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6.1 Nevins Hilfe

Nevin kam viel zu früh. Er sollte um Mitternacht hier sein, aber sobald alle in seiner Kammer in den Schlaf gesunken waren, hatte er sich aus dem Staub gemacht. Er hielt es nicht mehr auf dem Pferdehof aus. Seine Nerven standen kurz davor zu zerspringen. Er konnte nicht mal still sitzen, sondern ging vor den Bäumen auf dem Hügel auf und ab, während seine Gedanken in tausend Richtungen rasten.

Es war an der Zeit von Höhental zu verschwinden. Es gab zu wenig geschlafene Nächte, zu viele Lügen, zu viel Arbeit, die an seinen Kräften zehrten. Er rechnete damit, dass ihm heute Nacht irgendein schlimmer Fehler unterlaufen und somit seine Mission gefährden würde. Die Verantwortung, lag allein auf seinen Schultern. Seine Verbündeten waren alle in die Singbucht zurückgekehrt. Doch selbst wenn in dieser Nacht die Dinge schieflaufen sollten, würde er fliehen können. Es gab auch noch einen anderen Grund, warum er hier wegwollte.

Er hatte es sich nicht erlaubt, in den letzten Wochen an Jesko zu denken. Denn obwohl er sich danach sehnte, seinen Ziehvater wiederzusehen, waren die Erinnerungen zu schmerzvoll. Nevin wagte es kaum zu hoffen, dass er ihn in seiner menschlichen Gestalt begegnen würde. Dafür war der Fluch bei ihm schon zu weit fortgeschritten. Und das, obwohl sie zur gleichen Zeit gebissen worden waren.

Tief seufzend, rieb er seine pochende Stirn. Statt sich noch tiefer in seinen Überlegungen zu verlieren, blieb er stehen und legte sein Gepäck ab. Nevin sollte nicht mit vier schweren Taschen auf dem Rücken hin und her laufen. Aiven und Tessa würden sich wundern, woher er so viel Kraft hatte um sie zu tragen. Also legte er sie in einem Busch in der Nähe der Bäume ab, nachdem er sich zum zehnten Mal vergewissert hatte, dass er alles gepackt hatte.

Als er endgültig alle Taschen zu schnürte, hörte er leises Keuchen und dumpfe Schritte. Fast hätte er seine Augen geschärft, doch er zwang die Wärme des Fluchs zurück in sein Bein und verließ sich auf seine menschliche Sicht. Auch wenn es ihn etwas verunsicherte, dass er die zwei Gestalten trotz Vollmond kaum erkannte. Als sie näher kamen, schimmerte Tessas blondes Haar im Mondlicht.

»Danke, dass ihr gekommen seid.« Tessa und Aiven in ihren Wächteruniformen brachten alle Gedanken zum Stillstand und halfen ihm, sich ganz auf sein Ziel zu konzentrieren.

»Du hattest recht. Ich habe die Briefe gefunden. Aber ich durfte sie nicht lesen. Sie wurden ungeöffnet verbrannt«, sagte Tessa. »Wieso?«

»Wir werden mehr Antworten bekommen, wenn wir die Schriften beschafft haben.«

»Ich habe durch einen meiner Verbündeten erfahren, dass die Bibliothek im Keller des Regierungsgebäudes strenger bewacht ist. In zwei Stunden wechseln sie die Wächter. Wir schleusen uns vorher als Ablöse ein. Ihr haltet Wache, während ich in die Bibliothek gehe und die Schriften hole. Danach gehen wir zum Landeturm des Postamts, um vier Feuerfalken zu beschaffen.«

Schweigen breitete sich aus. Selbst in der Dunkelheit traf Nevin das Gewicht von Tessas missmutigem Blick.

»Lügen und stehlen? Gibt es keine andere Möglichkeit?«, fragte Tessa vorsichtig.

Nevin seufzte. Höhentaler und ihre übertriebene Sittlichkeit.

