Am Nachmittag brachten ihre persönlichen Wachen Neuigkeiten über den Angriff. Elyon traf sich mit ihnen in ihrem Empfangszimmer, wo sie sich auf einen der Samtsessel hinsetzte und rückte das schwere Diadem auf ihrem Kopf zurecht, weil es gegen ihre Schläfen drückte. Ihre Zofe zuckte zusammen und starrte mit müden und traurigen Auge auf Elyons Haare. Schnell strich sie die dunklen Haarsträhnen glatt, die aus der Flechtfrisur herausgezogen worden waren und nun an dem Diadem hingen. Auch, wenn es keinen Zweck hatte. Doch Elyon war der dunkelbraune Schopf egal. Sie hätte sich am liebsten ihre lange, dicke Mähne sofort kurz geschnitten. Und ihre alberne Krone weggeworfen. Aber sie musste noch warten.
»Der Schütze konnte nicht ausgemacht werden, war aber nicht von den Sturminseln. Es muss jemand von den Besuchern aus dem Festland sein. Die Spitze des Pfeils war aus Knochen gemacht. König Demian behauptet, dass es aus Drachenknochen besteht. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass einer seiner Männer ihn abgeschossen hat. Seine Majestät Demian hat danach verlangt, dass wir der Sache nachgehen. Zudem wurde er mit der kaiserlichen Hoheit, dem zweiten Prinzen gesichtet. Es schien, dass sie in eine Auseinandersetzung verwickelt waren, doch Eurem Geburtstag zu liebe, haben sie sich getrennt und werden sich bis morgen Abend aus dem Weg gehen.«
Elyon nickte. »Danke. Bibliothek. Allein.« Auf ihr Handzeichen verbeugten sich Zofen und Wachen. Während die Zofen sich in Elyons Ankleidekammer zurückzogen, um sie aufzuräumen, öffneten die Wachen die zwei Türen, die zum Gang führten. Sie trat hinaus auf den dicken purpurfarbene Teppich. Fast stolperte sie am Saum ihres blauen Kleides. Elyon zog genervt ihren Rock hoch. Sie vermisste ihre Hose, die sie sonst anhatte. Doch wegen der vielen Besucher musste sie wie eine Prinzessin aussehen.
Die Bibliothek lag im nächsten Gang, auf der rechten Seite. Sie gehörte eigentlich ihrem Vater, doch ihre Lehrer und Elyon hatten freien Zugang. So wie einige wichtige Wissenschaftler, oder wichtige Besucher. Deswegen war die Bibliothek selten frei, so dass Elyon sich öfters Bücher aus dem Saal auslieh und mit in ihr Zimmer nahm. Doch heute waren alle beschäftigt.
Morgen würde ihre große Geburtstagsfeier stattfinden. Man plante, sie in die Gesellschaft einzuführen und so schnell wie möglich zu verheiraten. An sich hatte sie schon einen Verlobten. Einen der Söhne des Kaisers. Doch er war nicht gekommen. Stattdessen war ein anderer kaiserlicher Prinz gekommen. Wer kam, war ihr gleichgültig. Sie hatte nicht vor zu heiraten und zehn Kinder für das Kaiserreich zu gebären. Heute Abend war es so weit. Sie hatte es monatelang geplant.
Elyon wollte nur noch ein letztes Mal ein paar Bücher anschauen und die Vorbereitungen würden vollendet sein. Ein warmer Schauer lief über ihren Rücken, als sie die eisernen Türen zur Bibliothek aufstieß.
Der riesige Saal, gespickt mit Reihen über Reihen von Bücherregalen, war menschenleer. Die riesigen Fenster waren zur Hälfte mit schweren, dunkelroten Vorhängen verdeckt, damit nicht zu viel Sonnenlicht auf die Bücher fallen konnte. Die Bibliothek ihres Vaters war berühmt dafür seltene und antike Schriften zu besitzen. Elyon hatte über die Hälfte bereits gelesen. Und jedes Wort war abrufbar. Wie eine Bibliothek in ihrem Kopf eingebrannt. So sehr sie auch das Leben unter Menschen hasste, so war sie doch dankbar, dass sie hier lesen und schreiben gelernt hatte. Dank ihres erlangten Wissens war es einfacher für sie von den Sturminseln zu fliehen.
