Nevin brauchte keine Richtung anzugeben. Dilek wusste, wo die Hütte seines Halbbruders lag, in der er sich immer zurückzog, wenn er eine Pause von seinen Pflichten als Aufseher über den König der Tannschwärze brauchte. Oder, wenn er sich im Geheimen mit Nevin treffen wollte. Der Flug dauerte kaum zwei Stunden, denn dank Dileks massiver Körperbreite, konnte er für längere Zeit in seiner vollen Geschwindigkeit fliegen.
Links von ihnen tauchte das Königreich Tannschwärze auf. Die zweistöckige Hütte lag außerhalb der Grenze, nicht weit von einem unbewohnten Wald, auf einer weiten, glatten Wiese mit Blick auf die entfernten Berge. Dilek landete mit etwas Abstand von der Hütte, nicht weit von ihr, grasten Pferde mit feingezeichneten Köpfen und seidigem Fell in der Nähe eines kleinen Sees. Direkt vor dem Haus, lagen vier Jagdhunde im Gras und schliefen friedlich. König Elyon hatte sie ursprünglich Nevin geschenkt, doch er hatte sie seinem Bruder gegeben, da die Tiere aus hochkarätiger Züchtung stammten und sie von Prinzessin Elyon höchstpersönlich abgerichtet worden waren. Genau die richtigen Tiere für seinen jüngeren Bruder. Die Hunde kannten Nevin und Dilek bereits, sodass sie sich auch nicht von ihrem Schlaf abhalten ließen, als Dilek in seiner Drachengestalt etwas näher kam.
Die Eingangstür wurde aufgerissen und Finans persönlicher Diener, Talus kam ihnen entgegen.
»Eure kaiserliche Hoheit, ich hoffe, Ihr hattet eine sichere Reise«, sagte er und verbeugte sich tief, wie es sich für den Thronfolger des Kaisers geziemte. Unberührt von dem Drachen hinter Nevin, ging Talus ihm voran, um ihn in die Hütte zu führen. Der Diener hatte Nevin selbst bis vor ein paar Jahren gedient, weswegen er sich an Drachen, mit seiner ruhigen und gelassenen Persönlichkeit, bereits gewöhnt hatte.
Während sie durch die Eingangshalle gingen, fiel Nevin wie immer auf, dass Finans Hütte, diese Bezeichnung kaum verdiente. Sie war mehr eine große, hölzerne Villa, die mit jedem Luxus eingerichtet war, die sein Bruder sich leisten konnte. Finan liebte alles was teuer war, das hatte er von ihrem Vater, dem Kaiser, nur in größeren Ausmaßen. Doch das, behielt Nevin für sich.
»Eure kaiserliche Hoheit, vierter Prinz Ilias«, verkündigte der Diener, als er das Wohnzimmer betrat. Dann trat er zur Seite und verneigte sich wieder tief, als Nevin an ihm vorbeiging. Sein um zwei Monate jüngerer Bruder, stand mit einem breiten Lächeln von seinem Ledersofa auf und breitete seine Arme aus.
Wie immer trug er einen samtenen, purpurroten Umhang, seine Lieblingsfarbe und Kleidungsstück. Die Hälfte seiner langen, honigblonden Haare hatte er mit einem Seidenband, in der gleichen roten Farbe, zu einem Knoten zusammengebunden. Nevin drückte ihn, leichter, als er es gerne getan hätte, um nicht irgendwie aus Versehen den teuren Umhang zu beschädigen oder zu beflecken. Oder das seidige Hemd zu zerknittern, das er anhatte. Was Nevin schon oft auf unerklärliche Weise gelungen war.
»Nevin, was sagst du? Verdiene ich nicht den Titel deines Lieblingsbruders? Wie immer bin ich für dich da, um dir aus der Klemme zu helfen.«
Nevin lachte, ging zu dem gegenüberliegendem Sofa und setzte sich hin.
»Heute gebe ich ausnahmsweise mal zu, dass du tatsächlich mein Lieblingsbruder bist. Ich bin so dankbar, dass ich auch noch glatt versucht bin, dir meinen Kaisertitel abzugeben.« Was Nevin auch an jedem anderen Tag nur zu gerne getan hätte.
»Bloß nicht, danke. Ein Königreich zu beaufsichtigen ist schon Arbeit genug. Ich habe keine Lust ein ganzes Land zu regieren. Wein?« Finan hielt einen silbernen Krug hoch, der mit dunklen Saphiren geschmückt war.
»Gerne.«
Nevins Halbbruder reichte ihm einen Kelch mit dem dunkelroten Wein, der leicht nach Tanne roch. So wie fast alles was aus Tannschwärze kam.