»Nun hab dich nicht so, Tessa. Denk an die Verlogenheit der Wächter. Das, was wir heute Nacht verbrechen, verblasst im Gegensatz zu dem, was hier in Höhental passiert.« Aivens Augen funkelten in der Dunkelheit. Nevin konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Keine Sorge. Ich übernehme das Lügen und auch das Stehlen. Alles, was ihr tun müsst, ist mich zu begleiten und für mich Wache stehen. Ihr braucht kein schweres Gewissen zu haben, wenn man bedenkt, was die Landeswächter hinter eurem Rücken anstellen. Wir tun es, um anderen zu helfen.« Nevin versuchte so gut gelaunt wie möglich zu klingen. Doch er war so erschöpft, dass diese Rede nicht mal ihn selbst überzeugte. Doch die beiden protestierten nicht weiter.

»Übrigens, mich hat ein Mädchen auf die Singbucht angesprochen. Sie arbeitet im Postamt. Angeblich ist ihr Bruder dort«, erwähnte Tessa.

Nevins Blut geriet ins Stocken. Sie hatten keine Verbündete im Postamt.

»Wie heißt sie?«

»Sie hat sich nicht vorgestellt. Aber sie kannte meinen Namen. Sie ist klein. Dunkelblond. Sehr schüchtern.«

»Was hat sie noch gesagt?«

»Falls wir jemanden aus der Singbucht kennen, ob sie vorgestellt werden könnte. Aber ich hab nichts über dich erzählt, oder dass wir uns heute Nacht treffen«, erklärte Tessa.

Das war kein gutes Zeichen. Wahrscheinlich eine Spionin der Landeswächter. Nevin atmete tief ein. Jetzt war noch größere Eile gefordert. In seinen Gedanken, kam kurz das Bild des Mannes zurück, dem er gestern das Leben genommen hatte. Er rieb sich die Hände an der Hose, als würde immer noch Blut an ihnen kleben.

»Seid ihr ganz sicher, dass euch niemand gefolgt ist?«

»Ja«, antwortete Tessa.

»Wir haben nicht viel Zeit. Hast du mir eine Uniform beschaffen können?«, fragte er Aiven. Dieser reichte ihm ein Bündel hin.

»Hoffe, es passt. Du bist außergewöhnlich groß.«

Er zog sich schnell die Kleidung über und sein Blick wanderte über die dunklen Umrisse in der Ferne. Die Häuser die zur Hauptstadt gehörten.

»Seid ihr bereit? Ab hier gibt es kein zurück mehr. Ihr solltet euch sicher sein, dass ihr Höhental hinter euch lassen wollt.«

»Ich bin bereit«, sagte Aiven. Tessa antwortete nicht, doch sie folgte ihnen den Hügel hinunter.

Nevin blieb vorne und griff auf seine Drachensicht zurück, um sie unter dem schwachen Halbmondlicht zum Stadtrand zu führen, in eine fensterlose Gasse die er mittlerweile gut kannte. Es war ein sicherer Ort um den Platz zu beobachten, auf dem das Regierungsgebäude stand. Das größte Gebäude, das er bis jetzt in Höhental gesehen hatte. Es erinnerte an ein Schloss von alten Zeiten, in dem wahrscheinlich der erste und letzte König von Höhental gelebt hatte.

Im Schein der Fackeln die am Gebäude hingen, sahen sie mehrere Wächter um das Gebäude stehen. Die meisten standen an der Vorderseite, wo der Haupteingang lag. Auf der linken Gebäudeseite standen nur zwei Wächter und versperrten den Weg zu den Treppen, die hinunter in den Keller führten.

