Als ihre Tränen versickert waren und ihre Wangen sich trocken und leicht verkrustet anfühlten, klopfte es leise an der Tür.
»Ich bin es«, sagte Lenius leise.
»Dürfen wir ebenfalls eintreten?«, flüsterte Alina.
Elyon war es egal. Von ihr aus konnten auch zwanzig Menschen das Zimmer betreten. Ihre Lider fühlten sich schwer an, ihr Körper war so schlapp, dass es sie ihre ganze Kraft kostete, um ihn aufrechtzuerhalten. Hinzu schmerzte ihre Kehle so sehr, dass Elyon kein Wort herausbringen konnte.
»Du solltest etwas zu dir nehmen«, sagte Lenius. Sie hörte das Scharren von Holz auf einem Tisch, das Schwappen von Wasser, dann ein kurzes Fließen.
Sie drückte ihre Wange fester an die Wand. Knarrende Dielen. Scharren von Schritten. Leises Rauschen. Vogelzwitschern. So viele Geräusche. Sie konnte nur die Hälfte zuordnen.
Elyon seufzte, so tief, dass ein Stechen durch ihre Lungen fuhr. Sie konnte es besser, das wusste sie. Schließlich hatte sie sich auch in den tiefsten Nächten allein mit ihrem Gehör in Wäldern zurechtgefunden. Doch ihr Kopf war wie in Watte gepackt. Sie konnte sich nicht konzentrieren, konnte die Geräusche nicht deuten. Wollte es auch nicht. Nicht im Moment. Auch wenn es eine Schande gegenüber ihres Rudels war, das sie großgezogen hatte.
Ihre Wölfe hatten nicht geweint, nicht aufgegeben. Wie viele von den Tieren hatten ein Ohr, ein Bein oder andere tiefe Wunden durch Kämpfe und Jagd verloren und hatten trotzdem weitergemacht? Hatten sich angepasst? Und nun, da sie nicht mehr lebten, war das, was sie Elyon beigebracht hatten, ihr einziges Vermächtnis.
Elyon nahm tief Luft, lehnte ihre zitternde Hand an die Wand und tastete sich langsam von ihr weg.
»Hier, etwas Wasser.«
Sie sah Lenius' Kopf, verschwommen und etwas Dunkles, dass er vermutlich in seiner Hand hielt. Ihr Blick schweifte durch den Raum, lauter beigefarbene Flecken breiteten sich vor ihr aus. Doch sie entdeckte dunkle längliche Flecken, die sie als Stiefel vermutete. Dort saßen vermutlich Alina und Gilwa.
Vorsichtig streckte sie die Hand nach dem dunklen Fleck in Lenius' Hand, den er ihr entgegendrückte.
Ein Stich fuhr ihr durch die Brust, als sie den Becher in der linken Hand hielt. Es war seltsam, fremd. Ihre Finger klammerten sich fester um das hölzerne Gefäß, dann führte Elyon sie vorsichtig an die Lippen. Dabei zitterte ihr Arm so stark, dass es selbst die anderen beiden am anderen Ende des Raums bemerken mussten. Nachdem sie einen Schluck genommen hatte, ließ Elyon den Holzbecher auf das Bett sinken.
»Was ist passiert?«, fragte sie und räusperte sich, da ihre Stimme immer noch belegt war. »Urdrache, tot?«
Stille. Niemand bewegte sich.
»Gib dir etwas Zeit, um zu Essen, danach können wir ...«, begann Lenius doch Elyon schüttelte heftig den Kopf.
»Erst reden. Dann Essen.« Ihr Magen war wie zu einem Ball zusammengepresst. Sie würde nichts zu sich nehmen können.
Lenius seufzte, dann bewegte er sich weg, bückte sich leicht, dann Elyon hörte sie ein scharrendes Geräusch, als würde ein Stuhl näher herangezogen werden.
Bald hatte sie einen hellen Fleck vor sich sitzen, sie konnte gerade noch so die dunkelblonden Haare um Lenius' Gesicht ausmachen. Im Hintergrund hörte sie weitere Schritte, noch mehr Scharren. Vielleicht Alina und Gilwa? Doch sie kamen nicht näher.
