»Alina, Aufseher Balt möchte dich sprechen«, sagte ihr Schießlehrer.
Sie entspannte die Sehne ihres Bogens und starrte auf die drei Pfeile, die sie eben geschossen hatte. Alle drei hatten nur die äußeren Ringe getroffen. Schon wieder.
»Jetzt?«, fragte sie und räusperte sich, um das Zittern in ihrer Stimme zu überdecken. Niemand wurde von Balt in sein Arbeitszimmer gebeten. Außer wenn ein Wächterlehrling Schwierigkeiten machte.
Die Augen ihres Lehrers streiften den Strohballen mit ihren Pfeilen, dann kehrten sie zurück zu ihrem Gesicht. Seine Lippen formten sich zögernd zu einem Lächeln. »Du kannst mir deine Waffen geben. Ich räume sie für dich weg.«
Alina unterdrückte ein Seufzen und gab ihm den Bogen und ihren Köcher. Die anderen Mädchen auf dem Schießplatz starrten sie neugierig an, als sie mitten im Unterricht an ihnen vorbei aus dem Schießfeld lief. Sie folgte dem Sandweg, der durch die vielen Übungsplätze der Lehrlinge führte. Vorbei an den jungen Frauen und Männern, die zu Wächtern ausgebildet wurden. Wächtern die ihr Land Höhental beschützten. Auf ihrem Weg kam sie an einem der Schwertkampfplätze vorbei.
Als sie an einem der Sandplätze vorbeilief, wo der Umgang mit Schwertern geübt wurde, blieb Alina stehen und beobachtete die zwei jungen Männer, die sich gerade mit Holzschwertern bekämpften. Einer davon, der mit funkelnden Augen und heftigen Hieben sich auf seinen Gegner stürzte, war ihr Zwillingsbruder Aiven.
»Aiven! Benutze deinen Kopf! Wirf dich nicht zügellos auf deine Gegner!«, rief der Lehrer laut.
Am Zaun standen ihre Cousine Tessa mit den anderen Lehrlingen aus der Elitegruppe. Während die Augen der anderen voller Bewunderung weit aufgerissen waren, beobachteten Tessas blaue Augen den Kampf ohne auch nur eine Gefühlsregung zu verraten.
Die Gruppe bestand aus zwanzig Lehrlingen, alle außergewöhnlich talentiert. Sie durften bereits die anderen Wächter im Einsatz an der Landesgrenze begleiten. Dort wo die Schluchten besonders stark bewacht werden mussten. Aiven und Tessa hatten bereits mit eigenen Augen einen Drachenangriff miterlebt.
Hastig schritt Alina über den Sandweg der zum goldgelben Haupthaus führte, in dem sich neben den Schlafsäle, die Krankenzimmer und der Speisesaal für die Lehrlinge, auch die Arbeitszimmer der Aufseher über sie befanden. Das Haupthaus war das größte im Wächterdorf, doch neben seiner Größe, deuteten nur die Türen auf die Wichtigkeit des Gebäudes. Die goldenen Türklingen waren schwingende Federn und ein Relief des Wappentiers ihrer Heimat Höhental, der Feuervogel, waren im Holz der Türen abgebildet. Riesige Vögel, mit langen Hälsen und vier Beinen.
Alina drückte gegen die große Eingangstür und trat ein. Sie starrte die abgenutzte Treppe an, die nicht weit vor ihr stand. Erst als eine junge Wächterin mit hastigen Schritten an ihr vorbeilief, schaffte sie es mit zitternden Beinen auf die Treppe zuzugehen. Ihr Blick war verschwommen, doch sie schaffte es, die Stufen zum dritten Stock zu nehmen, ohne dass ihr eine Träne entschlüpfte. Hoffentlich würde sie ihren Platz nicht verlieren. Hoffentlich wurde sie nicht aus dem Wächterdorf herausgeworfen.
Vor der Tür des Aufsehers über die Lehrlinge hielt sie an und atmete tief durch. Dann griff sie nach der beflügelten Türklinke, klopfte und trat ein.
»Ich bin Alina. Ihr wolltet mich sprechen.« Der Klang ihrer eigenen Stimme stach in ihren Ohren.
Ein Mann mit einem braunen Bart und strengen Augenbrauen sah kurz von den Papieren auf, die er betrachtete. Ohne zu Lächeln, wies er auf den Stuhl vor sich.
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Alina hatte Aufseher Balt nur einmal gesehen, am ersten Tag ihrer Ausbildung. Er war verantwortlich für alle neuen Rekruten der Wächter, in den drei Jahren ihrer Ausbildung.
Der Raum war lang. Und dank der Regale und Schränke, die links und rechts an den Wänden standen, auch noch eng. Bücher, Hefte und Papierberge quollen aus ihnen heraus.
Das Fenster wurde von einem Papierhaufen auf der Kommode hinter dem Stuhl des Aufsehers zur Hälfte verdeckt, sodass das Tageslicht nur gedämpft hereindrang und der Raum düster wirkte.