»Überlasst mir das Reden«, flüsterte Nevin. Dicht gefolgt von Aiven und Tessa, marschierte er direkt auf den beiden Wachen zu. Müde und mürrische Gesichter starrten ihm entgegen. Im Lichtschein der Fackeln, die hinter ihnen an der Wand hingen, sah er, dass beide silberne Ketten an ihrem linken Handgelenk trugen. Statt Ringe, trugen Höhentaler Silberketten wenn sie verheiratet waren. Nevin setzte sein bestes Lächeln auf.

»Guten Abend, meine Herren. Wir sind etwas früher gekommen.«

»Ja, eine Stunde«, sagte der größere von ihnen trocken und zeigte auf den Glockenturm über ihnen. »Und warum seid ihr zu dritt? Wir brauchen nur zwei.«

»Wir sollen den Posten hier verstärken. Wegen des Überfalls in der Bibliothek. Und wir konnten nicht mehr schlafen. Deswegen dachten wir uns, dass wir euch etwas früher ablösen.«

Der Wächter blitzte sie misstrauisch an. »Und dann Ärger mit den Vorgesetzten haben? Nein, danke.«

Der Kleinere seufzte müde und flehte Nevin mit seinen Augen an.

»Es wird keinen Ärger geben, versprochen. Wir haben sonst nichts Besseres zu tun. Und auf euch warten eure Familien. Unsere Lippen bleiben versiegelt.«

»Ich hätte nichts dagegen früher nach Hause zu kommen. Und meine Frau auch nicht«, sagte der kleinere Wachmann und rieb sich die Augen.

Der andere brummte, dann fielen seine Schultern begleitet von einem erschöpften Seufzen. »Also gut. Lasst die Großen nichts davon hören. Sonst kriegen wir alle fünf Ärger. Und danke.«

Die beiden verabschiedeten sich und trotteten davon. Nevin wartete, bis sie außer Sicht waren.

»Aiven, bleib du vor der Tür zum Keller stehen. Tessa, ich brauche dich vor der Bibliothek. Falls jemand kommt, klopft zweimal schnell, dann noch dreimal langsam.« Beide nickten und folgten ihm die Treppen hinunter.

»Was soll ich tun, wenn jemand reinkommen will? Oder Fragen stellt?«, fragte Aiven.

»Protokoll. Fragen, wer sie sind, wohin sie wollen. Möglichst laut, damit Tessa es vielleicht auch hören kann. Die Bibliothek ist nicht weit von der Ausgangstür.«

Tessa und Nevin schlüpften hastig durch die Tür. Da froren seine Schritte ein. Ein Wächter stand vor der Bibliothek. Schnell stieß er Tessa zurück zu Aiven und schloss die Tür hinter sich. Gerade noch rechtzeitig ehe der Wachmann ihn ansah. Er warf die Verwirrung ab und ging auf den Wachmann zu.

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»Zeit für dich, nach Hause zu gehen.« Nevin gab ihm einen freundlichen Klaps auf die Schulter.

Der Wächter hob überrascht seinen Kopf. »Jetzt schon?«

»Ja. Draußen stehen schon die Neuen. Du kannst gehen. Gute Arbeit und gute Nacht«, sagte Nevin.

Der Wächter gähnte. »Danke. Ich wusste nicht, dass schon so viel Zeit vergangen ist. Man sieht sich«, murmelte er und ging an ihm vorbei zur Tür hinaus vor der Aiven und Tessa standen. Nicht lange danach stahl Tessa sich durch die Tür und stellte sich neben ihm.

»Weißt du noch das Klopfzeichen?«, fragte er leise, ehe er eintrat.

Tessa nickte. »Zweimal schnell, dreimal langsam. Aber wenn jemand kommen sollte, werde ich nicht lügen. Ich kann es nicht. Und ich will es nicht.« Sie verschränkte die Arme und starrte zu Boden.

