Sie gab den Tieren etwas mehr Zeit, um sich an ihre Gegenwart zu gewöhnen. Immer wieder hob eines der Riesenbüffel den Kopf, beobachtete sie, dann graste es weiter. Elyon ging an jedem Herdenmitglied vorbei, überprüfte, ob die Rinder durch ihre Annäherung nervös wurden, doch sie ließen sich durch ihr nicht von dem hohen Gras ablenken. Erst als sie an alle vorbeigelaufen war, kehrte Elyon zu dem großen Bullen zurück.
Er hob den Kopf, als sie sich näherte und kaute dabei unaufhörlich auf das lange Gras in seinem Maul herum. Sollte Elyon ihn zähmen und vielleicht sogar reiten können, würde seine ganze Herde ihnen folgen. Er war ihr wichtigstes Ziel. Leider auch das gefährlichste.
Zunächst stellte Elyon sich neben dem Koloss hin und kraulte vorsichtig seine linke Schulter. Er sah sich kurz nochmal nach ihr um, ehe er den Kopf senkte, um weiter zu grasen.
So regungslos wie möglich blieb sie an seiner Seite stehen, während Aufregung durch ihr Blut rauschte. Sie dachte nicht mehr an ihren Plan, an das was noch bevorstand, oder an den Urdrachen. Sie kostete den Augenblick aus, endlich die berühmten Tiere mit eigenen Händen anfassen zu können.
Nach einer Weile zog Elyon vorsichtig an seinem Fell. Einmal, dann noch einmal, doch etwas kräftiger. Der Bulle kümmerte sich nicht um sie. Durch das dicke Fell spürte er wahrscheinlich nicht viel von ihrem Zug. Als er sich beim dritten Mal immer noch nicht regte, hing sie sich mit ihrem ganzen Körpergewicht an seinem Fell.
Der Bulle hob den Kopf, zuckte mit den Ohren, und graste weiter. Elyon presste ihre Lippen zusammen und kletterte zu seinem Rücken hinauf. Ächzend setzte sie sich oben im Schneidersitz hin. Obwohl das Tier riesig war, war der Abstand zum Boden nicht so groß, wie sie erwartet hatte. Sie war es mittlerweile durch die Drachen gewöhnt, noch höher zu sitzen. Doch es war seltsam, so viel Fläche um sich herum zu haben. Elyon konnte sich sogar hinlegen und sich wenden, ohne von dem Tier herunterzufallen.
Erst jetzt bemerkte sie, dass der Büffel seinen Kopf seitlich zu ihr gewandt hatte und sie beobachtete. Da seine Ohren jedoch weiterhin die Fliegen um seinen Kopf wegklatschten, statt dass er sie nach hinten anlegte, machte Elyon sich keine Sorgen.
Vorsichtig kroch sie bis zum Widerrist des Riesenbüffels und kraulte seinen Hals, während sie gleichzeitig prüfte, ob er muskulös genug war, um ihr Gewicht tragen zu können. Dabei tauchten die Worte in ihren Gedanken auf, die Nevin von Aik gehört hatte: Gabe der Tiere, Gestaltwandlerin.
Wie mit vielen anderen Tieren auch, bildete sich in Elyon ein sanftes Gefühl, das sie schon öfters gespürt hatte. Als würde sich etwas in ihr mit dem Riesenbüffel verbinden. Elyon hatte noch nie bisher noch nie sehr darauf geachtet, doch dieses Mal schien dieses Gefühl deutlicher zu sein. Als wollten ihre Hände sich nicht mehr von dem riesigen Tier lösen.
So weit von dem Boden entfernt, fühlte es sich an, als wäre das Tier eine undurchdringbare Rüstung. Als könnte ihr niemand mehr etwas anhaben. Für einen kurzen Augenblick ließ Elyon das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit ihren Körper und ihre Gedanken einnehmen. Sie atmete die nach Gras und Wolle riechende Luft ein. Doch es hielt nicht lange an. Schon bald drängten sich ihre Sorgen wieder in ihren Kopf hinein. Höhental, der Kaiser, der Urdrache.
Elyon durfte keine Zeit mehr verlieren. Sie musste es irgendwie schaffen, den Büffel zu zähmen und ihn in Richtung Höhental zu bewegen. Ihre erste Idee war es, mit etwas Schnur eine Art Angel zu basteln, an der sie ein Apfel band, um den Büffel dazu zu verlocken, sich zu bewegen. Aber eine andere Idee schoss wie ein Blitz durch ihre Gedanken. Was, wenn sie nicht nur über die Drachen befehlen konnte, sondern auch über Tiere, die sie gezähmt hatte? Ohne sie vorher lange abrichten zu müssen? Sie hatte anscheinend, wenn sie Aik glauben konnte, irgendeine Gabe in dieser Richtung.
Elyon krabbelte vor zu seinem Kopf, wo sie sich an dem Fell zwischen seinen Ohren festhielt. Der Riesenbüffel schüttelte leicht seinen Kopf, als wollte er sicherstellen, dass sie tatsächlich auf seinem Kopf saß.
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»Laufen?«, flüsterte Elyon. Der Bulle hielt inne und stellte seine Ohren leicht hoch, als würde er aufmerksam zuhören, doch er bewegte sich nicht. Ihre Wangen röteten sich, nachdem sie eine Weile nur still dastanden und gab die gescheiterte Idee schnell wieder auf. Er war kein Drache, die ursprünglich Menschen waren und durch den Fluch mit ihrer Familie verbunden waren. Es war besser wieder herunterzuklettern und den Versuch mit den Äpfeln zu wagen.
