen der herabsinkenden Sonne in einem warmen Goldton gefärbt.
Vorsichtig legte Nevin die Bahre mit Elyon auf dem Strand, dann landete er direkt über ihr. Mehrere Menschen kamen auf sie zu gerannt.
»Nevin!«, rief ein Mann mittleren Alters, zu dem Nevin sich hinunterbeugte. Er drückte seine Schnauze gegen die Seite des Mannes und ließ sich von ihm umarmen. Aber nur kurz. Um sie herum hatten sich Schaulustige gesammelt, die miteinander murmelten und auf Elyon zeigten.
Dilek hatte sich mittlerweile auf den Sand gelegt und Aiven sprang bereits ab, um dann mit ausgestreckten Armen neben ihnen zu stehen. Gilwa schwang sich zur Seite und ließ sich in die Arme ihres Bruders fallen. Als Alina im Sand landete, griff der kleine Junge sofort nach ihrem Ärmel und presste sich schüchtern an ihr Bein.
Alina fuhr mit einer Hand kurz über seine zerzausten Haare, dann suchte sie nach Tessa. Ihre Cousine verschwand gerade in der Menge. In wenigen Augenblicken hatte sie sich auch schon aus der Traube befreit und lief direkt auf einer der vielen Höhleneingänge zu, welche die schwarzen Felswände durchlöcherten.
Alina seufzte schwer. Sie überlegte kurz, ob sie Tessa nicht hinterherlaufen sollte, doch dann bemerkte sie zwei Männer, die gerade Elyon auf ihre Bahre nahmen und sie wegtrugen.
»Wartet!«, rief Alina und wollte auf sie zu rennen, doch Gilwa klammerte sich immer noch fest an ihr Bein. Aiven hielt sie an der Schulter zurück.
»Mach dir keine Sorgen. Nevin ist vertrauenswürdig. Ihr wird nichts passieren. Komm, ich stelle dir Jaro und Odilia vor. Sie stehen gleich vor Nevin.«
Zu zweit gingen sie auf Nevins geflügelte Drachengestalt zu. Vor ihm standen der ältere Mann, der den weißen Drachen umarmt hatte und eine ältere Frau, die Alinas Blick auffing.
»Ah, ihr habt die Schwester gefunden. Das ist doch mal eine schöne Nachricht«, sagte die Frau.
Der Mann sah sie an und nickte ihnen lächelnd zu. Doch sein Blick war leblos.
»Alina, Gilwa, das sind Odilia und Jaro, mein Onkel. Sie gehören zu den Anführern hier in der Singbucht«, stellte Nevin sie vor.
»Ich war selbst mal früher Wächterin in Höhental. Ich bin kein Drache, habe aber damals meinen Verlobten an einen Drachen verloren.« Odilias Augen glänzten für eine Sekunde, dann schloss sie die Lider und lächelte mit aufeinander gepresste Lippen.
Alina nickte mitfühlend. Dann wandte sie sich Nevin zu. »Wo ist Elyon? Was macht ihr mit ihr?«
»Wir bringen sie ins Krankenzimmer. Oder besser, Krankenhöhle. Wir haben das Glück, einen Arzt und zwei Krankenpflegerinnen hier in der Singbucht zu haben, sie werden sich gut um sie kümmern. Aiven, in Tessas Zimmer sind noch Betten frei, du kannst deine Schwester später dort hinbringen.«
»Wir müssen reden«, sagte Jaro und legte eine Hand auf Nevins Flanke.
»Ich weiß. Wir können reden, sobald ich mich verwandelt habe«, seufzte Nevin und zog mit seinem Onkel davon.
Odilia sah ihnen hinterher, dann schenkte sie Alina ein ermutigendes Lächeln. »Fühl dich wie Zuhause. Die meisten hier, kommen aus Höhental, was das Einleben in der Singbucht etwas leichter macht. Und du kleiner Mann, ich hoffe, dass du dich auch schnell hier wohlfühlst. Solltet ihr irgendetwas brauchen, sprecht mich gerne jederzeit an.« Odilia verabschiedete sich von ihnen und verschwand kurz darauf ebenfalls in eine der vielen Höhlen.
Jetzt erst bemerkte Alina die neugierigen Blicke der anderen Menschen, die noch verteilt am Strand standen. Ein paar Mädchen, ungefähr in ihrem Alter, flüsterten miteinander und warfen ihr schüchterne Blicke zu.
»Aiven!« Ein Mann mit braunen Haaren, die von ersten grauen Strähnen durchzogen waren, ging auf Aiven zu und drückte ihn herzlich. »Ist das deine Schwester? Natürlich, was sage ich da nur? Ihr seht euch viel zu ähnlich, um es nicht zu sein! Alina!« Der Mann streckte ihr seine Hand hin und schüttelte ihre herzlich.