Statt sich den hohen Regalen zu widmen, ging Elyon an ihnen vorbei zum hinteren Teil des Saals, wo mehrere Lesetische standen. Sie krabbelte unter den zweiten Tisch rechts von ihr und tippte die Holztäfelung an der Wand leicht an. Ein kleiner Schacht öffnete sich und sie kroch in den dunklen Raum hinein. Bevor sie das dünne Holztürchen wieder schloss, nahm sie eine Kerze aus einem riesigen Stapel, den sie hier gesammelt hatte, und zündete sie an. Der Raum war so niedrig, dass Elyon nur dank ihrer kleinen Größe stehen konnte. Diesen Ort hatte sie gefunden, als sie dank alter Baupläne des Schlosses nach allen geheimen Räumen und Kammern abgesucht hatte.
Hier waren noch mehr Bücher, Schriftrollen und Hefte gelagert. Die meisten lagen ungeordnet und zerfleddert auf einem Haufen, mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Ein paar der Bänder hatte sie in Stapeln zurechtgelegt und den Staub entfernt. So wusste Elyon welche sie bereits gelesen hatte. Die meisten enthielten Legenden und Mythen. Es gab auch einige alte Medizinbücher und Berichte aus vergangenen Zeiten. Wie zum Beispiel ein handgeschriebenes Buch über den ersten König der Sturminseln. Sie hatte das blutbefleckte Buch erst letzte Woche entdeckt und noch keine Zeit gehabt es eingehend zu studieren. Es war nur noch die Hälfte vorhanden, die andere hatte etwas weg gebissen. Etwas sehr Großes.
Elyon fuhr mit ihrem Finger über die Zeilen. Es half ihr schneller zu lesen. Die ersten fünf Seiten fassten kurz zusammen, wie die ersten Siedler der Sturminseln es geschafft hatten, die wilden Bestien zu zähmen oder zu töten, welche in großen Mengen die Insel bevölkerten. Viele Tiere waren mittlerweile ausgestorben. Doch auch die Siedler klangen in den Zeilen so rau und blutrünstig wie die Bestien auf der Insel und die See um sie herum. Weshalb sie aus dem Kaiserreich ausgeschlossen und verbannt worden waren. Bis heute durfte kein Bewohner der Sturminsel das Kaiserreich Rovis ohne schriftliche Erlaubnis eines Königs und des Kaisers betreten. Dann kam ein Bericht über den ersten König der Sturminseln. Elyon der Erste. Ihr Großahne, nachdem sie benannt worden war. Sie war Elyon die Sechste. Hätte ihr Vater von Anfang an gewusst, dass sie als Mädchen geboren war, hätte sie nie diesen Namen bekommen. Oder irgendeinen Namen. Denn sie hätte erst gar nicht überlebt. Doch da sie nicht auf der Insel geboren worden war, hatte ihre Mutter es in ihren ersten Lebensjahren geschafft, ihr Geschlecht vor dem ganzen Königshaus zu verbergen.
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Sie las die nächsten Zeilen. Doch hielt inne und ging zurück, weil sie die Worte nicht glauben konnte. »Elyon der Erste studiert weiter das Phänomen, dass Menschen sich in Ungeheuer verwandeln können. Er fängt sie ein, unterwirft sie Versuchen. Mal muss er sie töten, manchmal kann er sie zähmen, oder mit ihnen zusammenarbeiten, sofern sie noch bei klarem Verstand sind. Es hängt alles mit dem Fluch zusammen, der Aufgrund von Elyon dem Großen ...« Die Seite endete mit dem Biss.
Ein Knarren schreckte sie auf. Es war die Eingangstür. Elyon schlug das Buch zu und presste ihr Ohr an die Holzwand. Schritte kamen näher und hielten vor den Regalen hinter den Lesetischen. Sie machte die Holzwand einen winzigen Spalt breit auf.
Edle, bestickte Stiefel aus neuem Leder, nicht nach der Machart der Sturminseln. Die Beine waren dünn, aber drahtig. Einer der kaiserlichen Monarchen.
Die Tür der Bibliothek wurde erneut aufgerissen. Schnelle, schwere Schritte, krachend wie ein Donner kamen auf sie zugerollt. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Sie kannte diese Schritte. Sie gehörten einem schwarzhaarigem Mann, mit kurzem Bart und sehr breiten Schultern. Ihrem Vater. Der König der Sturminseln.
