Während Elyon mit erhobenen Haupt, ausgestreckter Brust und harter Miene neben ihr lief, hatte Alina Schwierigkeiten, überhaupt ihre zitternden Beine an Elyons weite Schritte anzupassen. Elyon hielt sich an Alina fest und obwohl diese das kleinere Mädchen führen sollte, zischte Elyon voran, als wüsste sie genau, wohin sie mussten.
Alina weitete ihre Schritte und zog leicht nach rechts um die Treppe nach unten zu nehmen. Sie befanden sich Regierungsgebäude, wo Elyon im Gästetrakt untergebracht worden war. Hier traf sich regelmäßig ein Gremium, as aus Großwächter und Gelehrten bestand, um über die Angelegenheiten in Höhental zu diskutieren oder abzustimmen.
Von dem, was Kael ihnen berichtet hat, war das Gremium zurzeit ein Chaos. Mehrere Großwächter und Gelehrten waren von den Wächtern festgenommen worden, wichtige Bürger der Hauptstadt hatten sich eingeschaltet und die restliche Bevölkerung von den verdeckten Machenschaften der Großwächter und Gelehrten wissen lassen. Die Stimmung in der Hauptstadt glich der Luft kurz vor einem Blitzeinschlag. Zitternd und Prickelnd. Überall standen Leute zusammen und diskutierten miteinander. Einige mit vor Schreck verzerrten Gesichtern, andere mit hochroten Köpfen. Wieder andere sahen müde und zerrissen aus. Dann gab es diejenigen, die ihre Wut lauthals im Platz vor dem Regierungsgebäude herausbrüllten. Alina mied die Stadt und blieb innerhalb des Gästeflügels, auch um sich um Elyon zu kümmern.
Sobald sie aus dem Gebäudeteil heraustraten, indem sich die Zimmer für Besucher befanden, sah sie Sekretäre und Gelehrte umherschwirren, fast alle mit Schriftrollen und Papieren beladen. Einige trugen schweißgebadeten Gesichter, andere tiefe Augenringe, oder beides. Niemand warf ihnen auch nur einen Blick zu.
Alina war so abgelenkt von der Stimmung, dass sie nicht auf die Treppe achtete, auf die sie zuliefen. Elyon trat ins Leere und fiel hinunter. Alina lehnte sich schnell nach hinten und zog sie hoch, ehe beide die Stufen hinunter krachten.
»Es ... es tut mir leid! Ist dir was passiert?«
Elyon schüttelte atemlos den Kopf und stellte sich auf die Beine.
Alina schluckte und ging vorsichtig die Stufen voran. Es war schwer zu verinnerlichen, dass Elyon einen Teil ihrer Sicht verloren hatte. Erst wenn sie in die Augen des Mädchens sah, dessen fast schwarze Iriden nun mit blau weißen Flecken bedeckt waren, fiel es ihr wieder ein.
Jedes Mal, wenn sie diese sah, bekam Alina einen kleinen Schreck. Auch die anderen rissen immer leicht die Augen auf, wenn sie in Elyons Gesicht sahen. Sie hatte nun auch mehrere rote Flecken um ihre Augen. Narben, die wegen dem Schlack des Urdrachens entstanden waren. Die gleichen hatte Elyon auch an anderen Körperstellen.
Alina seufzte kurz und verscheuchte alle Gedanken. Sie musste Elyon hinunter zum Versammlungssaal der Großwächter bringen. Es war an der Zeit, die Zukunft Höhentals zu klären und wie es mit Elyons Besitzrecht weitergehen würde. Kael hatte die Versammlung mitorganisiert. Nach seinen Berichten, hatte er erfolgreich eine Gruppe von hochrangigen Männer und Frauen gefunden, die sich gegen die vergangenen Entscheidungen der Großwächter stellen wollten. Auch unter den Gelehrten.
Alina nahm tief Luft. Sie ahnte bereits, dass es eine lange und geladene Besprechung werden würde.
Sie warf einen Seitenblick auf Elyon. Ihr Gesicht sah blass aus und obwohl ihre Schritte und ihre Haltung es nicht verrieten, hatte Elyon heute Früh ganz schöne Schwierigkeiten gehabt, auf den Beinen zu bleiben, nachdem aufgestanden war.
Alina hatte sie noch nie so schwach gesehen. Woher nahm sie nur die Kraft, um so würdevoll und souverän durch den Gang zu schreiten?
Sie liefen vorbei an gelblichen, kahlen Wänden. Dem schmucklosen Treppengeländer, einfache Tonvasen, die zarte Zimmerpflanzen mit olivgrünen Blättern in sich trugen. Hier zweigte sich wieder der Unterschied zwischen dem Kaiserreich und Höhental. Alina dachte zurück an Demians Schloss und seinem Prunk. Selbst der alte verlassene Tempel hatte mehr Schmuck als das Regierungsgebäude in Höhental. Nur die Tür, zu der Alina Elyon nun führte, als sie endlich das Erdgeschoss erreichten, trug goldene Feuervögel auf dem rostfarbene Holz, welche die gesamte Länge der Schwingtüren einnahmen. Mit Flügeln, die wie wirbelndes Feuer aussahen.
