Als sie das Besprechungszimmer betraten, waren bereits einige Menschen dort versammelt. Isko hastete auf den Tisch zu, um den Kael, Jaro, Odilia, Aiven, Alina und Tessa saßen. Als Tessa, die mit dem Rücken zu ihnen saß, sich umdrehte, machte Elyon einen erschrockenen Satz zurück. Die Augen vor Furcht aufgerissen und die Nase eine Spur blasser, als sie sowieso schon war. Sie hatte sich immer noch nicht ganz von der Vergiftung erholt.
»Elyon, was ist los?«, fragte Nevin leise.
Sie antwortete nicht, sondern starrte mit angehaltenem Atem Tessa an, die mit besorgtem Gesicht sich ihren Cousins zuwandte.
»Elyon, das ist Tessa. Meine Cousine«, erklärte Alina mit leiser Stimme und schluckte schwer. »Keine Angst, sie wird dir nichts tun.«
Nevin rieb sich seufzend die Stirn. Es war ihm kurz entfallen, dass Elyon Demian begegnet war und Tessa, als seine Schwester, ihm sehr ähnlich sah. Zu viele Dinge lasteten auf ihn. Er musste sich fokussieren um den Überblick nicht verlieren. Also setzte er ein Lächeln auf, mehr für sich selbst, als für die anderen und setzte sich an den Tisch. Elyon nahm sich keinen Stuhl, sondern stellte sich an die Wand, die dem Tisch am nächsten war, dabei ließ sie Tessa keinen Augenblick aus den Augen.
»Seht her!«, rief Isko und zeigte mit dem Finger auf eine Zeile des Pergaments, das auf dem Tisch lag. »Hier ist die Stelle, wo es erwähnt wird. Die meisten werden es nicht lesen können, doch wörtlich übersetzt, steht hier drin: Und da die Goldfeder Sippe als Erste die blutrünstigen Feuervögel zähmte und die Hochebene bewohnbar machte, stehen allen Familienmitglieder die Ländereien als Besitz zu, von den Schluchten bis zu der Grenze der Winterberge. Das Besitztum wird an diejenigen weitergegeben, die als Erben der Goldfedern mit dem Namen Elyon getauft werden. Dies gilt für alle Zeiten, bis vonseiten der Goldfeder Sippe ein offizieller Verzicht auf das Besitzrecht gebracht wird. Somit erhalten sie das Recht, das von ihnen getaufte Höhental zu betreten und zu bewohnen, sowie Ländereien an diejenigen abzugeben, die sie für würdig empfinden.«
Stille breitete sich aus, während alle versuchten seine Worte zu begreifen.
Nevin beschloss, als erster zu sprechen. »Elyon, deine Familie heißt doch nicht Goldfeder, oder? Sind wir uns sicher, dass damit deine Familie gemeint ist?« Jaro hob überrascht die Augenbrauen, wahrscheinlich wegen seiner, nicht ganz förmlichen, Anrede gegenüber der Prinzessin. Nevin würde es ihm später erklären.
»Familienname ist, bei den Sturmwellen. Doch König Elyon der Weise, vier Generationen zurück, hieß Goldfeder,« gab Elyon nachdenklich von sich. Sie löste sich von der Wand und als sie an den Tisch herantrat, legte Isko vorsichtig das alte Pergament vor ihr hin.
»Könnt Ihr es lesen?«, fragte Isko.
Elyon nickte nur, während sie sich in den Zeilen vertiefte. Dann legte sie ihren Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle des Pergaments.
»Besitzurkunde. Noch nie gesehen.« Kael und Isko standen auf und beugten sich neben Elyon über das Dokument. Ihre Mundwinkel fielen sichtbar nach unten.
»Seid Ihr Euch sicher? Eure Familie würde doch niemals solch wichtige Dokumente vernichten oder verlieren. Wisst Ihr denn gar nichts über Eure Vergangenheit in Höhental?«, fragte Isko.
Elyon schüttelte den Kopf. »Wurde nur über sechs Generationen unserer Familie unterrichtet«, sagte sie langsam, als würde sie jedes Wort vorher sorgfältig in ihrem Kopf abwägen. »Habe angenommen, dass es keine Aufzeichnungen gab.«
»Ich habe es doch geahnt! Wir haben uns diese ganze Mühe gegen, nur um eine verschrobene Prinzessin zu finden, die uns noch den Kaiser und König Demian vor die Haustüre bringen wird!«, zischte Odilia und verschränkte die Arme.
»Odilia, drücke deine Worte mit etwas mehr Respekt aus, oder behalte sie für dich«, drohte Jaro, der als Nevins ehemaliger Lehrer wusste, wie man sich gegenüber dem Adel zu verhalten hatte.
Doch die hellblauen Augen brodelten weiter und Odilia hatte zu viel Höhentaler Blut in sich, um sich auf so etwas wie Etikette einzulassen.
»Werde nicht lang bleiben. Muss fliehen«, erklärte Elyon und ein Schatten legte sich über ihrem Gesicht.
