Als sie wieder zu sich kam, war der Drache verschwunden. Der kalte Wind zog heftig an ihrer Kleidung, während sie in die Tiefe stürzte. Direkt auf die Baumkronen des Waldes zu. Ein Hitzestrahl strömte durch ihren Körper. Ein Pochen breitete sich von ihrem Oberarm aus und überfiel ihren ganzen Körper. Gleichzeitig zogen sich ihre Glieder so heftig auseinander, dass ihr schwindelig vor Schmerz wurde. Ein reißendes Geräusch streifte ihre Ohren. Dann ein lauter Krach. Brechende Äste, raschelnde Blätter. Dumpf fühlte sich das Kratzen und die Schläge der Äste gegen ihren Körper an. Dann traf sie auf den Boden auf. Die Wucht raubte ihr für einen Augenblick den Atem. Japsend saugte sie Luft ein. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, drehte sich alles in ihrem Kopf.
»Alina!« Sie erkannte Aivens Stimme und riss die Augen auf.
Für eine Sekunde war alles schwarz. Blinkende Lichtpunkte tanzten vor ihr. Sie kniff die Lider zusammen und atmete tief ein. Als sie ihre Augen zum weiten Mal öffnete, war alles wieder scharf. Zu scharf. Sie konnte jeden einzelnen Baum, jedes einzelne Blatt sehen. Die kleinen Käfer, die auf dem Boden krabbelten. Eine Eule, die versteckt zwischen den Blättern, auf einem Ast saß. Als wäre es Tag. Und dann drangen die Geräusche in sie ein. Das Rauschen des Windes, das Tappen von Tierpfoten auf den Baumstämmen, das Rascheln im Unterholz, die Rufe der Nachtvögel. Es machte sie wahnsinnig. Sie musste hier fort.
Ächzend versuchte Alina sich aufzurichten. Doch ihr Körper war so schwer, dass es sie gleich wieder zu Boden warf. Nur ihre Ohren zuckten, als Füße im Unterholz auf trockenen Ästen trafen. Sie drehte ihren Kopf vorsichtig nach links.
Tessa und Aiven standen mit weit aufgerissenen Augen vor ihr. Ein banges Gefühl stieg in ihr hinauf.
Wie schlimm waren ihre Verletzungen? Alina versuchte, an sich hinunterzusehen, doch sie fand ihren Körper nicht. Es fühlte sich an, als läge er hinter ihr. Erneut versuchte sie sich hochzustemmen. Ihr Körper wandte sich und fühlte sich lang an. Sie konnte nicht einordnen, wo ihre Beine und Arme waren. Sie streckte ihren Hals. Der Boden war viel weiter weg als sonst.
»Aiven, kannst du mir aufhelfen? Mein Körper fühlt sich so schwer an«, wollte Alina sagen, doch aus ihrem Mund kam nur ein Japsen heraus. Sie sprang hoch und ihr eigenes Gewicht brachte sie wieder zu Fall. Hinter ihr lag ein langer, grauer, mit Fell bedeckter Körper. An den Seiten ragten vier Beine mit großen Pfoten und langen Krallen heraus. Ein langer Schweif, wie der einer Eidechse, zuckte hin und her.
Ein Drache. Alina sprang zur Seite. Der Körper folgte ihr. Sie drehte sich um die eigene Achse. Ein, zwei, drei Mal. Sie wollte sich wieder aufrichten, doch es war ihr eigener Körper, der sie immer wieder herunterriss. Sie war der Drache.
Ihr Herz bebte, alle Viere zitterten, während Alina darum kämpfte sich aufrecht zu halten. Aiven schritt vorsichtig auf sie zu. Winselnd senkte sie ihren Kopf auf seine Höhe.
»Alina?«, flüsterte er.
Sie drückte ihre Schnauze gegen seine Brust. Seine zitternde Hand legte sich auf ihren Kopf. Nicht weit von ihnen stand Tessa. In einer Hand hielt sie eine Fackel, mit der anderen hob sie etwas vom Boden auf. Alinas zerrissene Kleidung.
»Wie konnte das passieren? War es der Biss?« Tessas Stimme zitterte.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Aiven und löste sich von ihr, nur seine Hand blieb auf ihrer Schnauze. Schweigend starrten sich die drei an. Alina öffnete immer wieder ihr Maul, doch sie konnte nichts außer einem Winseln hervorbringen.
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»Wir müssen zurück«, sagte Aiven schließlich. »Das kann nicht normal sein. Das ist doch total verrückt! Wir brauchen die Wächter. Die können das sicher erklären und irgendwie lösen.«
»Wie sollen wir sie hochkriegen? Sie kann kaum stehen.«
»Drachen können fliegen. Alina, versuch es!« Aiven klopfte auf ihren Nacken.