Da röhrte der Bulle. Schnell legte Elyon die Hände auf ihren Ohren, trotzdem wurde ihr ganzer Körper von dem Schallpegel erschüttert. Schmerzen prickelten in ihrer Brust und ihr wurde schwindelig. Der Büffel verstummte und sie löste langsam die Hände von ihren Ohren, während ihr Körper immer noch durch Schmerzen kribbelte.
Alle Büffel hoben ihre Köpfe, dann machte der Bulle einen Satz vorwärts und Elyon wurde nach vorne geschleudert. Sie packte noch rechtzeitig nach seinem Stirnfell und hing über seiner Stirn.
Der Riesenbüffel preschte durch die Herde und galoppierte auf die freie Steppe zu, seine Hufen donnerten auf dem Boden. Elyons Beine wurden umhergeschleudert, sodass sie zunächst keinen Halt finden konnte. Mit zusammengebissenen Zähnen stählte sie ihre Arme und zog sich hoch, zurück Richtung Nacken. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie ihre Hände in das Fell hineingrub, so tief wie möglich. Sie konnte auf seinen breiten Kopf nicht aufsitzen, sie musste sich hinknien, mit den Beinen so weit voneinander wie möglich, um ihr Gleichgewicht zu behalten.
Das Donnern wurde lauter, als die Herde ihnen hinterher galoppierte. Elyon hatte noch nie so laute Hufschläge gehört. Die ganze Welt schien durch die kräftigen Beine zu erschüttern zu werden.
Die Schritte des Bullen wurden immer weiter, die Landschaft raste immer schneller an ihnen vorbei. Vögel und Kleintiere schreckten in der Ferne auf und suchten das Weite, obwohl die Herde noch unzählige Laufschritte entfernt war.
Elyons Puls bebte in ihrem ganzen Körper, während sie sich eisern an den riesigen Kopf festhielt. Hatte sich der Riesenbüffel wegen ihrem Befehl bewegt? Oder war es etwas anderes? Mit feuchten Händen versuchte sie den Mut aufzubringen, einen weiteren Befehl zu geben. Doch die Größe des Tieres und der machtvolle Galopp flößten ihr zu viel Respekt ein, um mehr als ein leises Wispern von sich zu geben.
»Links.«
Der Bulle schwenkte nach link und Elyon klappte den Mund auf. Ihr Griff lockerte sich aus lauter Überraschung, doch sie kam schnell zu sich und packte fester nach dem braunen Fell. Elyon wagte es dem Koloss einen weiteren Richtungswechsel zu geben, dieses Mal nach rechts. Und der Bulle folgte.
Erst jetzt, als ihr rasender Puls nicht mehr vor Schreck, sondern vor Freude pochte, achtete sie wieder auf ihr eigenes Körpergefühl und es schien, als wäre die Verbindung zwischen ihrem Körper und dem Bullen noch enger. Als würden langsam Gefühle und Gedanken in Elyon hinein fließen, die nicht nur ihre waren. Weite, Kraft, Mut, Freude.
Einige der Tiere hinter ihnen blökten und der Bulle antwortete ihnen, doch dieses Mal nicht so laut, dass ihr Körper schmerzte.
Ein paar kahle Bäume tauchten zu ihrer linken auf und Elyon entdeckte einen Steppenfuchs, der gerade auf einem Felsen schlief. Von Neugier getrieben, beugte sie sich vor, um das Tier, das sie ebenfalls noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte, besser zu betrachten.
Da machte der Bulle wieder einen Satz nach links, direkt auf den Steppenfuchs zu. Elyon starrte auf ihn hinab und vergaß völlig das kleine Tier auf dem Stein. War der Bulle gerade ihren Gedanken gefolgt? Sie probierte es erneut. Doch nichts geschah. Er lief nur weiterhin gerade aus. Elyon horchte in sich hinein, suchte nach dem Verbindungsgefühl. Es war viel schwächer als vorhin.
Elyon holte tief Luft, legte ihren Körper tiefer, sodass ihr Kopf knapp über die Stirn des Büffels war, schloss die Augen und achtete nur noch auf das Kopfwippen des kolossalen Tieres. Horchte auf seine donnernden Schritte, fühlte nach seinem Puls, den sie unter ihren Knien spürte.
Dann starrte sie auf den rostroten Gürtel am Horizont, östlich von ihnen. Es war das Hochgebiet von Höhental. Elyons Herz donnerte, während sie auf eine Reaktion des Büffels wartete und unbeirrt auf das ihr unbekannte Land starrte. Der Bulle änderte seine Richtung und preschte direkt auf das östliche Land zu.
Begeisterung schwoll in Elyon auf und ein Lachen brach aus ihr heraus. Sie konnte es nicht glauben. Der Büffel hatte tatsächlich auf ihre Gedanken gehört. War das diese Gabe? Elyon konnte es kaum abwarten, ihre Beobachtungen schriftlich festzuhalten und weitere Versuche zu führen.
Lächelnd fiel ihr Blick zurück auf die Schluchten. Ein saures Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Höhental. Ihr nächstes Ziel. Nevin und die anderen warteten bereits auf sie.
Ihre Freude löste sich auf und Elyon fühlte mit engem Hals wieder nach der Verbindung zu dem Tier. Sie stellte sich vor, wie er langsamer wurde und tatsächlich ging sein Galopp in ein Traben über, bis sie ihn schließlich zur Umkehr brachte. Zurück Richtung Fluss. Zurück zu Nevin und den anderen.