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»Wir freuen uns alle, dass du endlich hier bist und in Sicherheit. Aiven hat sich schon ganz hier eingelebt, er kann dir also alles zeigen und dich allen vorstellen.«
»Danke.« Alina lächelte schwach. Die Freundlichkeit der anderen tat gut, doch sie fühlte sich schlecht, hier zu stehen, während Tessa irgendwo alleine mit ihren schweren Gedanken war.
»Mein Name ist Kael. Ich war früher mal ein Gelehrter in Höhental.«
Überrascht riss Alina ihre Augen auf.
Kael lachte. »Ich weiß schon, ich weiß schon. Ein Gelehrter, der Höhental verlässt, wie ist das möglich? Ich bin zum Glück nicht der einzige. Weißt du-«
»Kael! Kael!«, rief ein junger Mann, der stolpernd über den Sand, zu ihnen gelaufen kam.
»Ist das Isko?«, fragte Aiven verwundert.
»Ich weiß, ich hab ihn noch nie so durch den Wind gesehen«, gab Kael zurück.
Er blieb vor ihnen stehen und beugte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht nach vorne, während er sich die Seiten hielt. »Ich habe ... was .... gefunden.«
»Ruhig, Isko. Komm erstmal wieder zu Atem. Wir haben Zeit«, sagte Kael.
Aiven starrte Isko neugierig an. Mittlerweile waren die Beobachter wieder weitergezogen und gingen ihren Beschäftigungen nach. Die Mädchen, die sie vorher beobachtet hatten, wateten gerade ins Wasser hinein und begannen etwas aus den sanften Wellen zu ziehen. Neugierig versuchte Alina zu sehen, was sie da aus dem Meer pflückten und hörte den anderen nur mit einem halben Ohr zu.
»Ich habe was in den alten Dokumenten gefunden, aus Höhental«, begann Isko wieder.
»Brauchst du meine Hilfe?«, fragte Kael.
»Ja. Es hat was mit der Prinzessin zu tun, nach der wir suchen.«
»Du weißt, dass wir die Prinzessin soeben hierher gebracht haben, oder?«, warf Aiven ein.
Isko riss die Augen auf. Dann strahlte sein Gesicht und er packte nach Aivens Armen, um sie kräftig zu schütteln. »Ist das dein Ernst? Das sind fantastische Neuigkeiten! Wenn ich Recht mit meiner Vermutung habe, gehört Höhental so gut wie uns! Dann können sie uns nicht weiter aussperren! Keinen einzigen!«
»Was?! Was hast du gefunden?«, fragte Kael.
»Komm mit, du musst es bestätigen, da ich die alte Sprache manchmal nicht ganz verstehe. Schnell!«
Alina sah den beiden hinterher, die stolpernd über den Sand rannten.
»Ich bin jetzt schon etwas neugierig geworden. Du nicht auch?«, fragte Aiven mit großen Augen.
Alina nickte, doch sie hoffte gleichzeitig, dass sie nichts gefährliches mit Elyon vorhatten. Da bemerkte sie drei Jungen, die sich ihnen schüchtern näherten, sie mussten in Gilwas Alter sein. Ihre Kleidung war mit Sand bedeckt, genau wie ihre nackten Füße. Gilwa hatte sie ebenfalls bemerkt und warf ihnen scheue Blicke zu, gleichzeitig löste er seinen festen Griff um ihr Bein und hielt sich nur noch an ihrem Hemd fest.
»Magst du dich vielleicht vorstellen?«, fragte Alina sanft und drückte seine Schulter.
Gilwa versteckte sich wieder hinter ihren Beinen, als die drei anderen Kinder etwas näher kamen. Alina hockte sich hin und schenkte den Jungen ein freundliches Lächeln.
»Das hier ist Gilwa und ich bin Alina. Wir sind gerade hier angekommen. Hättet ihr vielleicht Lust, Gilwa hier alles zu zeigen?«
Die Jungen nickten schüchtern. Als sie in Gilwas Gesicht blickte, breitete sich darin gerade ein großes Lächeln aus.
»Komm mit. Wir zeigen dir unsere Muschelsammlung.« Der größte Junge streckte seine Hand aus.
Gilwa warf noch einen letzten Blick auf Alina, wie um eine Erlaubnis zu bekommen. Sobald sie nickte, nahm er die ausgestreckte Hand. Glucksend liefen die vier davon.
»Das ist doch schonmal ein guter Anfang.« Aiven nahm Alinas Hand und drückte sie.