Doch Alina konnte nur den Kopf schütteln.
»Wo ist Aya?«, fragte Tessa und holte die zwei anderen Vögel, die fauchend hinter einem Baum standen. »Kannst du sie reiten und Hilfe holen? Sie ist die Schnellste.«
»Ich kann Alina nicht zurücklassen. Flieg du sie.« Aiven rückte dichter an seine Schwester heran.
»Nein. Aya hat nie jemanden anderen reiten lassen außer euch beide. Du musst Hilfe holen. Schnell.« Tessa band die zwei wütenden Feuervögel an eine Birke.
Aiven seufzte schwer, dann drückte er seinen Kopf gegen Alinas.
»Ich versuche, mich zu beeilen. Hilfe kommt, mach dir keine Sorgen. Alles wird wieder gut. Du wirst schon sehen.« Aivens Stimme zitterte, worauf Alina winselte.
Aiven trabte davon und keine Minute später schoss ein Schatten über ihnen am Himmel vorbei. Tessa stand mit dem Rücken zu ihr, mit einer Hand an den Baumstamm gelehnt. Sie formte ihre Hand zu einer Faust und schlug gegen den Stamm. Obwohl sie es leise machte, konnten Alinas Drachenohren dennoch ihr ersticktes Stöhnen hören.
Alina versuchte auf ihre Cousine zuzugehen, doch ihre Beine knickten ein und sie lag winselnd auf dem Boden. Tessa drehte sich um, hastete zu ihr und schlang ihre Arme um Alinas Hals.
–
Aiven kam zurück mit fünf Wächtern, zwei davon gehörten zu den Befehlshabern, erkennbar an ihren goldenen Röcken. Unter den Wächtern befand sich auch ein Mann der einen langen, rostbraunen Umhang auf seinen Schultern trug. Ein Landeswächter, einer der führenden Hauptmänner in Höhental. Er trat als erster nach vorne.
»Ist das deine Schwester? Alina?«, fragte der Landeswächter.
»Ja. Sie wurde von einem Drachen gebissen«, erklärte Aiven atemlos und stellte sich zu Alina.
»Hier ist ihre Kleidung, als Beweis«, sagte Tessa und hielt ihm die Stofffetzen hin.
Der Landeswächter nickte traurig, dann wandte er sich an die Wächter hinter ihm. »Zieht eure Waffen.«
Alina wich stolpernd zurück und beobachtete entsetzt, wie drei Wächter bedächtig auf sie zu schritten, Schwertspitzen auf sie gerichtet.
»Wartet!« Aiven stellte sich vor ihr hin, die Arme weit ausgebreitet. Tessa stellte sich dazu. »Das ist meine Schwester!«
»Es tut uns leid. Wir glauben euch. Aber wir haben strikte Anordnungen. Alle Drachen müssen getötet werden«, erklärte der alte Landeswächter.
»Was? Das ist meine Schwester! Sie ist ein Mensch, genauso wie wir!«
»Ist das nicht schon einmal geschehen? Gibt es kein Gegenmittel?«, fragte Tessa panisch.
»Es passiert immer. Alle Drachen waren früher mal Menschen. Und es gibt keine Heilung. Wenn sie sich einmal in ein Tier verwandelt haben, verlieren sie immer mehr ihr Bewusstsein und greifen Menschen an. Wir müssen sie ausrotten«, erklärte der Landeswächter.
Tessa und Aiven standen eingefroren vor ihr da. Sie bemerkten den Wächter im Hintergrund gar nicht, der leise einen Pfeil auf seine Bogensehne legte.
»Was?«, hauchte Tessa aus. »Alle Drachen? Sie sind Menschen?«
Aiven wachte aus seiner Starre aus und ballte seine zitternden Hände. »Soll das heißen wir bringen Menschen um?«
»Es sind Drachen, junger Lehrling. In ein paar Stunden wird sie vergessen haben, wer sie ist. Und wer du bist. Sie wird nichts weiter als ein wildes Tier sein«, sagte der alte Mann streng und schüttelte den Kopf.
»Alina! Lauf!«, schrie Aiven.
Ein Pfeil schoss auf sie zu. Tessa zog ihr Schwert. Alina sprang zur Seite. Der Pfeil landete im Gras.
»Alina! Lauf! Lauf weg!«, brüllte Aiven und kreuzte seine Klinge mit einem der angreifenden Wächter. Tessa stürzte sich auf den zweiten.
Alina winselte. Sie konnte die beiden nicht zurücklassen. Doch nun zog auch der Landeswächter sein Schwert und stapfte an den kämpfenden Wächtern vorbei.
Mit ganzer Kraft stellte sie ihre Beine auf, wandte sich um und galoppierte davon.