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16.2 Nevins Glück

Als sie sich der Küste näherten, gerieten sie in einen heftigen Regenschauer. Nevin wollte gerade durch die Wolken brechen, um für Aiven dem Regen zu entgehen, als Dilek nach ihm rief.

»Nevin! Links von uns!«

Ein kleiner, weißer Drache näherte sich. Es war Milo, der direkt auf sie zusteuerte.

»Nevin! Dilek! Gut das ich euch treffe!«

Milo war der einzige Drache aus der Singbucht, den sie alleine auf Patrouille schickten, da er sich Dank seiner Tarnfähigkeiten unsichtbar machen konnte.

Nevin und Dilek hielten an und ließen Milo zu Atem kommen, ehe sie ihn auf seine Nachrichten drängten.

»Du siehst abgehetzt aus. Ist etwas passiert?«, fragte Nevin.

»Ich habe Drachen entdeckt«, keuchte Milo. »Nicht weit von hier im Wald. Ich hab sie beschattet, da sie zu nahe an der Singbucht sind. Es sind sechs an der Zahl. Zwei weiße Drachen. Unter den grauen konnte ich einen weiblichen Drachen riechen. Und sie haben ein lebloses Mädchen bei sich.«

Nevin hörte, wie Aiven nach Luft schnappte.

»Führ uns zu ihnen«, sagte Nevin und folgte dem kleinen Drachen die Küste hinauf.

Schon bald kamen die Drachen in Sicht. Statt im Wald zu sein, hatten sie sich am Strand versammelt. Der erste, der sie entdeckte, war der Größte unter ihnen. Ein weißer Drache, fast so groß wie Nevin selbst. Dieser bleckte sofort die Zähne, während sie mit einem guten Abstand zu der unbekannten Gruppe im nassen Sand landeten.

Statt etwas zu sagen, duckte Nevin sich und zog seine Flügel ein, als Zeichen, dass er keine gefährlichen Absichten hatte. Der weiße Drache lockerte sein Maul, doch sein Blick blieb misstrauisch.

Unter ihm kauerte ein kleiner, weißer Drache in sich zusammen. Ein Stich fuhr durch Nevins Brust. Ein Kind. Sie hatten in der Singbucht fünf davon, die ebenfalls vom Fluch befallen waren.

Neben dem Großen, stand ein grauer Drache, der Nevin mit großen Augen anstarrte. Langsam wanderte sein Blick von Nevins Flügeln zu seinem Kopf, dann riss der Graue seine Augen noch weiter auf.

»Alina«, wisperte Aiven. »Alina!«

Aiven kletterte Nevins Hals hinunter, so schnell, dass Nevin zu spät daran dachte, seinen Kopf zu beugen. Aiven landete bereits im Sand und rannte los. Der graue Drache japste und lief ihm entgegen, hinter ihm wirbelten nasse Sandbrocken in die Höhe.

Niemand bewegte sich. Niemand sagte etwas, als der junge Mann und der Drache aufeinander trafen. Aiven schlang die Arme um den Kopf des Drachens.

Von der Seite konnte er ein Schluchzen hören. Es war Tessa. Sie hielt die Hände vor ihrem Mund. Erst jetzt begriff Nevin tatsächlich, dass Aiven seine Schwester gefunden hatte. Nevin atmete erleichtert auf.

»Dilek«, wisperte Nevin. Sein Freund war noch vollkommen erstarrt. Er musste Dilek ein zweites Mal ansprechen, da löste er sich endlich von seiner Starre und legte sich auf den Sand hin. Tessa sprang ab und schritt vorsichtig auf ihre Verwandten zu.

Nevin lächelte und seine Brust wurde etwas leichter. Wenigstens etwas, das heute ein gutes Ende gefunden hatte.

Alina hob ihren Kopf und fiepste leise, als sie Tessa bemerkte. Ihre Cousine blieb stehen, als wäre sie unsicher, ob sie näher kommen durfte. Doch dann winkte Aiven sie zu sich und Tessa rannte auf die beiden zu, um Alinas Hals mit ihren Armen zu umschlingen. Nevin erlaubte es sich, das freudige Wiedersehen noch ein paar Momente zu beobachten, um sein Herz zu erwärmen. Dann richtete er die Augen auf die restliche Bande. Alle Drachen, die auf der anderen Seite standen, waren völlig von der Szene vor ihnen gefangen. Selbst der kleine Drache beobachtete alles mit offenem Maul.

Wo vorher Aivens Schwester gestanden hatte, war nun der Blick frei auf einen regungslosen Menschen, der im nassen Sand lag. Nevin streckte den Hals, um das Gesicht besser sehen zu können.

