Die langen Finger des Drachens hielten Elyon fest um ihren Bauch umklammert. Sie rief dem Drachen mehrmals zu, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Vergebens. Ohne auch nur einmal den Blick nach rechts oder links zu wenden, flog das Tier voran. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Landschaft zu beobachten, die unter ihr vorbeijagte. Kleinere Dörfer, zwei Städte. Wahrscheinlich das westliche Königreich Tannschwärze. Reich an dunklen Nadelbäumen und Kohle.
Elyon blies frustriert gegen eine Haarsträhne. Sie hatte das Pech gehabt, dem fünften kaiserlichen Prinzen zu begegnen, der das Reich Tannschwärze beaufsichtigte. Obwohl jedes Königreich des Kaisers einen König hatte, standen ihnen immer eins seiner Söhne zur Seite, um sicherzustellen, dass die Könige zur Zufriedenheit des Kaisers regierten.
Und der Prinz hatte sie erkannt. Ihre Täuschung würde auffliegen. Bald würde das ganze Kaiserreich wissen, dass die Prinzessin der Sturminseln nicht tot war. Die Jagdhunde, die sie vor einem Jahr abgerichtet hatte, waren also ihm zugefallen. Wahrscheinlich ein Bestechungsgeschenk ihres Vaters. Ein Glück für sie, denn sie hatten sich ihr sofort angeschlossen, um gegen den Prinzen und seine Männer zu kämpfen.
Das Meer tauchte am Horizont auf. Mit zusammengepressten Lippen musste sie beobachten, wie sie dem südlichen Teil des Landes immer näher kamen. Und damit auch näher an die Sturminseln. Alles, bloß das nicht.
Elyon klopfte gegen die muskulösen Finger des Tieres, ohne eine Reaktion hervorzurufen. Ein heftiger Windstoß schlug gegen Elyons Gesicht, als sich der Drache mit der Schnauze voran in die Tiefe schoss.
Elyon kniff die Augen zu, um sich gegen den Wind zu schützen. Hoffentlich wusste der Drache, was er tat. Das Tier schien nicht ganz bei Verstand gewesen zu sein, als er sich mit ihr davon gemacht hatte. Der Wind ließ nach und Elyon wagte es ihre Lider ein wenig zu öffnen. Um im nächsten Moment sie ganz aufzureißen. Der Drache flog direkt auf einen Bergsee zu.
Sie strampelte sie mit den Beinen und versuchte sich aus den Fängen des Drachens zu lösen, obwohl sie noch mehrere Meter über den Boden waren. Sie grub ihre Fingernägel in die samtenen Pfoten, biss in sein Bein. Doch der Drache hielt nicht an und stürzte auf das Wasser zu. Elyon nahm tief Luft und presste ihre Lippen zusammen. Eiskaltes Wasser schlug ihr entgegen.
Der Drache tauchte nicht auf, sondern fiel sanft tiefer in die Dunkelheit des Sees. Sein Griff lockerte sich. Elyon löste ihre Arme, doch der Rest ihres Körpers blieb stecken. Sie nahm eins ihrer Wurfmesser aus den Lederbänden um ihren Arm und rammte es in die Pfote. Sofort öffneten sich die Finger und Elyon strampelte sich von seinem Griff frei, dann erstarrte sie mitten in der Tiefe. Alles war dunkel. Wasser umgab sie von allen Seiten. Ihr Herz klopfte. Panisch schnappte sie nach Luft. Wasser drang in ihre Kehle hinein. Da kam sie wieder zu sich. Klappte ihren Mund zu. Sie musste hier raus. Von oben drang Licht an die Wasseroberfläche. Mit hastigen Zügen schwamm Elyon nach oben. Sechs, sieben, acht, neun, zehn Züge. Dann brach sie durch die Oberfläche.
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Sie spuckte das Wasser aus ihrem Mund und sog gierig Luft ein. Ihre Lungen brannten immer noch, als sie begann nach dem Ufer zu suchen. Sie musste weg. Raus aus dem Wasser. Raus. Raus. Raus. Während Elyon sich mit bebender Brust ans Ufer kämpfte, drangen die Bilder in ihren Kopf. Die Bilder als sie das letzte Mal so schnell geschwommen war. Das letzte Mal, als sie ihre Mutter gesehen hatte. Das Bild klammerte sich an Elyon wie das kalte das Wasser an ihrem Körper. Als wäre sie am Ertrinken, griff sie nach den Gräsern am Ufer und zog sich aus dem Wasser heraus.
Keuchend fiel sie zu Boden, saugte den Geruch vom Gras ein. Umschlang ihren Brustkorb der gerade dabei zu zerbersten. Ihr Herzschlag donnerte in ihrem Ohren. Atmen, befahl sie in ihren Gedanken. Sie atmete ein, zählte bis fünf, dann wieder aus. Langsam verschwanden die Bilder wieder. Als Elyon sich etwas beruhigt hatte, setzte sie sich auf, die Arme eng um sich selbst geschlungen, und suchte nach dem Drachen. Der graue Körper tauchte gerade aus dem Wasser heraus. Zuerst der Kopf um Luft zu holen, dann zog der Rest des Körpers nach, um wieder in die Tiefe zu tauchen. Wasserdampf, dachte Elyon. Sie mussten mit Dampf fliegen. Deswegen war der Drache immer so gierig nach Wasser. Und deswegen war sein Körper immer warm.
Mit schlotternden Knien zwang sie sich auf die Füße und studierte die Bewegungen des Drachen. Wenn ihre Theorie stimmte, musste der ganze Körper wie ein riesiger Luftsack funktionieren, der sich mit Dampf füllte. Oder zumindest ein großer Teil davon. Sie legte ihre durchtränkte Tasche ab um nach ihrem Heft zu suchen. Zum Glück hatte sie es in Filz eingewickelt. Es sollte das Seebad einigermaßen überstanden haben.
Mit triefnassen Fell stieg das lange Tier aus dem Wasser und schüttelte sich. Etwas stimmte nicht mit dem Drachen. Waren die Augen nicht vorher braun gewesen? Jetzt waren sie gelb. Und es hörte nicht auf den Kopf zu schütteln. Ein frustriertes Knurren, dann schlug es den Kopf gegen einen Felsen, immer und immer wieder. Elyon ließ die Rasche fallen, sprintete durch das hohe Gras auf den Drachen zu und zog gleichzeitig etwas getrockneten Traumtod aus ihrem Lederbeutel heraus.
Sie schlang beide Arme um den Kopf des Tieres und zog es von dem Stein weg. Sie rieb das Kraut nahe der grauen Nase. Der Drache brummte und versuchte sie abzuschütteln, doch sie schlang ihren freien Arm um die Kehle des Tieres und brummte ihm leise zu. Das gleiche Brummen, das sie von ihm schon ein paar Mal gehört hatte. Der süßliche Geruch des Krauts hüllte sie ein. Es würde auf Elyon keine starke Wirkung haben, dazu musste sie es einnehmen. Auf Tiere wirkte es einschläfernd. Doch für Drachen, hatte der Geruch anscheinend eine beruhigende Wirkung.
Die Augen des Tieres wurden klarer und färbten sich langsam zurück in einen hellbraunen Ton.
Erstaunt zog sie ihre Arme zurück. Statt nervös zu werden oder sich angegriffen zu fühlen, traf das Tier ihren Blick und hielt sich daran fest.
»Seltsames Wesen«, murmelte sie leise und kraulte sein Kinn.
Der Drache winselte, schloss die feuchten Augen und lehnte den Kopf gegen ihre Brust.