Am nächsten Morgen, waren die Seen Alinas erstes Ziel. All ihre Gedanken blieben verschwommen, bis sie den ersten Schluck Wasser nahm, um den schrecklichen Durst zu stillen. Dieser trieb sie tiefer in den See hinein und ehe sie es sich versah, schwamm sie bereits durch das kühlende Nass und schreckte die Fische auf. Hier im Wasser konnte sie sich problemlos bewegen. Das Gleiche musste doch irgendwie in der Luft funktionieren. Wenn sie schon ein Drache war, dann wollte Alina fliegen. Sie blähte ihren Bauch auf, versuchte ihn mit Luft zu füllen, doch sie blieb im Wasser drin, ohne sich auch nur ein bisschen nach oben zu bewegen.
Als sie zurück ans Ufer schwamm, saß das Mädchen dort und kritzelte wieder in ihrem Heft. Neugierig warf Alina einen Blick auf die Seiten. Sie zeichnete wieder. Alinas einzelne Körperteile. Ein Ohr, ein Bein, die Pfoten mit den Krallen. Sie schrieb auch Notizen, doch Alina konnte die Schrift des Kaiserreichs nicht lesen. Die Sprache Höhentals war die von Rovisland sehr ähnlich, doch sie benutzten andere Schriftzeichen. Hoffentlich gewann sie bald ihre Sprache zurück. Alina hätte gerne gewusst, was das Mädchen über sie schrieb. Wie sie hieß, woher sie kam und noch so viel mehr.
Als die Seiten voll waren, stand das Mädchen auf, schulterte ihre große Reisetasche und stapfte an den Seen vorbei. Alina trabte hinter ihr her. Das Mädchen warf einen kurzen Blick über ihre Schulter und hielt an. Alina machte es ihr gleich. Dann ging das Mädchen weiter und Alina schritt ebenfalls voran. Das Mädchen gluckste. Ermutigt trabte Alina an ihrer Seite und hoffte, dass die beiden endlich Freundschaft geschlossen hatten. Das Mädchen war äußerst schweigsam, doch es konnte nicht an Schüchternheit liegen. Sie marschierte mit geraden Rücken durch das Tal, als könnte ihr nicht und niemand etwas anhaben. Während das Mädchen jagen, kochen, Heilmittel zubereiten, zeichnen und schreiben konnte, war sie ein nutzloses Vieh, das weder fliegen noch sprechen konnte. Sie war nicht nur als Wächterin eine Versagerin, sondern auch als Drache.
Ein süßer Geruch stieg Alina in die Nase und brachte sie zum Erstarren. Nicht weit von ihr wuchsen wilde Beerensträucher. All ihre Gedanken lösten sich auf, während ihr das Wasser in den Mund stieg und sie hungrig zu den Beeren galoppierte. Sie schnappte sich einen Strauch und zog ihn samt Wurzeln von der Erde. Sobald süße Himbeersaft auf ihrer Zunge landete, erwachte ihr Hunger endgültig und sie verschlang die Beeren Samt Stiele und Blätter.
Jemand näherte sich ihr an, doch es war Alina völlig egal. Sie war ein Drache. Sie konnte sich verteidigen. Sie hatte nur Himbeeren im Kopf. Beeren, Früchte, Essen. Fleisch. Sie wollte Fleisch, Blut.
Zwei Hände krallten sich um ihren Kopf. Das Mädchen versuchte sie von den Beeren wegzuziehen, doch Alina schüttelte sie ab und fraß weiter.
Wieder packten sie die blassen Hände. „Aufhören!"
Hitze stieg in ihren Kopf. Sie knurrte das Mädchen an und schnappte nach ihr. Schnell rollte das Mädchen zur Seite und zog ein Kurzschwert aus der Scheide an ihrem Gürtel. Für einen kurzen Augenblick, drängte entsetzen die Hitze weg. Alina schüttelte heftig den Kopf. Wieso hatte sie das getan? Wieso war sie so wütend? Ein Grollen rollte aus ihrem Hals. Sie wollte es nicht. Doch die Hitze schwoll wieder an und packte ihren Verstand.
Das Mädchen ging auf die Knie und beschwichtigte sie mit seltsamen Geräuschen, die sie nur noch wütender machten. Alina konnte nicht mehr gegen die Hitze in ihren Gliedern ankämpfen. Die Wildheit übernahm ihren Körper und zwang sie dazu, sich auf das Mädchen zu stürzen.
Wieder rollte die Kleine zur Seite und verschwand aus ihrem Blickfeld. Alina spitzte die Ohren und horchte. Leise Schritte, direkt unter ihr. Alina sprang zur Seite, doch das Mädchen rollte ihr hinterher und versteckte sich wieder unter ihrem Bauch. Sie beugte ihren Hals, um sie von dort wegzuziehen, doch das Mädchen sprang hoch, klemmte sich an ihrem Bauch und kletterte flink ihren Hals hinauf.