Help support creative writers by finding and reading their stories on the original site.
Vor der Tür standen Kael, Senan und Nevins Bruder, Finan. Alle trugen ernste Gesichter und fixierten Elyon an, sobald sie hinter dem Treppensatz auftauchten.
Schon von hier konnte Alina die Rufe aus dem Regierungssaal hören.
»Was ist los?«, fragte Elyon, als sie vor der Tür standen. Sie zog die Augen zu Schlitzen zusammen.
Kael seufzte tief. »Das ist typisches Benehmen für Höhentaler, wenn es um wichtige Diskussionen und Entscheidungen geht. Heute sind sie natürlich besonders angefeuert, besonders weil der Ausschuss heute nicht nur aus Großwächtern und Gelehrten besteht, sondern auch aus Wächtern und Bürgern.«
»Ich verstehe immer noch nicht, wie du das zustande gebracht hast«, sagte Senan.
Alina stimmte ihm zu. Normalerweise war es dem einfachen Volk und den Wächtern nicht gestattet, an Regierungsdiskussionen teilzunehmen. Alina hatte am Rande mitbekommen, dass die Regierung ins Chaos gestürzt war, als die Wächter der ganzen Stadt die Wahrheit über die Drachen mitgeteilt und gleich danach, mithilfe der Postflieger, auch im ganzen Land verbreitet hatten.
Kael war zusammen mit Senan einer der Stimmen, die etwas Ordnung in dieses Chaos gebracht und die Zügel in die Hand genommen hatten, zusammen mit anderen Gelehrten und einige Großwächter, die sich mit ihnen verbündet hatten. Er tat alles, um Höhental für die Drachen und ihre Familien zu öffnen.
Elyon seufzte. »Werde ich gehört?«
Kael antwortete zunächst nicht, Alina musste selbst manchmal nachdenken, was Elyon eigentlich mit ihrer Sprechweise sagen wollte.
»Sicher wird man Euch zuhören. Alle warten auf Euch, Eure Hoheit«, sagte Kael.
Elyon nickte, dann ließ sie Alinas Arm los. »Prinz Finan, gemeinsam eintreten, hinter Kael und Senan.«
»Es wäre mir eine Ehre.« Finan trug prächtige, schimmernde Stoffe in Grün und Gold. Seine langen, hellbraunen Deckhaare waren geflochten, die restlichen Strähnen hingen fast bis zu seinen Hüften hinunter. Dazu hatte er noch ein spitzes Kinn und eine fein geschwungene Nase. Hätte er ein Kleid angehabt, hätte Alina sich nicht vorstellen können, dass er ein Mann war.
Nur seine etwas breiteren Schultern und die stählernen Arme verrieten ihn.
Der Prinz murmelte etwas zu Elyon, dann streckte diese die Hand aus und er legte sie um seinen Oberarm, mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte er schon tausendmal blinde Menschen geführt. Alina schluckte. Sie hatte es nicht ganz so souverän getan wie er. So leise wie möglich stellte sie sich neben Elyon hin. Diese hatte darauf bestanden, dass Alina mit in die Versammlung ging. Sie brauchte Vertraute, die als ihre Augen dienen konnten. Vor allem Augen, die lesen konnten.
Senan schlug die Türen auf und trat als erster in den Saal. Stille breitete sich aus.
»Es treten ein: Kael, ältester Gelehrter Höhentals, Prinz Finan, Sohn des Kaisers von Rovisland und Prinzessin Elyon, von den Sturminseln und Erbin Höhentals!«
Kael trat vor und führte Finan und Elyon zum hölzernem Podest, der in der Mitte eines kreisförmigen Platzes stand. Um sie herum saßen lauter Männer und Frauen auf der Tribüne, es gab noch eine weitere Galerie über ihnen, die ebenfalls gefüllt mit Menschen war. Während Alina in den unteren Rängen die Umhänge der Großwächter und Gelehrten erkannte, fand sich in der Galerie eine bunte Mischung aus Wächtern mit allen möglichen Rängen und weitere Männern und Frauen, die in feinen Kleidern gekommen waren. Es mussten die reicheren Bürger Höhentals sein.
Das Podest war breit genug, dass Alina, Elyon und Finan nebeneinander stehen konnten. Geschützt durch den Holzbau, presste Alina die schwitzenden Fäuste gegen ihre Oberschenkel.
Neben ihr stand Elyon, die Brust ausgestreckt, ihr Kinn leicht erhoben, der Blick hart und scharf wie ein Schwert. Auch Finan ließ den Blick über die Großwächter und Gelehrten schweifen, als wären sie nichts als unbedeutende Insekten, während er die Arme auf das Pult legte.
Als Alina es wagte, die Stimmung im Raum zu beobachten, ließ sie den Blick sofort wieder sinken. Schwer wie der Duft des Fluchs hingen die Gefühle der Anwesenden im Raum. Die Blicke, die gepressten Lippen, zusammengezogene Augenbrauen und das gehetzte Flüstern in den Tribünen sorgte dafür, dass Alinas Mund trocken wurde, dass sie kaum schlucken konnte.