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33.1 Elyons Risiko

Dunkelheit verschluckte Elyon, sobald sie den Schlund des Urdrachens erreichte. Eine betäubende Gestankswolke wehte ihr entgegen. Die Schwaden waren so dicht, dass ihr Magen sich zusammenzog.

Elyon stählte ihre Arme und stach mit beiden Schwertern, die sie jeweils in einer Hand hielt, in den Rachen des Urdrachens. Doch die Klingen fanden keinen Halt. Sie schnitten durch den Membran, als wäre er Butter. Elyon fiel, raste bald in eine noch tiefere Dunkelheit hinein.

Ihre Finger brannten und Elyon hielt es kaum noch aus, sich an den Schwertgriffen festzuhalten. Dann blieben die Klingen stecken. Das Anhalten war so abrupt, es riss Elyon fast die Arme von der Schulter. Sie brüllte vor Schmerzen, doch ihr Griff ließ nicht nach. Eine Kraft strömte in ihre Arme, als hätte sie plötzlich an Muskeln gewonnen.

Mit bebendem Herzen hing sie leicht schaukelnd an ihren Klingen. Um sie herum, nichts als Dunkelheit, Rauschen, Gluckern. Die Luft stank fürchterlich und war so stickig, dass es eine Qual war, sie einzuatmen.

Mit Gewalt zwang Elyon ihre Lungen tief Luft zu holen und hustete, als der faulige Geruch sich in den Nasenhöhlen und Mundraum ausbreitete. Sie hatte sich etwas Pfefferminzöl an ihren Schal gerieben, doch es half kaum. Elyon zwang sich weiter durch den Mund tief ein- und auszuatmen, auch weil sie dadurch mehr Kraft in ihre Arme pumpen konnte.

Sie hatte keine Ahnung, was sie hier drin erwartete. Hatte keine Ahnung, wie genau sie den Mann finden konnte, den sie töten musste. Elyon hatte sich in den Schlund gestürzt, weil sie wusste, dass König Elyon der Erste irgendwo hier lauerte. Und sie musste ihn loswerden. So schnell wie möglich.

Elyon starrte hinab. Sollte sie sich einfach fallen lassen? Doch wie tief würde sie fallen? Würde sie auf etwas Weiches fallen?

Sie schloss die Augen. Atmete wieder tief ein und aus. Versuchte den Gestank um sie herum zu ignorieren, auch wenn ihr Magen sich unzählige Male verknotete.

So würde sie es nicht schaffen. Sie musste das tun, was ein Wolf tun würde. Beobachten, entscheiden, überleben. Wie tief war sie gefallen? In ihrem Kopf stellte sie sich den Hals vor und dachte über den Fall nach. Vermutlich war sie ungefähr in der Mitte des Halses. Wenn der Urdrache genauso aufgebaut war, wie alle anderen Drachen, dann führte die Speiseröhre direkt in den Membransack, wo König Elyons Körper sich befand. Vielleicht.

Sie überlegte, die Wände der Speiseröhre wie eine Rutsche zu verwenden, auch wenn sie viel zu steil lag. Doch dann blitzten Erinnerungen in Elyon auf. Krallen an ihren Fingern. Leuchtende Augen. Ihre Gabe.

Sie starrte der Finsternis unter ihr entgegen. Ihre Arme begannen zu zittern. Lange würde sie nicht mehr hier hängen können.

Elyon stellte sich ihre Wolfsfamilie vor, wie sie sicher durch die Nacht im Wald streiften. Die Eule, die sie einmal großgezogen hatte und niemals ihre Beute verpasste, egal wie dunkel es war. Den Waldlöwen, gegen den sie einmal mit ihren Wölfen gekämpft hatte, als Sturmwolken den Mond völlig bedeckt hatten.

Ihre Augen wärmten sich auf, dann sah Elyon sie. Die Erweiterung der Speiseröhre. Nichts sehr scharf, aber es war ein Anfang. Sie konnte ihr Ende selbst mit der schärferen Sicht nicht entdecken. Doch vielleicht brauchte Elyon diese erstmal nicht. Jetzt konnte sie nämlich die Knubbel der Wand vor ihr sehen und setzte ihre Füße auf einem ab. Es gab ihr nicht besonders viel Halt, doch sie wusste nun, wo sie ihre Klingen hineinstecken konnte.

Sie löste ein Schwert und steckte es knapp über eine größere Wucherung, dann zog sie mit dem zweiten nach, suchte mit dem Fuß nach dem nächsten Knoten und kletterte so langsam den Hals hinunter. Zwischendurch wurde es in der Röhre heller, als würden sich am Hals für eine kurze Zeit Löcher auftun.

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Endlich neigte sich die Speiseröhre, sodass Elyon den Rest des Wegs hinunterrutschte. Es war glitschig und warm. Bald klebte die Kleidung auf ihrer Haut und Elyon fürchtete, dass der abartige Gestank nun auch an ihr hing.

Unten angekommen, kämpfte sie sich hoch auf ihre Füße und musste sich breitbeinig hinstellen, da der Boden so weich war, dass er ständig nachgab.

Sie blinzelte, um ihre Sicht zu schärfen. Der Tunnel verzweigte sich, einmal in einen der leicht nach oben führte und einmal nach unten. Sie wagte es kurz mit der Nase, statt dem Mund einzuatmen. Der abartige Gestank kam eindeutig aus dem unteren Tunnel und als etwas Dunkles aus ihm heraus gurgelte, lief sie schnell zu dem höheren Gang. Ein leises Rauschen und kühle Luft kamen ihr entgegen.