»Nur dass du Bescheid weißt, ich verlange für nächstes Jahr ein besonders teures Geburtstagsgeschenk. Deine Verlobte hat mich fast mein Leben gekostet. Und einen meiner besten Hengste.« Finan setzte sich ätzend zurück auf sein Sofa und strich mit spitzen Fingern über das weiche Leder.
»Wo hast du sie gesehen?«
»Nicht weit von hier. Du kennst doch das große Tal Richtung Süden? Ich war gerade mit meinen Männern auf Jagd als die Hunde, die du mir geschenkt hast, plötzlich ausgerissen sind. Sie sind direkt ihrer ehemaligen Abrichterin entgegengelaufen. Und dem Drachen, der bei ihr war.«
Nevin prustete den Wein, den er gerade zu sich genommen hatte zurück in den Kelch.
»Moment, hast du gerade Drache gesagt?«
»Pass auf! Ich will keine Weinflecken auf dem Sofa haben. So schnell komme ich nicht an Riesenbüffelleder heran.«
Nevin starrte ihn verblüfft an. Finan lehnte sich empörend zurück und nahm einen Schluck aus seinem Kelch.
»Riesenbüffelleder?«
Riesenbüffel waren die gefährlichsten Tiere im ganzen Kaiserreich. Wegen ihnen konnte die weite Steppe, die zwischen Höhental und dem Kaiserreich lag, nicht bewohnt werden. Von der Größe reichten sie an die zweistöckigen Häuser in der Kaiserstadt heran. Dadurch hatten die Tiere nicht nur ihren massiven Körper als Waffe, sondern auch noch ihr lautes Röhren. Es schallte so stark, dass es angeblich menschliche Ohren zum Platzen brachte. Man konnte sich glücklich nennen, wenn man einer Begegnung mit diesen Tieren nur mit Taubheit davonkam.
»Hat mich ein Vermögen gekostet, aber es war es wert. Fühl doch, wie weich es ist. Es war leider ein Kadaver. Das Fleisch war nicht mehr zu retten, aber seine Haut und seine Knochen schon. Und ja. Sie hatte einen Drachen dabei. Deswegen habe ich sie zuerst nicht erkannt. Auch wegen ihrer Hosen und kurze Haare. Bis ich ihre dunklen Augen und ihre Nase, die sie von ihrem abscheulichen Vater hat, bemerkte.«
»Was ist dann passiert? Ist sie dir entwischt?«
»Natürlich ist sie das. Wir reden hier von Prinzessin Elyon. Sie hat mein Pferd mit einem Schnitt ihres Messers getötet. Gift, oder? Hattest du nicht mal erwähnt, dass sie sich damit auskennt? Jedenfalls habe ich um mein Leben gefürchtet und meine Männer gewarnt, weg von ihr zu bleiben. Der Drache ist völlig wild geworden und hätte meine Männer wahrscheinlich getötet, hätte die Prinzessin ihn nicht zu sich gerufen. Dann ist sie mit ihm davon geflogen.«
»Was war es für ein Drache? Irgendwelche besonderen Merkmale?«
»Ein ganz normaler. Graues Fell, keine Hörner. Eher von der kleinen Sorte. Braune Augen. Schwer von anderen zu unterscheiden.«
»Wie war die Prinzessin genau angezogen?«
»Pelzumhang, braunes Hemd, braune Hosen, sehr teure Lederstiefel. Weißt du die, die du mir mal von der Sturminsel mitgebracht hast? Vor einem Jahr? Sie halten immer noch. Ich bin begeistert von ihnen. Du kannst sie mir gerne nochmal schenken. Gerne mit irgendeiner edlen Stickerei. Ich bevorzuge rote oder goldene Fäden.«
Nevin seufzte. „Finan, bitte schweife nicht ab. Es ist dringend.«
»Ja ja, schon gut. Wo war ich? Ach ja, sie hatte eine Waffe bei sich. Ein Kurzschwert. Der Griff war eindeutig von Höhentalerschmiede gemacht. Und sie hatte jede Menge kleine Beutel an ihrem Gürtel und eine recht große Tasche auf ihrem Rücken. Keine Ahnung, wie so ein zierliches Wesen, so viel mit sich schleppen kann. Und wie gesagt, sie hat sich die Haare abgeschnitten und sieht nun aus wie ein kleiner Junge. Ein sehr hübscher kleiner Junge. Meiner Meinung nach, keine sehr gute Verkleidung.«
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»Hast du gesehen, wohin sie geflogen sind?«
»Richtung Süden.«
Erleichtert nahm Nevin einen weiteren Schluck von dem Wein. Da der Drache kleiner war, konnten sie nicht weit gekommen sein, ohne dass er ständig landen musste um zu trinken. Sie musste noch irgendwo in dieser Gegend sein.