»Eure Majestät, König Elyon, danke dass ihr meine Bitte um ein Gespräch so schnell erfüllt habt.« Es war König Demians Stimme. Geschmeidig wie Honig.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, Euch eine Eintrittserlaubnis für die Bibliothek gegeben zu haben«, donnerte ihr Vater. Beim Klang seiner Stimme, erstarrte alles in ihr. Selbst Elyons Herz schien still zu stehen.
»Es tut mir Leid. Ich konnte nicht widerstehen. Eure Bibliothek ist zu hochgepriesen, um nicht zumindest den Versuch zu wagen, einen Blick darauf zu werfen.«
»Lasst die Schmeicheleien. Dafür habe ich keine Zeit. Was wollt Ihr?«, knurrte der ältere König.
Einen Augenblick lang, war Stille. Beide standen sich nahe gegenüber.
»Ich bin überaus verärgert über den Anfall heute Morgen. Jetzt habe ich keinen gezähmten, sondern einen toten Drachen. Wo waren Eure Wachen?«, fragte Demian mit ruhiger Stimme.
»Da wo sie sein sollten. Falls Ihr glaubt, dass der Angriff von mir ausging, vergesst es. Der Pfeil kam von den kaiserlichen Soldaten, das wissen wir beide. Die andere Frage ist, woher meine Tochter an eine Waffe aus Höhental gekommen ist! Wenn der Kaiser davon erfährt-«
»Das kam von mir. Ich habe es ihr zur Verteidigung gegeben, falls etwas schieflaufen sollte«, erklärte Demian freundlich.
»Wäre der Drache durchgegangen, würde die Schuld an Euren Händen kleben! Meine Tochter ist wertvoll! Sie ist seit Jahren der kaiserlichen Familie versprochen!«
»Das ist mir bewusst«, antwortete Demian. » Ich habe das Talent Eurer Tochter gesehen. Sie hätte es vollbracht wäre der Pfeil nicht dazwischen gekommen. Ich habe jedoch vor, Euch ein Angebot zu machen, das uns beiden viele Vorteile bringen wird.«
Ihr Vater schnaubte verächtlich. »Was soll das sein?«
»Ihr wisst genau, dass selbst wenn Ihr dem Kaiser Eure Tochter gebt, es Euch keinen freien Zugang zum Reich garantiert und Eure Handelseinschränkungen mit dem Festland weiterhin bestehen bleiben werden. So habt Ihr auch keine Möglichkeit, Euch das zurückzuholen, was Euch rechtmäßig zusteht. Ich jedoch habe einen sicheren Plan, um Euch all das zu geben. Vorausgesetzt, ich bekomme Eure Tochter. Sie ist ein wichtiger Bestandteil meines Plans.«
Noch ein Schnauben ihres Vaters. »Was soll dieser Plan sein, hm? Ich gebe zu, es war beeindruckend, wie Ihr Euch in kurzer Zeit ein ganzes Königreich unter den Nagel gerissen habt, aber der Kaiser ist nicht sehr begeistert davon und hat Euch im Visier. Warum sollte ich mich mit Euch zusammenschließen?«
Demian ging durch den Raum und hielt direkt vor Elyon an, um sich an den Tisch zu lehnen. Sie hielt den Atem an.
»Ich habe hunderte von Drachen. Statt sie zu töten oder wegen ihres Blutes auszumelken, habe ich sie alle gesammelt. Ich habe die größte und gefährlichste Armee im ganzen Kaiserreich. Wir beide haben gute Gründe, um uns an den Kaiser und an Höhental zu rächen. Ich kann das bewirken. Mithilfe Eurer Tochter. Sollte sie es schaffen, die Drachen vollkommen unter ihrer Kontrolle zu bringen, bedeutet es das Ende für den Kaiser. Doch selbst wenn ich die Prinzessin nicht bekommen sollte, werde ich einen anderen Weg finden. Der Kaiser und Höhental werden fallen. Die Frage ist nur, ob Ihr ebenfalls fallen werdet. Es ist Eure Wahl. Ihr habt bis zu meiner Abfahrt Zeit, eine Entscheidung zu treffen.«
Statt mit zornigen Worten um sich zu werfen, schwieg ihr Vater. Elyons Herz setzte aus. Etwas musste an diesem König Demian dran sein, das ihn ernsthaft dazu bewog zu überlegen. Was nur selten geschah. Sie kauerte in sich zusammen. Wenn ihr Vater etwas erwog, konnte es nichts Gutes sein. Zum Glück würde sie sich keine Gedanken darum machen müssen. Nie wieder.