Alina buckelte, während das Mädchen eisern weiter kletterte, bis es ihren Nacken erreichte. Wütend schüttelte sie ihren Kopf. Als das Mädchen leicht an ihrem linken Ohr zog, erstarrte ihr ganzer Körper. Das Mädchen zog etwas fester. Unwillkürlich bewegte Alina ihren Kopf nach links. Sie knurrte. Warum gehorchte ihr Körper nicht mehr?
»Ruhig. Alles gut«, sagte das Mädchen. Ihre Worte lösten das Knurren in Alinas Hals. »Alles gut. Beruhigen.«
Alinas Körper entspannte sich und langsam kam ihr menschlicher Verstand zurück, bis wieder sie wusste, wer sie eigentlich war. Kein wildes Biest. Sondern ein Mensch, gefangen im Körper eines Ungeheuers. Sie winselte. Wieso hatte sie das Mädchen angegriffen? Wieso hatte sie die Kontrolle über ihren eigenen Körper verloren?
Das Mädchen zog ihre Ohren nach vorne und ihr Kopf folgte.
»Runterlassen«, sagte das Mädchen sanft und drückte eine Hand auf ihre Stirn.
Alina senkte den Kopf und bettete ihren Hals auf das Gras. Das Mädchen sprang von ihrem Kopf ab und hielt ihr etwas von dem blumigen Kraut hin, womit sie Alina zuvor schon beruhigt hatte. Sie öffnete bereitwillig ihr Maul.
»Nichts essen. Nur Kraut. Verstanden?« Ihre Stimme klang immer etwas heiser. Und ihre Sprache war ungewohnt gebrochen. Alina brummte leise und nickte. Das Mädchen riss überrascht die Augen auf.
»Sehr intelligent«, murmelte sie nachdenklich.
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Alina seufzte. Wie konnte sie dem Mädchen klarmachen, dass sie ein Mensch war und kein Tier? Sie öffnete ihr Maul, versuchte ein Wort zu formen. Doch alles was aus ihr herauskam war ein seltsames Röhren. Dann ein Winseln. Alina stand auf und schüttelte sich, als könnte sie so die letzten Spuren der seltsamen Hitze loswerden.
»Komm, weiterziehen«, sagte das Mädchen. Alina zögerte nicht und folgte ihr, dankbar, dass sie nicht zurückgelassen wurde.
–
Als die Abendsonne die Landschaft mit ihrem rötlichen Licht färbte, hatten sie das Tal verlassen. Hier und da erklommen sie einen Hügel, doch hier war das niedrige Gras weitgehend frei von Bäumen. Nur unzählige von Büschen und Felsen standen ihnen im Weg. Es dauerte eine Weile, bis Alina endlich einen dunkelgrünen Streifen am Horizont erkannte. Sie würden noch etwas länger marschieren müssen, ehe sie den nächsten Wald erreichten. Alina gähnte. Ihre schweren Beine schleppten sich nur noch langsam voran und sie konnte selbst ihren Kopf kaum noch hochhalten. Hinzu kam noch ihre trockene, schmerzende Kehle.
Immer wieder spitzte sie die Ohren und öffnete ihre Nüstern, auf der Suche nach einem Plätschern oder dem kalten Duft von Wasser. Doch nach einer Weile, schnappten ihre Ohren ein anderes Geräusch auf. Ein langgezogenes Heulen. Das Mädchen hörte es nicht, denn sie hielt nicht an, sondern wanderte weite. Alina spitzte ihre Ohren und starrte auf den Waldsaum in der Ferne. Das Heulen verstummte, und obwohl sie nichts mehr hörte und nichts sah, spürte sie, dass sich etwas aus dem Wald näherte. Ihr Fell stellte sich auf und sie blieb stehen.
Das Mädchen hielt nach ein paar Schritten an und beobachtete Alinas aufgeplustertes Fell. Da beugte sie ihren langen Hals und schob das Kind zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie schob weiter und weiter, bis das Mädchen in einen leichten Lauf fiel. Doch es war nicht schnell genug. Alina grölte frustriert, packte es mit den Zähnen am Pelzumhang und galoppierte davon.
Vier Gestalten schlüpften aus dem Waldsaum heraus. Braune Jagdhunde, mit dünnen Köpfen und langen Beinen. Ihr lautes Heulen trieb zur Eile an. Hechelnd schoss Alina an Felsen und Büschen vorbei. Doch die Hunde waren schneller. Es dauerte nicht lange und sie hörte ihr Hecheln dicht an ihrer Schwanzspitze. Bald kamen noch das Trappeln von Hufen auf dem Gras. Aus dem Augenwinkel sah sie vier berittene Pferde.
Hätte sie nur fliegen können! Sie sprang immer wieder hinauf, in der Hoffnung, dass sich ihr Körper von alleine in die Luft bewegen würde.