Elyon schluckte schwer. Es war unangenehm, so wenig sehen zu können. Doch sie hatte ihre Sicht nicht ganz verloren. Ein wenig konnte sie noch erkennen. Wenn auch die Farben etwas seltsam aussahen.
»Bist du dir sicher, dass ich dir erzählen soll, was geschehen ist?«
Elyon nickte. Trotz der Erschöpfung, kamen langsam Gedanken und Erinnerungen in ihr hoch, die ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengrube hinterließen. Sie musste es wissen. War der Urdrache tot? Der Fluch vorbei?
Lenius begann zu erzählen und Elyon unterbrach ihn dabei kein einziges Mal. Zeigte keine Reaktion. Blieb nur still sitzen und hörte zu.
Der Urdrache war tot und ihre Brust fühlte sich etwas leichter an. Doch dann kamen die anderen Neuigkeiten und ein schmerzlicher Schauer fuhr ihr durch Mark und Bein.
»Fluch noch da?«
»Ja. Wir alle sind noch Drachen. Doch der Fluch hat sich verändert. Die Heilkraft unseres Blutes ist schwächer geworden, genauso wie unsere Körperkraft. Alle Drachen, die eine besondere Fähigkeit haben, können sie nur in geschwächter Form nutzen. Ich war mal der schnellste und wendigste Flieger weit und breit. Jetzt bin ich viel langsamer geworden.«
»Ich auch!«, rief Gilwa.
»Und Nevin?«, fragte Elyon besorgt. Wenn der Kaiser ihn gefangengenommen hatte, dann ...
Vom Gang knallten harte Striche zu ihnen herein. Lenius schwieg und wartete, bis die Tür aufgerissen wurde.
»Elyon ist wach? Sie muss unbedingt sofort mitkommen«, rief eine bekannte, männliche Stimme. Hätte sie sein Gesicht besser sehen können, Elyon hätte sofort gewusst, wer es war.
»Senan, nun lass das Mädchen sich erstmal ausruhen!«, schalt Kael seinen Sohn.
»Nein! Wir müssen unbedingt den lästigen Kaiserprinzen loswerden. Der rennt uns sonst noch die Bude ein. Meine Männer sind es schon müde, ihn abzuwimmeln.«
»Nevin?«, fragte Elyon leise und fürchtete schon, niemand hatte sie gehört. Doch es konnte nicht Nevin sein. Der Kaiser würde ihn nicht so einfach gehen lassen.
»Nein, es ist sein Bruder«, erklärte Kael und trat näher. »Finan. Sagt dir der Name etwas? Er ist hier, weil er mit dir über Nevins Festnahme sprechen will. Doch wir können ihn nicht hereinlassen, außer du gibst eine mündliche Bitte ab. Wir halten uns an deine Abmachung, genauso wie die übrigen Großwächter.«
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Elyon nickte. Sie kannte ihn. Hatte ihn einmal vor Jahren kurz gesehen, als beide sie auf den Sturminseln besucht hatte. Sie wusste, dass er in Tannenhöhe als Aufseher über den König arbeitete und dem Reich eine große Stütze war. Er war ein brillanter Geschäftsmann und gewitzt in politischen Verhandlungen. Sie wusste auch, dass er unter den kaiserlichen Geschwistern zu den wenigen Verbündeten Nevins gehörte.
Elyon seufzte. Es sollte kein Problem sein, ihn bringen zu lassen. Die Wächter hielten sich an ihr Wort, sie ins Land zu lassen, und jeden, der zu ihr gehörte. Und das, obwohl sie ihren Besitz noch nicht offiziell abgetreten hatte.
»Und wir haben auch noch die ganzen Großwächter und Gelehrten im Nacken. Sie wollen dich dringend sprechen. Am liebsten schon gestern«, erklärte Senan mit drängender Stimme.
Elyon hielt sich den schmerzenden Magen. Es gab noch so viel zu klären, so viele Probleme, die sich angehäuft hatten. Sie konnte kaum sehen, war erschöpft, wie sollte sie nur diese ganzen Menschen und ihre Forderungen loswerden?