Jaro löste seine Aufmerksamkeit von Odilia und fragte mit behutsamer Stimme: »Wo liegt Euer Zielort, wenn ich fragen darf?«
Elyon war für einige Augenblicke still, während sie eine Person nach der anderen im Raum betrachtete.
»Osten.«
»Osten?«, fragte Kael verwirrt.
Doch in Nevin stieg eine Ahnung auf, die sein Herz packte und schmerzhaft zerdrückte.
»Du meinst doch nicht, den verbotenen Osten, oder?«, wisperte Nevin.
Elyon nickte. Alle im Raum rissen ihre Augen auf.
»Eure Hoheit! Es ist unmöglich, den verbotenen Osten zu betreten! Außer durch Höhental, gibt es keinen anderen Weg und selbst dieser ist gesperrt«, erklärte Jaro und hielt den Atem an.
Elyon senkte nachdenklich den Kopf, dann tippte sie auf das Pergament.
»Wenn ich Urkunde finde, dann darf ich passieren?«
Kael war der erste, der sich regte. »Deswegen habe ich Tessa, Aiven und Alina hergebeten. Ihr seid erst vor kurzem aus Höhental geflohen. Glaubt ihr, dass die Wächter mit dieser Urkunde den Weg für uns öffnen würden? Oder zumindest für die Prinzessin?«
Die drei warfen sich gegenseitig fragende Blicke zu und es war, als würden Aiven, Alina und Tessa sich wieder ohne Worte unterhalten. Es war Tessa, die schließlich zuerst sprach.
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»Wenn diese Urkunde tatsächlich noch existiert, und das Eigentumsrecht nie an die Großwächter abgegeben wurde, dann dürfen die Wächter Ely-, ich meine, Prinzessin Elyon den Zutritt nicht verwehren. Das würde gegen die Gesetze Höhentals verstoßen.«
»Doch wir können uns nicht sicher sein, dass die Ländereien tatsächlich noch der königlichen Familie gehören. Vielleicht gibt es ein anderes Gesetz in Höhental, dass eine Besitzurkunde nichtig macht», überlegte Jaro.
Da schüttelte Kael den Kopf und grinste. »Oh nein. Ich weiß, ich klinge jetzt wie ein aufgeblasener Angeber, aber mir unterlag mal die Aufsicht über alle Gelehrten in der Hauptstadt Höhentals. Die Großwächter hätten es sich niemals nehmen lassen, uns alle darüber zu unterrichten, dass wir ein freies Land sind und keinen Besitzer mehr haben. Doch sie haben so etwas nie erwähnt. Offiziell haben ja alle Länder eine Bezeichnung. Sie sind ein Kaiserreich, ein Königreich, oder ein freies Land.« Kael machte eine Pause und legte eine Faust vor seinem Kinn, während er nachdachte.
»Ich habe es schon immer seltsam gefunden, dass es so viele Schriften über alle möglichen Länder gab, doch die Schriften über die Sturminseln und den verbotenen Osten, sind gering in der Zahl und dürfen nur von bestimmten Mitgliedern der Gelehrten angeschaut werden. Alle natürlich Familienmitglieder der Großwächter. Ich durfte nie auch nur einen Blick auf sie werfen. Und so oft ich auch gesucht habe, ich konnte die Schriften noch nicht mal finden. Aber mir wurde natürlich vorenthalten, dass die immer abgeschlossene Kammer, in der Hauptbibliothek des Großwächterschlosses, gar keine Rumpelkammer ist.« Er warf Nevin einen verschmitzten Blick zu.
»Habe Dokumente in einer Geheimkammer, in der Bibliothek von Vater gefunden.« Als Elyon das Wort Vater aussprach, versagte ihr kurz die Stimme. Sie räusperte sich, ihr Gesicht wurde kurz blass, dann starrte sie wieder angestrengt auf das Pergament vor sich. Ihr Blick kam Nevin bekannt vor. Er löste in ihm die gleichen Gefühle aus, wenn jemand, oder er selbst, von seinem Vater sprach. Als er dann noch ihr schweres Schlucken bemerkte, fasste er einen Entschluss.
»Ich fliege zu den Sturminseln. Ich brauche nur eine Zeichnung des Schlosses und den genauen Standort der geheimen Kammer. Ich nehme Milo mit, denn mit seiner Hilfe, sollte ich mich unbemerkt in die Burg reinschleichen können.«
»Nevin!«, schimpfte Jaro »Kannst du bitte endlich damit aufhören, dich ständig aufzuopfern und in gefährliche Aufgaben zu stürzen? Wir haben genug fähige Drachen und Männer in der Singbucht, die diese Aufgabe für dich übernehmen können!«
»Warum sollten wir die Sicherheit unserer Leute für diese Urkunde gefährden?«, warf Odilia ein. »Die es vielleicht gar nicht gibt? Und eigentlich, sollte diese Hoheit hier selbst nach der Urkunde suchen. Wozu die Zeit verschwenden? Sie scheint zu ahnen, wo sie sein könnte. Also sollte sie gehen.«
Nevin stand so heftig von seinem Stuhl auf, dass er nach hinten umkippte »Auf gar keinen Fall! Ihr Vater sucht nach ihr! Er steckt mit Demian unter einer Decke, wir können nicht ihre Sicherheit riskieren!«
Wie vom Blitz getroffen saß Odilia da und selbst Jaro warf ihm erstaunte Blicke zu. Nevin erhob nur selten seine Stimme.