Je weiter Elyon in den Gang hinein lief, desto weniger konnte sie sehen, egal wie sehr sie sich darum bemühte, auf ihre Gabe zurückzugreifen.

Elyon tastete die Wand neben ihr ab. Glitschig, aber irgendwie rau. Als sie den nächsten Schritt tat, landete sie mit dem Stiefel in etwas Nasses. Sie hielt sofort an. Ein Zittern überfiel ihre Beine. Was war das? Sie hörte ein leises Wasserschwappen und ihr Herz schien für einen Augenblick stillzustehen.

Nein. Nicht Wasser. Bloß kein Wasser. Es reichte, dass es stockfinster war, dass der Gestank durchgehend ihren flauen Magen quälte. Bloß kein Wasser.

Elyon keuchte und zwang sich noch einen Schritt zu tun, dann noch einen. Doch ihre Stiefel landeten immer wieder in etwas Flüssiges. Es hörte nicht mehr auf. Langsam stieg das Wasser. Es reichte ihr bereits zu den Knöcheln.

Wimmernd blieb sie wieder stehen. Ihr wurde so schlecht, dass Elyon würgte. Ihr Herz brannte und stach und musste sich nach vorne beugen.

Sie musste weiter. Sie musste dieses fürchterliche Wesen, das aus ihrer Familie entsprungen war loswerden. Ein für alle Mal. Sie kam sonst hier nie wieder raus. Sie würde sonst für immer von diesem Ungeheuer verfolgt werden. Es würde alles zerstören, die Wälder, die Wiesen, die Tiere. Nevin, Alina, Lenius und Gilwa. Elyon keuchte laut, drückte ihre Faust fest gegen ihr donnerndes Herz.

Sie musste weiter. Sie musste weiter. Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste weiter.

Elyon kämpfte darum, die Bilder zu verdrängen. Von dem Tag, an dem ihre Mutter gestorben war. An dem das Wasser von allen Seiten gegen ihren kleinen Körper gedrückt hatte.

Sie war im Körper des Urdrachens. Sie war nicht Unterwasser. Elyon war hier, weil sie eine Aufgabe hatte. Weil sie sich selbst und alle anderen retten wollte.

Es war zu schaffen. Sie hatte die Wildnis überlebt und bezwungen. Elyon hatte ihren Vater überlebt. Das hier, konnte sie auch überleben. Vor allem jetzt, wo sie langsam die Möglichkeiten ihrer Gabe verstand.

Ihr Kopf schwirrte und sie torkelte voran. Doch nach ein paar Schritten, knickten ihre Beine ein. Schweratmend saß Elyon in der dunklen Röhre, ihre Hände vom kalten Nass bedeckt.

Da zitterte der Boden unter ihr. Ein Grollen echote durch den Gang und Elyon musste sich die Ohren zuhalten, als es immer lauter wurde und ihre Glieder erschütterte.

Sobald es verklang, sprang sie auf die Beine und kämpfte sich weiter voran. Das Wasser stieg an, bis zu ihren Knien. Die Luft wurde immer dicker und kälter.

Sie trat ins Leere. Stürzte in die Tiefe. Ihr Magen wurde nach unten gepresst. Dann landete sie im Wasser. Dunkles, kaltes Wasser. Es umgab sie von unten, von oben, von allen Seiten. Scharfes, modriges Wasser drängte sich in ihren Mund, ehe Elyon es schaffte, ihn zu schließen. Ihre Augen brannten, sie presste die Lider und die Lippen aufeinander und strampelte nach oben. Sobald sie durch die Oberfläche brach, spuckte sie und schnappte panisch nach Luft.

»Ah! Endlich! Ein würdiger Nachfolger!«, hallte eine männliche Stimme um sie herum.

Elyon erstarrte, bis ein Hustenreiz sie überkam.

Wo war er? Es musste König Elyon sein. Sie drehte sich hustend im Kreis um, doch konnte ihn nicht entdeckten. Ihre Zähne klapperten und sie keuchte immer noch nach Luft. Ihr Hals und ihre Augen brannten. Da packte sie eine Hand am Arm und zog sie hoch. Ein fauler Gestank umgab sie wie ein dichter Nebel und Elyon würgte wieder.

»Ja, du bist genau das, was ich brauche, Urenkelin.« Die Stimme war tief, grollend und heiser. Jedes Wort verbreitete noch mehr von dem widerlichen Gestank.

Er vernebelte ihre Sinne, bis ihr Kopf pochte und sie nichts mehr wahrnehmen konnte, außer der quälenden Übelkeit. Magenkrämpfe durchschüttelten sie und Elyon bekam keine Luft mehr.

»Sterben sollst du noch nicht, Kind. Das haben wir gleich«, raunte König Elyon und gackerte. Ein lautes Rumpeln brachte das Wasser in dem Elyon schwamm zum Zittern. Sie fragte sich kurz, worauf der Mann stand, dann brach etwas von oben ab und fiel hinab ins Wasser. Ein Loch hatte sich über ihnen aufgetan. Weißliches Tageslicht erhellte den riesigen Hohlraum und ein Luftzug traf ihr Gesicht. Sie hob den Blick. Und bereute es dann zutiefst.