»Sohn, ich weiß, dass dir alle gerade am Nacken hängen, aber Elyon braucht erstmal Ruhe. Dränge sie nicht.«
Stille. Elyon spürte Blicke auf sich, so schwer, dass sie sich am liebsten wieder zurück zur Wand gedreht hätte. Sie starrten. Die halbblinden Augen. Der fehlende Arm. Die Narben auf ihrem Gesicht. Sie brauchte Ablenkung. Und sie wollte so schnell wie möglich ihre Ruhe haben.
»Bringt zuerst Bruder. Heute Nachmittag. Morgen Früh, Treffen mit allen anderen.«
»Ich gebe es weiter«, sagte Senan, dann hörte sie schnelle und polternde Schritte, die sich entfernten.
»Wie geht es dir?«, fragte Kael, seine Stimme leise und samtig, mit einer leichten rauchigen Note, die sein hohes Alter verriet.
»Erschöpft«, gab sie ehrlich zu. Ihr Körper fühlte immer schwerer und träger an. Aufzustehen und umherzulaufen, traute sie sich noch nicht. Vor allem, nachdem die anderen erwähnt hatten, dass sie eine Woche lang ohnmächtig gewesen war. Was sich Elyon nicht erklärte, selbst mit den schweren Verletzungen, die sie erlitten hatte. Außer ... es hatte etwas mit ihrer angeblichen Verwandlung zu tun, die Alina gesehen hatte.
Ein Stich fuhr durch Elyons Kopf und sie rieb sich die Stirn. Dabei hob sie auch aus Versehen ihren rechten Oberarm und stöhnte, als ziehende Schmerzen durch den Stumpf schossen. Ihr Magen rumorte.
»Bitte, kann ich Essen haben?«, fragte sie mit schwacher Stimme. Sie musste zu Kräften kommen, ehe sie Finan begegnete. Ehe sie sich überlegen konnte, was sie als Nächstes tun sollte.
Zu ihrer großen Enttäuschung, gab man ihr Eintopf mit so weichgekochten Hähnchenstücken, dass es ihr auf den Mund zerfiel. Toter konnte das Fleisch nicht mehr sein. Sie hasste das weiche Gefühl in ihrem Mund, wenn Fleisch und Gemüse zu sämigen Brei zerfielen. Sie versuchte, keine Miene zu verziehen und zwang einen Löffel nach dem anderen in ihren Mund hinein.
–
»Prinzessin Elyon! Ich flehe Euch an!«, rief Finan, kaum dass er durch die Tür gedonnert kam. Ein Poltern ertönte direkt vor ihr, sie spürte einen schwachen Windzug und die schlanke und nicht sehr hohe Figur tauchte vor ihr auf und sank vor ihrem Bett zusammen.
»Bitte, rettet meinen Bruder!« Seine Stimme zitterte, war schrill. Sie konnte seine Angst im Raum spüren, wie Kälte, die sich auf einmal in der Luft ausbreitete, kurz bevor es regnete.
»Hey! Nicht so nahe, Freundchen!«, donnerte Senans Stimme und eine dunkelhaarige Gestalt näherte sich dem eingesunkenem Prinzen.
Elyon streckte ihre Hand aus. »Schon gut. Lass ihn.«
Er war ein kaiserlicher Prinz. Sein Titel galt nichts in Höhental, doch Elyon hatte zu lange die Lehren und Regeln des Adels eingeprügelt bekommen, um nicht einen höherrangigen Prinzen zumindest mit ein wenig Respekt zu begegnen. Und er war der Einzige, der ihr mehr über Nevin erzählen konnte. Wie es ihm ging, ob er noch am Leben war. Elyons Herz klopfte gegen ihre Brust.
»Nevin, gefangen? In der Kaiserstadt?«, fragte sie.
Keine Antwort. Wahrscheinlich bewegte er seinen Kopf, doch Elyons Sicht war zu verschwommen und sein Hautton und Haarfarbe verschwamm im bräunlichen Hintergrund.