Eine kleiner, zierlicher Körper. Das Gesicht war blutleer, bis auf die dunklen Schatten die auf den Augen lagen. Zunächst dachte Nevin, es sei ein Kind. Dann packte ihn ein eisiges Gefühl im Magen. Nein. Sie war kein Kind. Er würde die Nase überall erkennen. Die gleiche Nase, die auch ihr Vater besaß.

Nevin öffnete seine Flügel und mit einem riesigen Satz, landeten seine Pfoten um den Körper der Prinzessin. Mit angehaltenem Atem starrte er auf sie herab. Ihre Brust hob und senkte sich leicht. Ein widerlicher Gestank drang durch den nassen Regenduft. Knurrend hob er den Kopf.

»Was habt ihr der Prinzessin angetan?«, brüllte er.

Der weiße Drache baute sich grollend vor ihm auf. »Zieh dich sofort zurück!«

Die Luft vibrierte durch das laute Knurren, das nun aus den Kehlen aller Drachen rollte. Nur der kleinste Drache, der sich hinter dem Großen versteckte, und Aivens Schwester schwiegen. Diese löste sich erschrocken von ihren Verwandten und lief auf Nevin zu. Mit einem lauten Winseln versuchte sie zu der Prinzessin zu gelangen, doch Nevin streckte ihr jedesmal seinen Kopf entgegen und bleckte sie mit seinen geifernden Zähnen an.

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»Warte, warte, warte! Alina will sie nur beschützen! Du machst ihr Angst!«, rief Aiven, der sich gerade neben seine Schwester stellte.

»Warum habt ihr sie? Was habt ihr der Prinzessin angetan?«, brüllte Nevin. Statt eine Antwort zu geben, winselte Alina nur.

»Von ihr wirst du keine Antworten bekommen. Sie kann in ihrer Drachenform nicht sprechen«, knurrte der große Drache vor ihm. »Wenn du keine bösen Absichten hast, ziehst du dich sofort von dem Mädchen zurück.«

Die letzten Tage hatten ihn so aufgerieben, dass seine Anspannung, Verzweiflung und Wut fast seinen Verstand vernebelten. Er atmete tief ein. Legte seine Gefühle zur Seite. Und obwohl seine Brut noch brannte, hörte er auf zu Knurren und entspannte sein Maul. Alina starrte ihn immer noch verängstigt an. Vielleicht waren sie nicht Schuld an dem Zustand der Prinzessin. Er sollte versuchen, eine Erklärung zu bekommen. Also ging er einen Schritt zur Seite. Sofort stürzte sich Alina auf das schlafende Mädchen und beschnupperte sie.

»Ich habe schon seit über einer Woche nach Prinzessin Elyon suchen lassen. Wie kommt es, dass sie bei euch ist und das auch noch ohnmächtig?«, fragte Nevin, so ruhig wie möglich, auch wenn sein Herzschlag in der Kehle bebte.

»Warum sollten wir dir irgendwelche Antworten geben? Du weißt, wer sie ist, obwohl sie ihre Identität verbergen wollte. Was hast du mit ihr zu tun?«, fragte der große Drache. Die blauen Augen ließen keinen Augenblick von Nevin ab.

Am liebsten hätte Nevin sofort seine Identität preisgegeben und dem fremden Drachen befohlen, ihm alles zu erzählen. Doch das war zu riskant. Und er spürte Dileks Gegenwart. Der breite Drache stand direkt neben ihm. Dieser würde Nevin den Kopf abreißen, sollte er zu viel verraten.

»Unsere Familien sind eng miteinander verbunden. Sobald ich erfahren hatte, dass sie von den Sturminseln geflohen ist, begannen wir zu suchen. Ich will ihr Schutz anbieten. Schutz vor dem Kaiser und dem neuen König von Siegenshafen.«

Die blauen Augen zuckten erschrocken, als er Demian erwähnte. Sämtliches Knurren klang ab.

Nur ein leises Winseln war zu hören, das wieder von Alina kam. Sie presste die Augenlider zusammen, als würde sie unter furchtbaren Schmerzen leiden.

Nevins Fell stellte sich auf. Was um alles und der Welt war geschehen?

»Ich bin zusammen mit Alina und der Prinzessin aus Siegenshafen geflohen.« Die Stimme des weißen Drachens war so leise, dass Nevin sie fast überhört hätte.

»Die Prinzessin war in Siegenshafen?«, fragte er ungläubig.

Der blauäugige Drache nickte. »Ja. Der König ist schuld an ihrem Zustand.«

»Was hat sie?«, fragte Nevin.