»Ich verstehe. Das Klopfzeichen reicht mir. Mehr musst du nicht machen.« Er trat ein, schloss die Tür hinter sich und atmete auf. Er war immerhin schon so weit gekommen. Und in diesem Raum musste er nicht mehr suchen. Mit einem Dietrich in der Hand ging er auf die alte Tür zu. Sie war abgeschlossen. So wie immer. Seine Finger strichen über die raue Oberfläche des Schlosses. Das rostige Metall war mit seiner Drachenkraft leicht zu brechen.

Es klopfte leise. Es war Tessa. Nevin spitzte seine Drachenohren. Leises Gemurmel. Tessas Stimme. Und zwei männliche Stimmen.

Innerlich fluchte er auf, während er Richtung der Kammer huschte, in der er sich das letzte Mal versteckt hatte. Der Vorhang fiel zu. Im selben Augenblick ging die Tür auf.

»Ist es nicht etwas übertrieben? Der ganze Keller wird bewacht«, sagte eine klare, junge Stimme.

»Jemand ist hier vor Kurzem eingebrochen«, antwortete ein zweiter. Der gleiche alte Gelehrte, den Nevin auch das letzte Mal gehört hatte.

»Ja, ich habe davon gehört. Aber ich dachte, es wäre nur ein Gerücht. Wer hätte denn Interesse an diesen alten Büchern?«

»Du hast erst gestern angefangen, nicht wahr?«, fragte der Ältere und schob ein Buch zurück ins Regal.

»Ja, wieso?«

»Dann bist du noch nicht über die Drachen aufgeklärt worden. Hast du schon den Eid abgelegt?«

»Ich weiß darüber Bescheid. Den Eid habe ich auch abgelegt, bezüglich der Herkunft des Fluchs.«

»Dann musst du auch wissen, dass es viele Flüchtlinge aus Höhental gibt, die immer wieder versuchen, im Geheimen zurückzukehren. Sie wollen die Geheimnisse des Fluchs lüften und sie weiter verbreiten. Es als Macht zu missbrauchen. Oder eine Lösung zu finden, die es nicht gibt. Und gerade haben wir eine weitere Wächterin durch einen Drachenbiss verloren. Ihr Bruder und ihre Cousine stehen unter Beobachtung. Sie haben ketzerische Tendenzen.«

»Haben die höchsten Wächter ihnen nichts erklärt?«, fragte der Jüngere.

»Doch. Aber besonders der Zwilling scheint widerwillig zu sein. Wir beobachten sie, aber wenn der Bruder weiterhin stur bleibt, werden sie ihn wohl loswerden. Eine große Schande, denn beide gehören zur Elite.«

Nevin hielt den Atem an. Am liebsten wäre er aus der Kammer gesprungen um ihnen eine Probe des Fluchs zu geben. Er ballte die Fäuste, fest und kurz. Als er sie wieder öffnete, ließ er den Zorn gehen und spähte vorsichtig hinter dem Vorhang. Der Ältere stand mit ein paar Schriftrollen vor der alten Tür und plauderte, während der Jüngere einen Schlüsselbund herauszog.

»Jedes Jahr haben wir weniger Wächter für Südwestgrenze. Da aber der verbotene Osten schon seit mehreren Monaten still ist, vermute ich, dass sie mehr Wächter von der Ostgrenze abziehen werden.«

Der Jüngere schloss sie auf und die beiden traten ein. Statt sie hinter sich zu schließen, ließen sie die Holztür offen. Nevin zog schnell seine Stiefel aus und ließ sie in der Kammer liegen, während seine Nägel sich in Krallen verwandelten. Er kletterte die Wand hoch und hielt über dem Türrahmen an um einen Blick in den unbekannten Raum zu werfen. Es war ein großer Saal. Statt zahlreichen Regalen, standen in der Mitte des Raums überall Truhen, Tische und Stühle herum. Die wenigen Bücherregale standen links und rechts, nahe an den Wänden.