»Alleine, komme ich nicht auf die Insel. Ohne Hilfe, sinnlos. Bringt mich hier raus, ich ziehe weiter.« Elyon entfernte sich vom Tisch und wandte sich gerade dem Ausgang zu, als Dilek hereingestürzt kam.
»Nevin! Adlerstal steht unter Angriff!«
»Was?!«, rief Nevin.
»Naias hat einen Falken geschickt. Demian ist in Adlerstal, mit 20 Drachen. Er hat Lenius, Naias und die anderen Bediensteten als Geisel genommen«, berichtete Dilek und rang nach Atem.
Die Worte trafen Nevin wie ein Schlag ins Gesicht. Er war unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen. Gerade als er seine Hand dazu bringen wollte, nach dem Brief zu greifen, den Dilek immer noch hielt, als ihm wieder das Bild von dem Tag am Strand erschien. Als er endlich Prinzessin Elyon gefunden hatte. Er sah wieder den Drachen vor sich, mit seinen hektischen Blicken.
»Verdammt!«, zischte er und hastete aus dem Zimmer.
»Nevin! Warte! Was hast du vor?«, rief Dilek und gefolgt von einem Chor aus lauten Schritten, kamen alle aus dem Zimmer herausgestürzt und folgten Nevin über den Strand in Richtung Waffenkammer.
»Ich fliege sofort hin. Wie viele Drachen können wir entbehren? Hat Naias was zu Demians Drachen geschrieben? Graue oder Weiße? Wie groß?«, bellte Nevin.
»Nein. Die Nachricht war zu kurz«, sagte Dilek. »Zehn Drachen müssen noch zurückkehren. Die meisten sind ausgelaugt und müssen sich ausruhen. Uns zwei mit eingerechnet, hätten wir sieben kampfbereite Drachen.«
»Was ist mit den sechs Drachen, die in Adlerstal leben?«
»Das weiß ich nicht.«
Nevins Hände zitterten. Verzehrt von Furcht und Wut zugleich, ging er mit brennender Brust auf das Waffenlager zu. Da stellte sich ihm eine kleine Gestalt in den Weg. Dunkle Augen starrten ihn mit so viel Entschlossenheit an, dass er mitten in seinen Schritten erfror.
»Ich komme mit!«, verkündete Elyon.
Nevin starrte sie verwirrt an. Eben noch, hatte sie sich vor Tessa gefürchtet. Und jetzt wollte sie demjenigen begegnen, der ihr so viele Qualen bereitet hatte? Sie fast zu Tode vergiftet hatte?
»Nein. Auf gar keinen Fall. Es ist zu gefährlich! Demian soll dich nie wieder zu Gesicht bekommen.« Er wollte an ihr vorbei ins Lager gehen, doch sie packte seinen Oberarm und mit mehr Kraft, als er ihr jemals zugetraut hätte, zog sie ihn wieder zurück und feixte ihn an.
»Lenius«, begann sie langsam, »hat mein Leben gerettet. Jetzt werde ich ihn retten. Keine Diskussion. Ich komme mit. Ich brauche Waffen. Schnell!«
Nevin schluckte schwer. Er wusste, dass Elyon nur selten richtig sprach. Wenn es ernst war. Und, wenn sie ihre Autorität als Prinzessin ausübte. Seufzend rieb er sich die Stirn und ihm kam wieder, wen er da vor sich stehen hatte. Das Mädchen hatte Gefahren getrotzt, die seinen eigenen in Nichts nachstanden.
»Gut. Von mir aus. Folge mir.«
»Wartet auf uns! Wir kommen auch mit!«, rief Aiven.
Sofort suchte Nevin nach Tessa, die gleich hinter Aiven stand. Sie hatte die Lippen zu einem dünnen Strich gepresst, doch auch ihr Blick glimmte genau so entschlossen wie Elyons.
»Ich kann mit ihm reden. Vielleicht können wir eine friedliche Lösung finden«, sagte Tessa.
Nevin nickte und bedeutete ihnen, ihm in die Höhle zu folgen, wo die Luft gefüllt war vom Duft der Drachenknochen, aus denen die Waffen bestanden, die an den Wänden hingen und auf den Regalen ruhten. Jedes Mal bildete sich ein Knoten in seinem Hals, wenn er den Geruch vernahm und die Waffen sah. Doch sie hatten keine Wahl. Nur Feuervögel- und Drachenknochen konnten den verfluchten Gestalten etwas anhaben.