»Wir wissen es nicht genau. Ihre Verletzungen hat sie von dem Urdrachen bekommen.«

Das Wort traf ihn wie eine Faust im Magen und raubte ihm die Stimme.

»Hast du gerade Urdrache gesagt?«, fragte Dilek atemlos.

»Ja«, sagte er mit einem müden Seufzen. »Ein riesiges Ungeheuer, das in einer Höhle auf einer Insel lebt, nicht weit von Siegenshafen.«

Nevin schüttelte fassungslos den Kopf. Das war unmöglich. Es konnte nicht sein. Der Urdrache sollte schon längst tot sein. Sonst wäre er an die 600 Jahre alt.

„Falls ihr mir nicht glaubt, beschnuppert sie ruhig." Der weiße Drache zeigte mit seiner Schnauze auf die Prinzessin, die vor ihm lag." Riecht ihr den Fluch? Als würde der Gestank schon seit Jahrzehnten faulen?"

Nevin beugte kurz runter, nur um seinen Kopf schnell wieder hochzuziehen. Der Gestank, der aus ihrem Körper strömte, war so widerlich, dass es ihm kurz die Sinne raubte.

Was auch immer die Prinzessin hatte, sie sah jetzt schon fast aus wie eine Leiche. Nevin durfte keine weitere Zeit verlieren.

»Sie braucht medizinische Behandlung. Ich kenne ein Dorf, nicht weit von hier, wo wir sie hinbringen können.« Nevin wollte sie mit einer seiner Pfoten nehmen, als Alina wieder laut winselte und sich schützend über die Prinzessin stellte.

»Alina, mach dir keine Sorgen. Nevin ist ein guter Kerl. Er hat uns hierher gebracht und bei unserer Suche nach dir uns jede Hilfe gewährt, die er hatte«, erklärte ihr Bruder und legte eine Hand auf ihrem Hals.

»Sie wird nirgendwo hingebracht. Nicht ohne uns. Entweder wir kommen alle mit, oder sie bleibt hier.« Die blauen Augen des Drachens glimmerten vor Wut.

Dilek knurrte und drängte sich weiter nach vorne, doch der weiße Drache zog sich nicht zurück.

Nevin hätte ihnen unter anderen Umständen sofort seinen Schutz angeboten. Doch sie hatten Verbindung mit König Demian. Und als er seinen Blick über die restlichen grauen Drachen schweifen ließ, die mit angelegten Ohren hinter ihrem Anführer standen, entdeckte er einen, der alles intensiv beobachtete. Seine Ohren zuckten bei jedem Geräusch. Seine Augen wanderten ruhelos in alle Richtungen. So als würde er versuchen, sich jede Einzelheit einzuprägen. Es jagte Nevin einen kalten Schauer über den Rücken. Er musste tief Luft holen, damit sein Fell sich nicht aufstellte.

Nevin konnte es sich nicht leisten, länger mit ihm zu diskutieren.

»Gut. Ich nehme euch alle mit. Unter einer Bedingung. Alina wird die Prinzessin fliegen. Niemand sonst. Und deine Männer werden sich verwandeln und die Augen zubinden. Sobald wir im Dorf sind, werde ich sie unter ständiger Aufsicht einquartieren, bis ich mir sicher bin, dass ich euch vertrauen kann.«

Der Drache kniff die blauen Augen zusammen und grollte. Da erklang ein hohes Fiepsen unter ihm. Der kleine Drache stand immer noch zwischen seinen Beinen und starrte seinen Beschützer mit riesigen Augen an.

»Lenius. Elyon braucht ganz dringend einen Arzt. Ganz schnell.«

»Gut«, seufzte Lenius. »Ich bin einverstanden. Doch wenn du meinen Männern auch nur ein Haar krümmst-«

Dilek zwängte sich zwischen ihnen und knurrte Lenius an.

»Wage es nicht, ihm zu drohen. Du bist nicht in der Lage, dich über uns zu erheben. Deinen Männern wird von unserer Seite nichts passieren, solange sie es nicht wagen, uns in Gefahr zu bringen.«

Lenius knurrte leise, dann wandte er sich ab und zog sich mit seinen Männern in den Wald zurück. Nur der kleine Drache blieb zurück und stellte sich neben Alina.

Mit bebender Kehle, betrachtete Nevin die Prinzessin beim Atmen. Er hatte sie gefunden. Wieder einmal, hatte er riesiges Glück gehabt. Dennoch konnte er nicht aufatmen. Nicht, solange sie nicht zurück in Adlerstal waren und Elyon keine ärztliche Hilfe hatte.