»Ich ... entschuldigt mich ...«, stammelte er nach einer Weile. Wieder spürte sie das Gewicht von zwei Augen auf ihren. »Ja. Mein Vater hat Nevin gefangengenommen«, sagte er und seine Stimme zitterte immer noch. »Er hält ihn gerade im tiefsten Kerker der Stadt fest, nicht weit von der Grenze zu den Steppen. Die breite Bevölkerung weiß nichts davon und mein Vater hat einen Maulkorberlass erteilt, für alle, die es wissen. Wenn Ihr nicht bald mit meinem Vater sprecht, wird Nevin umgebracht.«
Elyon zog die Brauen zusammen. »Darf nicht. Nevin ist Thronfolger.«
»Er kann es unmöglich bleiben, sollte er nicht den Fluch loswerden. Und einen Unfall zu fabrizieren, ist ein Leichtes für meinen Vater.«
Elyon nickte. Ihre Stirn pochte und sie musste ihren schmerzenden Oberkörper gegen die Wand anlehnen.
»Brauche Plan. Muss vorher mit Großwächter sprechen«, seufzte sie und rieb sich erneut die Schläfen, bis sie das Gefühl hatte, dass ihr Herzklopfen nicht mehr durch ihren ganzen Schädel pulsierte.
»Das verstehe ich, aber lasst mich bitte nur eines Wissen, Prinzessin. Könntet Ihr mir irgendeine Gewissheit geben, dass ihr meinem Bruder helfen könnt?«, fragte Finan, nun war seine Stimme auch noch belegt, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
Sein Ton war so ergeben und verzweifelt, völlig untypisch für einen Adligen, der zu einem anderen sprach, dass Elyons Gedanken zum Stillstand kamen und sie kein Wort sprechen konnte.
Doch dann drangen die Schmerzen aus ihrem Arm langsam zurück in ihr Bewusstsein und brachten sie zurück zur Gegenwart. Ein Gewicht legte sich über ihre Brust, ihre Schultern und schien sämtliche Luft aus ihren Lungen herauszupressen. Ihr Magen rumorte und brennende Schmerzen zogen ihn zusammen. Wie sollte sie ihn retten? Konnte sie es überhaupt? Jetzt wo sie verkrüppelt war?
Elyon schloss die Augen und schüttelte innerlich den Kopf. So hatte ihr Rudel sie nicht erzogen. Sie würde eine Lösung finden. Überleben und alle anderen dabei helfen, das Gleiche zu tun.
»Gebe mein Bestes. Nevin ist Blutsgeschworener. Beschütze ihn, mit allem was ich habe.«
Stille. Selbst die Atemzüge der anderen konnte sie nicht mehr hören.
Dann eine Bewegung vor ihr, Finans Gestalt wurde größer.
»Danke, Eure Hoheit. Das war alles, was ich gebraucht habe.« Seine Stimme festigte sich mit jedem Wort. »Bitte, lasst es mich wissen, sobald Ihr Eure Pläne gefestigt habt und ich werde Euch unterstützen, so gut ich kann.« Jetzt war er wieder da. Der allgegenwärtige adlige Tonfall. Distanziert, aber respektvoll. Sie war sich sicher, dass er sich kurz verbeugte, auch wenn sie es nicht genau sehen konnte. Dann verließ er endlich den Raum. Elyon atmete tief durch. Ihr rechter Oberarm pochte vor Schmerzen und Elyon drückte ihn an ihre Brust.
»Hast du Schmerzen?«, fragte Alina besorgt. »Sollen wir einen Arzt holen?«
Elyon schüttelte den Kopf. »Phantomschmerzen. Nichts weiter.« Nicht nur ihr Arm tat weh. Der brennende Schmerz in ihrem Magen wurde immer heftiger und sie hatte das Gefühl, als würde der Eintopf in ihrer Speiseröhre festhängen.
»Ich glaube, wir sollten trotzdem einen Arzt rufen, du siehst sehr blass aus«, sagte Lenius.
Elyon kroch langsam zum Ende des Betts und tastete nach dem Kissen. Dann ließ sie sich auf die Matratze fallen und schloss die Augen. Sie hatte keine Kraft mehr, um ihre Vorschläge abzulehnen. Ob der Arzt kam, oder nicht, bekam sie nicht mehr mit. Sie schlief bis zum nächsten Morgengrauen.