»Wie hat Vater reagiert, als ihre Flucht bekannt wurde? Glaubt er, dass sie tot ist?«
»Oh, keiner von uns glaubt das. Selbst König Elyon nicht. Der hat mit Erlaubnis unseres Vaters seine besten Männer auf die Prinzessin angesetzt. Vater war natürlich nicht begeistert von ihrer Flucht. Und ich könnte dir seinen gehässigen Redeschwall fast wörtlich wiedergeben, doch ich erspare dir das. Sagen wir mal folgendes, dein Leben schwebt noch mehr in Gefahr als vorher. Ich habe ihm nicht verraten, dass ich sie gesehen habe. Offiziell gilt sie ja noch als verstorben. Aber du solltest sie möglichst in den nächsten zwei Wochen finden, da ich vermute, dass Vaters Geduld dann am Ende sein wird. Und du dann in die Kaiserstadt beordert wirst.«
Nevin schluckte. Er konnte sich gut die Reaktion seines Vaters ausmalen. Besorgt ließ er seinen Blick über seinen Bruder schweifen. Doch er schien nicht verletzt zu sein.
»Hat Vater ... Ich meine ... Ist er handgreiflich geworden?«
»Nur gegenüber den Bediensteten. Mich hat er angefahren, weil er weiß, dass wir uns nahestehen.«
Nevin nickte und nippte wieder an seinem Wein. Das war kein Geheimnis. Sie hatten zwar verschiedene Mütter, doch sie waren zusammen aufgewachsen. Er war der Einzige, der Nevin nicht als Feind gesehen hatte, nachdem ihre Großeltern verkündet hatte, dass Nevin und nicht sein ältester Bruder Kaiser werden sollte. So wie es üblich in Rovisland war.
Sein älterer Bruder Idris, zum Beispiel, mochte weder ihn, noch Finan, besonders wegen seinem Hang zum Luxus. Und Finan hasste den erstgeborenen Bruder, der ihm ständig verbieten wollte, sein selbst verdientes Geld auszugeben. Denn er arbeitete hart für sein Geld. Finan war einer der besten Aufseher seines Vaters und hatte dem Königreich Tannschwärze, in dem er lebte, geholfen wirtschaftlich wieder auf den eigenen Beinen zu stehen. Er hatte somit die Gunst seines Vaters, dem Kaiser, und des Königs, den er beaufsichtigte.
»Danke, dass du mir so schnell geschrieben hast. Ich schätze deine Hilfe wirklich sehr. Die letzten Tage hatte ich nur schlechte Nachrichten.«
»Du weißt, dass ich nicht für deine Enthauptung bin. Du bist der Einzige in unserer Familie, der mich nicht wahnsinnig macht und sollte Idriot jemals Kaiser werden, müsste ich in den verbotenen Osten fliehen. Und darauf habe ich keine Lust. Mir ist es lieber, du bleibst am Leben.«
»Finan. Du solltest aufhören Idris so zu nennen. Sonst wird es noch eine Gewohnheit und du willst seinen Zorn nicht weiter auf dich ziehen.«
»Ich kann nicht anders, wenn er sich wie ein Idiot verhält. Er weiß genau, dass derjenige Kaiser wird, der die Gunst des ehemaligen Kaisers oder der Kaiserin gewinnt und nicht der Älteste. Unsere Großeltern haben vor Großvaters Tod dich dazu bestimmt und er sollte endlich damit leben können, statt sich wie eine beleidigte Leberwurst zu verhalten.«
Nevin seufze und stellte den Kelch auf den Marmortisch vor ihm ab. Beleidigte Leberwurst war noch eine Untertreibung.
»Pass trotzdem auf. Ich kann noch nicht zurückkehren, um dich in Schutz zu nehmen.«
»Keine Sorge, ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich habe unsere blutrünstige Familie bis jetzt überlebt und ich werde sie weiterhin überleben. Übrigens, weißt du schon, dass Siegenshafen einen neuen König hat?«
Nevin hielt verdutzt inne. „Nein. Ist der alte König bereits gestorben?«
»Ja. Und nicht nur er. Die gesamte königliche Familie und seine nächsten Nachfahren leben nicht mehr. An seiner Stelle regiert nun König Demian.«
»Was? Hieß nicht der persönliche Diener des Königs so? Der junge Blonde, der aus dem Nichts an seiner Seite aufgetaucht ist?«
»Ja. Und es geht noch weiter. Sie sind ausgerechnet zu der Zeit umgekommen, als Davenius bei unserem Vater in der Kaiserstadt war.«
Davenius war der zweitälteste Sohn der kaiserlichen Familie und der Aufseher für das Reich Siegenshafen an der westlichen Küste. Die Hauptstadt dieses Königreichs, die ebenfalls Siegenshafen hieß, war ein wichtiger Handelsort zwischen dem Kaiserreich und die südlichen Länder auf der anderen Seite des Meeres.