»Eine Sorge weniger«, gab sie zurück. »Meinst du, wir sollten Tessa nachgehen?«
Aiven seufzte. Tief und lang. »Nein. Jetzt noch nicht. Lass mich mit ihr reden.«
Alina nickte abwesend. Aiven war besser mit Worten als sie. Vor allem jetzt, wo ihr keine einzigen einfielen, um Tessa irgendwie zu trösten. Ihr Blick blieb am Sand unter ihren Füßen hängen, sie bückte sich und ließ etwas von den feinen Körnern durch ihre Hand rieseln. Dann saugte sie etwas von dem salzigen Geruch ein. Sie war endlich am Strand.
Ein verzerrter Schrei schreckte sie auf. Alina erhob sich. Alle Menschen am Strand erstarrten. Ein weiterer Schrei gellte durch die Bucht.
»Elyon«, wisperte Alina.
Ohne ein weiteres Wort, packte Aiven ihre Hand und zog sie mit sich. Er führte sie in eine der Höhlen hinein und lief weiter nach links durch einen Gang. Sie liefen an zwei, mit Vorhängen bedeckten Eingängen vorbei. Erst beim dritten schob Aiven den schweren, braunen Stoff zur Seite und sie traten in einen mit Kerzen beleuchteten Raum ein.
Drei Reihen mit jeweils zehn Betten verteilten sich über den fast schwarzen, felsigen Boden. Hinten, auf der anderen Seite, standen zwei Frauen um das einzige belegte Bett.
»Schnell! Das Riechsalz.« Eine der Frauen hastete auf einen Schrank zu, der nicht weit von ihnen stand.
Vorsichtig trat Alina näher. Elyon lag auf der Matratze, die Augen immer noch verschlossen und wandte sich panisch hin und her.
»Elyon, Elyon! Wach auf!«, rief Alina und versuchte nach Elyons Händen zu greifen, doch die eiskalten, verschwitzten Hände glitten immer wieder aus Alinas Griff.
»Was ist los?« Nevin kam gerade hereingestürzt, gefolgt von Jaro und Dilek.
Alina ignorierte die annähernden Schritte und überlegte fieberhaft, was sie tun konnte. Die Krankenfrau versuchte das Riechsalz in die Nähe von Elyons Nase zu bringen, doch Elyon hielt den Kopf nicht still. Das Riechsalz fiel aus der Hand der Krankenfrau und rollte unter das Nachbarbett.
Da fiel Alina Elyons braunes Hemd auf. Ihr Fellumhang fehlte. Schon seit sie in der Burg waren. Sie hatte Elyon noch nie ohne ihr Fell schlafen gesehen. Und da sie ihn immer so sorgfältig behandelt hatte, schien er ihr wichtig zu sein.
Sie drehte sich zu Nevin um. »Wo ist ihr Umhang?«
»Welcher Umhang?«, fragte er erschrocken.
»Ihr Pelzumhang, den sie getragen hat. Wo ist er? Sie braucht ihn!«
Nevin schluckte schwer. »Wir, wir haben ihn weggeschmissen.«
»Was?!«
»Er war völlig zerstört«, wisperte Nevin. »Und die schwarzen Flecken gingen nicht mehr raus. Es tut mir Leid, wir wussten nicht, dass er ihr so viel bedeutet.«
Alina ballte die Fäuste. Das letzte Mal hatte sie es geschafft, Elyon in ihrer Drachenform zu beruhigen. Doch sie wollte sich nicht verwandeln. Nicht jetzt. Nicht mit Aiven endlich wieder an ihrer Seite.
»Bringt ihr ein anderes. Vielleicht hilft es auch«, schlug Aiven vor.
Wieder stieß Elyon ein ohrenbetäubendes Geschrei aus, der so lange anhielt, dass alle sich die Ohren zuhielten.
»Schnell! Holt ein Fell! In der Jagdkammer sollten noch welche sein!«, rief Nevin. Eine der Krankenpflegerinnen rannte aus dem Raum.
»Elyon! Komm wieder zu dir! Du träumst nur!«, rief Alina. Doch es half nichts. Elyon wimmerte, weinte, schrie und stieß unverständliche Worte von sich.
Völlig außer Atem, kam die Frau zurück, ein langes Fell in den Händen. Es war hellbraun mit dunklen Punkten. Eindeutig kein Wolfspelz. Hoffentlich würde dieses auch genügen. Es roch noch nach Tier und Wald. Sobald Alina den Pelz gegen Elyons Wange drückte, entspannten sich die blassen Arme. Keuchend wimmerte Elyon und schmiegte ihre Wange an das Fell an.
Alina seufzte erleichtert und setzte sich an die Bettkante. »Ich bleibe hier bei ihr.«
»Klingt nach einer sehr guten Idee«, seufzte Nevin.
Aiven blieb, während alle anderen wieder die Höhle verließen. Nur Aiven blieb bei ihr und lehnte sich mit dem Rücken an den Bettrahmen. Bis zum Abendgrauen blieben sie dort. Elyon schlief ruhig und fest.