Alina setzte sich und presste die Hände aneinander. Ihre Fingernägel bohrten sich so fest in ihre Handflächen hinein, dass es stach.
»Alina Rappenfeld. Ich möchte mit dir über deine Zukunft hier im Wächterdorf sprechen.«
Ihr Gegenüber hatte immer noch nicht von seinem Papier aufgesehen. Er hielt es leicht erhöht, sodass Alina nicht lesen konnte, was geschrieben stand. Ihr Herz klopfte laut. Sie hatte es geahnt.
Aufseher Balt seufzte. »Ich will gleich auf den Punkt kommen. Deine Leistungen sind schwach. Was eine Überraschung ist, da dein Zwillingsbruder einer der besten Lehrlinge deines Jahrgangs ist. Zusammen mit deiner Cousine Tessa.« Die Art wie er ihren Bruder betonte, traf Alina so heftig wie ein Schlag ins Gesicht.
Ihr Gegenüber legte das Papier zur Seite und holte eine Rolle hervor. Er breitete eine Karte Höhentals vor ihr aus. Eine flache Hochebene aus rostbraunem Gestein. Im Nordosten trennte eine lange Bergkette die streng bewachte Grenze das Land von dem verbotenen Osten. Die südwestliche Grenze begann mit der Hochebene in die mehrere lange, mal breite und mal schmale, Schluchten einschnitten. Dort waren die vierundzwanzig Wachtürme eingezeichnet. Dort sollte Alina eines Tages als Wächterin ihr Land beschützen. Falls sie es jemals durch ihre Ausbildung schaffte.
»Was ist die wichtigste Aufgabe der Wächter?«, fragte der Aufseher.
»Über Höhental zu wachen und es mit unserem Leben zu beschützen.«
»Und vor was?«
»Vor allem, was den Frieden, das Glück, die Ordnung und die Gerechtigkeit des Landes gefährdet«, sagte Alina auswendig.
Der Aufseher starrte sie für einen Moment an. Dann streiften seine Finger über die Karte. »Mir scheint es, dass dir das entweder nicht klar ist, oder du einfach nicht für den Posten eines Wächters geeignet bist.«
Er seufzte wieder. »Alina, du bist nicht ohne Talente. Du hast es geschafft den wildesten Feuervogel Höhentals zu zähmen. Nun ist sie die Schnellste und der Stolz unseres Wächterdorfs. Außerdem kannst du ausgezeichnet mit Pferden umgehen und ich habe gehört, dass du dich sogar mit einigen Feuerfalken angefreundet hast. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir dich hier in der Wächterstadt gebrauchen können. Allerdings nicht als Wächterin. Wir brauchen immer gute Tierabrichter.«
Alina presste ihre Lippen zusammen. Bei der Vorstellung, etwas anderes als Aiven zu machen, schnürte sich ihre Kehle zu. Das wollte sie nicht. Es ging nicht. Sie hatte bis jetzt ihr ganzes Leben mit ihm verbracht.
»Bitte gebt mir noch eine Möglichkeit, mich zu beweisen. Falls ich es nicht schaffe, gehe ich zu den Tierabrichtern.« Alina nahm all ihren Mut zusammen und blickte direkt in das strenge Gesicht des Aufsehers.
Er runzelte die Stirn und sein Finger tippte auf eine der Schluchten, die auf der Karte dargestellt war. »Ich brauche jemanden für die Nachtwache. Üblicherweise, schicken wir dort immer ein paar Lehrlinge hin, da dort bis jetzt nur wenig Angriffe stattgefunden haben.«
Alina betrachtete die Stelle. Es war die vierundzwanzigste Schlucht. Niemand wollte dorthin. Man nannte sie die Gosse, weil dort das Abwasser aus dem Wächterdorf und der Hauptstadt aus der Hochebene hinaus floss. Außer Ratten und anderes Ungeziefer, wurde dort selten etwas Gefährliches gesichtet.
»Einige Drachen haben sich in den letzten Monaten in diese Schlucht hineingewagt. Drei oder vier. Doch wie wurden sehr schnell von dem Geruch und den Feuervögeln abgeschreckt. Trotzdem können wir den Posten nicht mehr leichtnehmen. Nimm Tessa und Aiven mit. Sie waren bereits im Einsatz und wissen, wie man die Drachen schnell vertreiben kann. Ich will auch, dass ihr auch darauf achtet, dass keine Aasfresser durch den Wachtposten dringen. Sollte der Bericht deiner Verwandten über dich befriedigend sein, darfst du weiter als Lehrling hierbleiben.«
Egal, ob Drachen gesichtet worden waren oder nicht, dieser Wachposten wurde nur den Wächtern gegeben, die zu ungeschickt waren, um woanders eingeteilt zu werden. Und sie hatte zwei der besten Lehrlinge mit sich in die Gosse heruntergezogen.
Mit enger Brust stand sie auf, verabschiedete sich und verließ den Raum.