Da schnitt ein hohes Pfeifen durch die Luft. Es kam von dem Mädchen. Die Hunde heulten als Antwort. Alina warf einen kurzen Blick zurück, da stießen ihre Vorderbeine gegen einen Felsen. Sie stürzte über ihn und flog auf den Boden zu. In letzter Sekunde riss Alina ihren Kopf in die Höhe, um das Kind vor dem Aufprall zu schützen. Gleichzeitig füllte sich ihr Bauch durch den Schreck mit Luft. Statt zu fallen, schwebte sie auf das Gras zu, strauchelte über den Boden, stolperte dann über ihre eigenen Füße und stürzte. Ihr Biss lockerte sich und das Mädchen fiel. Schnell schnappte Alina sie wieder am Umhang und legte sie vorsichtig auf den Boden ab.
Da pfiff das Mädchen wieder und die vier Hunde, die sie vorher verfolgt hatten, sammelten sich um sie. Sie sprangen und japsten fröhlich um das Mädchen herum. Alina erstarrte und staunte über das Bild, das sich vor ihr abspielte. Ein weiterer Pfiff beruhigte die Hunde und sie setzten sich alle mit wedelnden Schwänzen vor dem Mädchen hin, das nun ihr Kurzschwert zog. Die Klinge war weiß. Genau wie die Klingen der Wächter. Alina löste sich von ihrer Starre und zwang sich auf die Füße. Ein Stich fuhr durch ihr linkes Vorderbein, sobald sie ihr Gewicht drauf legte und es knickte ein.
Die Reiter kamen bereits mit donnernden Pferden angeritten und umzingelten sie, die Schwerter und Bögen bereit zum Angriff. So wie das Kurzschwert, waren die Klingen und Pfeilspitzen aus einem weißen, glänzendem Material. Knochen, verriet ihr Instinkt. Drachenknochen.
Zu Alinas weiterem Erstaunen, knurrte das Mädchen und die langbeinigen Hunde bauten sich schützend vor ihr auf, bleckten die Zähne und bellten.
Einer der vier Reiter trug einen blauen samtenen Umhang und ein Schild mit einem großen Wappen darauf. Er war jung und seine langen braunen Haare waren zur Hälfte zu einem Knoten an seinem Hinterkopf gebunden. Er grinste hämisch und richtete sein Schwert auf Alina. Doch dann fiel sein Blick auf das Mädchen, das sich vor Alina drängte und er zog sein Pferd ein paar Schritte zurück. Seine Soldaten taten es ihm nach. Die Kleine knurrte laut, zog ein Messer aus den Lederbänden um ihren Arm heraus und rannte vorwärts, dicht gefolgt von den Hunden.
»Weg von ihr! Nehmt euch den Drachen vor!«, brüllte der junge Mann und sein Pferd bäumte sich auf.
Alina stellte sich auf die Beine und hinkte von den Soldaten weg. Da liefen die Hunde ihnen entgegen und bellten die Pferde an. Diese bäumten sich erschrocken auf und machten kehrt. Die Schmerzen in ihrem Bein waren fast verschwunden und etwas in ihr baute sich auf. Der Drang davonzulaufen. Ihre Beine waren angespannt, bereit loszusprinten. Doch sie sollte helfen. Sich verteidigen. Sie war ein Drache, mit Krallen und Zähnen. Sie konnte das Mädchen nicht alleine lassen.
Das dunkelhaarige Mädchen hatte sich am Hals des Pferdes des jungen Mannes hochgekämpft und hielt sich an seiner Mähne fest, ihre Füße angelehnt an der Schulter des verschreckten Tieres. Es bäumte sich und buckelte, der junge Mann fiel vom Sattel, doch das Mädchen blieb an seinem Hals festgekrallt.
Alina schüttelte ihren Kopf. Sie wollte nicht wieder alleine sein. Sie setzte zu einem Sprung an, um dem Mädchen zu helfen, als sie einen stechenden Schmerz in ihrem Schwanz spürte. Schon wieder. Der Soldat zog gerade sein Schwert wieder raus, als Alina mit ihrem Schwanz aufholte und ihn von sich wegschlug. Ihr Blut spritzte auf das Gras. Hitze wallte in ihr auf. Ihr Kopf pochte. Ihr Verstand verwandelte sich. Knurrend stürzte sie sich auf den Mann, der immer noch auf den Boden lag um ihn mit ihren Pfoten in den Boden zu stampfen. Er rollte noch rechtzeitig zur Seite und rammte sein Schwert in ihr Bein. Alina jaulte auf.
»Hier her!«, rief eine Stimme und ihre Ohren zuckten. Das Mädchen lief ihr entgegen, gleichzeitig warf sie ein Messer auf den Soldaten der Alina verletzt hatte. Sie wurde von dem jungen Mann mit wehendem Umhang verfolgt. Alina röhrte wütend. Sie musste das Mädchen beschützen. Sie schnappte nach dem Soldaten und schleuderte ihn davon. Dann sprang sie in die Luft, schnappte das Mädchen mit ihrer rechten Vorderpfote und flog mit ihr davon.