»Wie genau ist die Familie ums Leben gekommen?«
»Sie waren bei ihrem jährlichen Seeausflug. Du weißt schon, bevor sie den jährlichen Fischfang für beendet erklären. Jedenfalls ist dieses Jahr die gesamte Familie auf See gegangen. Mit sechs ihrer besten Schiffe. Diese sind angeblich gegen ein paar Felsen gelaufen, die in keiner Karte vermerkt waren und sind alle untergegangen.«
Nevin schüttelte den Kopf. „Das glaubst du doch auch nicht, oder? Sie würden die besten Kapitäne mit an Bord haben. Und sechs Schiffe auf einmal? Selbst mit den Rettungsbooten?" Nachdenklich starrte Nevin in seinen Kelch hinein. „Was macht Davenius?"
»Er wurde aus dem Königreich verbannt. Dieser Demian hat ihn der Geldwäscherei und illegalen Handels beschuldigt, durch die er Davenius' Verbannung bewirken konnte. Für den Moment, musste er zurück zum kaiserlichen Palast kehren. Vater ist natürlich außer sich vor Zorn. Er will Demian nicht als König anerkennen. Und Davenius versucht alles, um die genauen Geschehnisse des Seeunfalls aufzudecken, da er glaubt, dass Demian irgendwie für den Tod der gesamten Königsfamilie gesorgt hat. Und das ist nicht das Einzige, was äußerst auffällig ist. Demian ist ebenfalls zu den Sturminseln gereist, zu Prinzessin Elyons Geburtstagsball. Und er hatte einen Drachen dabei. Den er der Prinzessin zum Zähmen gegeben hat. Davenius hat es mit seinen eigenen Augen gesehen, als er und Idris dort waren.«
»Was? Einen Drachen?«
Finan nickte und ein Schatten fiel über sein Gesicht. »Er besitzt wohl ein ganzes Rudel davon. Mehrere Drachen wurden in der Nähe seines Schlosses gesichtet. Auch weiße.«
Ein eiskaltes Kribbeln fuhr über Nevins Arme. Es war den Königen verboten, Drachen zu halten. Alle gefangenen Tiere mussten sofort getötet oder dem Kaiser übergeben werden. Nicht, dass sich alle dran hielten. Es gab viele illegale Drachenjäger, die sie ihr Blut molken und teuer auf dem Schwarzmarkt weiter verkauften. Seine eigenen Drachen wurden oft genug von ihnen verfolgt und angegriffen, wann immer sie in den Siedlungen und Städten unterwegs waren.
»Alles sehr verdächtig. Nicht wahr? König Demian hat nämlich auch versucht, dir deine Verlobte wegzunehmen. Unsere Spione, die unter den Dienern auf den Sturminseln arbeiten, haben es herausgefunden. Er hatte wohl ein Gespräch mit König Elyon und kurz bevor dieser eure Verlobung für aufgelöst erklären konnte, kam die Nachricht von Prinzessin Elyons Verschwinden. Der Stand eurer Verlobung ist noch nicht geklärt. Bis die Prinzessin gefunden wird.«
Nevin rieb sich ächzend die Augen.
»Und ich dachte, du bringst mir nur gute Nachrichten.«
»Tut mir leid. Aber ich konnte es dir nicht verschweigen. Doch das ist auch eine gute Gelegenheit, um Vaters Gunst wiederzugewinnen. Solltest du dich oder einen deiner Männer in Siegeshafen einschleusen können, kannst du Vater neue Berichte schicken. Ich übergebe sie für dich auch gerne an Vater höchstpersönlich.«
»Ja. Du hast recht. Zum Glück habe ich bereits einige Leute dort, die verdeckt für mich arbeiten. Ich weiß nicht, ob sie Jaro bereits irgendetwas berichtet haben. Aber ich schaue mal, was ich tun kann.«
»Mach das.« Finan nippte genüsslich an seinem Wein.
»Ich muss zurück. Aber es freut mich, dass wir uns bei dieser Gelegenheit sehen konnten. Ich schreibe dir, sobald ich mehr weiß.«
»Und sollte ich irgendetwas in Erfahrung bringen, wirst du von mir hören.« Finan stand mit ihm auf, legte seine Hand auf Nevins Schulter und führte ihn hinaus. »Pass auf dich auf. Und solltest du irgendwelche Hilfe brauchen, lass es deinen Lieblingsbruder wissen.«