Hinter ein paar Regalen zu Nevins Linken, warf der gelbliche Schein einer Kerze die Schatten der Gelehrten auf den Boden. Sie waren mit Reden und Büchern beschäftigt. Nevin nutzte die Ablenkung und krabbelte an der Decke hängend in den Raum hinein zu der gegenüberliegenden Seite des Raums, wo er sich hinter einem Regal versteckte. Staub wirbelte ihm entgegen, als er auf dem Boden hockte. Es roch nach altem Papier und trockenem Staub. Der Geruch war nicht alt genug. Er brauchte Bücher und Schriften aus einer älteren Zeit.

»Das war es für heute. Lass uns gehen«, sagte der Jüngere, tat einen Schritt auf die Tür zu, dann hielt er inne.

»Was ist?«

»Jetzt erinnere ich mich. Die Cousine, die ich vorhin erwähnt hatte. Ich hab sie im Gerichtssaal gesehen. Sie war blond, mit kurzen Haaren. Genau so wie die Wächterin vor der Bibliothek.«

Nevins Herz sank in tief in seine Magengrube.

»Was? Meinst du, das ist sie?«

Hitze strömte durch seinen Körper. Er schoss hinter dem Regal hervor auf die beiden Gelehrten zu. Der Jüngere bemerkte ihn, öffnete seinen Mund, doch jedes Wort erstarb auf seiner Zunge als Nevins Faust auf sein Gesicht traf. Gleichzeitig schlug er mit der anderen Hand dem älteren Gelehrten in den Nacken. Beide sackten in sich zusammen. Die Kerze fiel aus der Hand des alten Gelehrten, rollte weg und erlöschte. Der Jüngere ächzte in die Dunkelheit hinein. Nevin gab ihm einen weiteren Tritt gegen den Kopf. Stille. Er fühlte nach dem Puls der beiden. Schwach, aber sie waren noch am Leben. Gut. Er hatte seine Kräfte trotz Müdigkeit noch unter Kontrolle. Und er weigerte sich noch mehr Blut zu vergießen.

Nevin ließ die beiden Männer liegen und widmete sich den Truhen.

Sein Herzschlag bebte in seinen Armen und er musste auf seine Drachenkräfte zurückgreifen, damit seine Hände nicht mehr zitterten.

Die erste Truhe enthielt nur alte Bücher. Er roch daran. Nicht alt genug. Er ging gleich zur nächsten. Dann zur nächsten. Eine nach der anderen öffnete er sie. Bis er endlich die Truhe fand, aus dem der herauswirbelnde Staub nach uralten Zeiten roch. Er schnappte sich ein Lederetui und zog vorsichtig das Pergament heraus.

Elyon der Erste, König von Höhental der die Unabhängigkeit des Landes im fünfjährigen Krieg mit seinem Bruder der kaiserlichen Hoheit gewonnen hatte, begann seine Friedensverhandlungen im Osten durch eine angestrebte Heirat mit Prinzessin Svenja von Windesheim aus den kalten Ländern des Ostens.

»Gefunden«, sagte Nevin leise und grinste erleichtert. Er schob das Pergament zurück in die Lederhülle und durchforstete den restlichen Inhalt der Truhe. Vier Bücher und sechs Rollen nahm er mit. Nachdem er seine Stiefel wieder angezogen hatte, hastete er aus der Bibliothek.

»Wo sind die Gelehrten?«, fragte Tessa, als er die Tür aufmachte.

»Erkläre ich dir später. Wir müssen so schnell wie möglich hier weg. Schließ die Tür hinter mir.«

Sie waren fast an der Ausgangstür angekommen, als sie Aivens dumpfe Stimme hörten: »... hier, um abzulösen?«

Nevin nahm Tessas Handgelenk und zog sie zurück vor die Bibliothek. Eine Schweißperle tropfte von seiner Stirn. Hoffentlich war Aiven williger zu Lügen als seine Cousine.

»Tessa, bleib hier. Tu so als würdest du Wache halten. Sag dem nächsten, dass noch ein Gelehrter in der Bibliothek ist.«

»Was? Wieso?« Ihr Gesicht verhärtete sich.

»Tu was ich dir sage, bitte.«

»Wo ist der Gelehrte? Was hast du vor?«

Nevin packte ihre Schulter und starrte ihr tief in die Augen.

»Dein Leben, das von Aiven und seiner Schwester sind in Gefahr. Du musst!«

Er rannte in die Bibliothek hinein, zurück zu den beiden Gestalten auf dem Boden. Sie waren noch bewusstlos. Er legte die Bücher und Schriften behutsam ab, zog dem jüngeren sein langes Gewand aus und warf es sich über. Dann nahm er eine Kerze die auf einem Teller neben der Tür lag und sammelte sein wertvolles Gut wieder ein. Bevor er ging, löste er den Schlüsselbund des jüngeren Gelehrten von seinem Gürtel und verriegelte die alte Tür. Das würde ihnen etwas mehr Zeit verschaffen. Hoffentlich.

Als er die Tür zum Gang öffnete, stand Tessa vor einem anderen Wächter.

»Ist das der Gelehrte?«, fragte der neue Wächter misstrauisch.

Tessa nickte. Ihre Stirn glänzte und ihre Lippen zitterten, als sie das Gesicht von dem neuen Wächter abwandte und hilfesuchend auf Nevin richtete.

»Guten Abend. Ist es schon Zeit abzulösen?«, fragte Nevin freundlich und stellte sich neben Tessa. »Ich muss diese hinauf zur Halle bringen. Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen. Könntest du mich vielleicht dorthin begleiten?«, fragte Nevin an Tessa gewandt. »Wir nehmen gleich die nächste Außentreppe. Ich brauche etwas frische Luft, nach den ganzen staubigen Büchern.«

Tessa nickte still und folgte ihm. Er verabschiedete sich von dem Wächter, der ihnen keine weitere Beachtung schenkte. Noch fünf Schritte. Dann waren sie draußen. Danach noch 20 Stufen, dann konnten sie zurück zum Hügel laufen. Draußen plauderte Aiven mit den zwei neuen Wächtern die ihn ablösen sollten. Er wirkte gelassen. Ganz anders als seine Cousine die immer noch ihre Lippen zusammengepresst hatte.

»Natürlich«, sagte Aiven. Er verabschiedete sich freundlich und ging neben Nevin und Tessa in Richtung der Gasse. Bald würden sich die Wachmänner vor dem Gebäude fragen, wohin sie mit den Büchern und Rollen hingingen. Und dann würde es nicht lange dauern, bis sie der Sache nachgingen und feststellten, dass die alten Bücher das Regierungsgebäude nicht verlassen durften. Sobald die Dunkelheit der Gasse sie verschluckt hatte, beschleunigte Nevin seine Schritte.

»Was ist passiert?«, fragte Aiven verwirrt.

»Wir müssen uns beeilen«, begann Nevin. »Zwei Gelehrte waren in der Bibliothek. Sie haben Tessa erkannt.«

»Was?«, wisperte Tessa.

»Und jetzt?«, fragte Aiven.

»Jetzt könnt ihr wirklich nicht mehr hier bleiben. Eurer Leben steht auf dem Spiel.«

»Die Landeswächter würden so etwas nicht erlauben. Todesstrafen und Mord sind hier verboten«, warf Tessa ein.

»Das ist das, was sie euch weismachen wollen. Glaubt mir, es sind in den letzten Jahren einige durch die Befehle der Landeswächter umgekommen.«

»Das klingt so, als würden sie uns hinrichten. Du meinst wohl sicher eine Gefängnisstrafe, oder?«, fragte Aiven unsicher. Sie begannen nun den Hügel Richtung Wächterdorf zu erklimmen.

Nevin schüttelte den Kopf. »Nein. Man kann auch jemanden töten und es wie einen Unfall aussehen lassen.«