Novels2Search
Elyons Fluch Band 1 (German)
10.1 Alinas Verwandlung

10.1 Alinas Verwandlung

Wälder, Steppen, Seen, Flüsse, Städte, Dörfer. Klitzeklein eilten sie unter Alina vorbei. Und es war kein Ende in Sicht. Zum ersten Mal hatte sie eine Vorstellung davon, wie riesig das Kaiserreich eigentlich war. Die Vielfalt der Landschaft, die sich unter ihr ausbreitete, überwältigte sie. Und wenn sie sich ausmalte, wie viele Menschen in all den Städten, Dörfern und Siedlungen lebten, kam ihr Höhental auf einmal klein und mickrig vor.

Trotzdem genoss sie den Flug. Und zum ersten Mal mit klarem Verstand. Auch wenn sie nicht selbst flog und es ihr etwas peinlich war, wie ein Welpe in den Pfoten eines größeren Drachens getragen zu werden. Zum Glück wurde ihr heißer Kopf von Fell bedeckt, sodass niemand ihre Röte sehen konnte.

Als die Abenddämmerung anbrach, kam die Burg in Sicht. Ein altes, graues Gebäude, das auf einem bewaldeten Berg stand, umgeben von Schluchten. Als hätte der Berg sich wie eine Insel von dem Rest des Landes abgetrennt. So konnten, zu Alinas großer Erleichterung, keine Menschen die Burg erreichen. Außer, wie Elora, sie wurden von einem Drachen getragen.

Um die Burg standen einige Wiesen, ein Wäldchen, ein paar alte Häuser und verlassene, mit Unkraut überwucherte Felder. Als sie näher kamen, sah sie wie ein Fluss an der rechten Seite der Burg aus einem großen Felsen entsprang, sich durch die alten Häuser vor der Burg schlängelte und dann wie ein Wasserfall in die Schluchten fiel. Ihre Kehle juckte beim Anblick des Wassers.

Lenius und Gilwa setzten zur Landung an, doch sie steuerten nicht auf die Burg zu, sondern auf den Platz direkt vor den Toren, wo drei kleine Häuser standen.

»Es tut mir leid, dass ich euch hier zurücklassen muss, aber die Burg ist kein guter Ort für euch. Hier ist es sicherer und Gilwa schläft sowieso lieber in einem der Häuser. Er wird sich über Gesellschaft freuen.«

»Ich zeige euch unser Zimmer!«, rief Gilwa aufgeregt und rannte in ein Haus hinein, das weniger am Rand des Zerfalls stand als die anderen. Eine einfache Bauernhütte, dessen weißer Putz zum größten Teil abgefallen war und die Sicht auf das graue Gestein gab, aus dem die Mauern gebaut waren. Elora folgte ihm als Erste hinein, während Alina verunsichert auf die dunkle Holztür starrte. Ob sie durch passte? Sie wagte den Versuch nicht. Nicht in der Gegenwart des riesigen Drachens, der direkt hinter ihr stand. Erst als er sich in die Luft erhob und zur Burg flog, löste sie sich aus ihrer Starre und beobachtete den Drachen beim Fliegen. Beneidete seine geschmeidigen Bewegungen, die das Fliegen so einfach aussehen ließen wie Atmen.

Seufzend wandte sie sich ab und zwängte sich durch die Haustür hindurch. Sie war dünn genug um in das einzelne Zimmer hineinzupassen, wo Elora bereits ihre Taschen abgelegt hatte. Gilwa kam gerade in seiner menschlichen Form und angezogen die Wangentreppe, die mitten im Raum stand, hinunter gehüpft. Auf der anderen Seite des Raums, in der Nähe eines Kamins, standen ein alter Tisch und vier Stühle.

»Oben gibt es noch genug Matten und Decken. Ich schlafe hier oft, weil, die Männer in der Burg können manchmal etwas grob werden. Und Lenius hat ihnen verboten, hier ohne seine Erlaubnis herzukommen. Wenn er sie hier sieht, oder riecht, dass sie hier waren, müssen sie eine Woche im Wald schlafen. Das will keiner. Der Wald ist nämlich voller Drachenjäger, weil sie wissen, dass wir hier leben.«

»Burg nicht sicher?«, fragte Elora.

»Doch, ist sie. Der König in diesem Land hat es aufgegeben, die Burg zurückzuerobern. Aber er lässt den Wald um die Burg von Drachenjägern bewachen. Aber ich finde sie nicht so schlimm. Manchmal sind die anderen Männer auf der Burg viel gemeiner zu mir. Ich mag lieber Mädchen. Ich vermisse meine Schwestern. Mädchen sind netter als Männer. Wir können später auf Jagd gehen! Ich kenne eine Stelle, wo die Jäger immer übernachten. Und manchmal erwische ich eins ihrer Pferde und dann können wir sie essen.«

Alina grunzte entgeistert und schüttelte heftig den Kopf. Sie war mit Pferden, auf dem Hof ihrer Eltern aufgewachsen. Wie konnte man sie essen? Gilwa zuckte nur mit den Schultern. Elora schien sich gar nicht darüber zu wundern, sondern stieg völlig unbekümmert die Treppen hinauf. Die Holzdecke über ihnen knarzte laut unter ihren Schritten.

»Lenius hat mir beigebracht, dass man nicht wählerisch sein kann. Ich esse mittlerweile selbst rohe Zwiebeln, wenn es nichts anderes mehr gibt. Oh, aber ich vergesse ganz, Lenius hat gemeint, ich soll dir beibringen, wie man ein Drache ist. Und wie man den Fluch unter Kontrolle hält. Wer weiß, vielleicht wirst du sogar ein weißer Drache, so wie wir.« Gilwa warf seine Arme um Alinas Bein und drückte sie.

Elora kam zurück und ging direkt zu ihrer Tasche um ihr Heft herauszuholen, dann setzte sie sich an den Tisch und begann zu schreiben.

»Also, wo soll ich anfangen? Ah! Nichts essen! Nur trinken! Ganz wichtig. Also, wenn du ein Drache bist. Du kannst wieder Essen, wenn du ein Mensch bist. Solange du noch nicht zu einem ganzen Drachen geworden bist, musst du auch keine Geschäfte machen. Weißt du, wenn du als Drache mal musst, dann ist es ein schlechtes Zeichen. Dann kannst du dich nicht mehr zurückverwandeln.«

Alina hielt die Luft an. Versuchte sich zu erinnern, wie viel sie insgesamt gegessen hatte. War es zu viel? War sie bereits dabei, sich vollständig in einen Drachen zu verwandeln?

»Wenn du schon ein paar Tage als Drache rumgelaufen bist, dann wirst du dich bald von alleine in einen Menschen verwandeln. Aber nur, wenn du nichts isst. Dann zwingt dich der Hunger. Und am besten bringen wir dich dazu, dich schnell in einen weißen Drachen zu verwandeln. Also, nichts essen. Vor allem kein Fleisch. Blut ist ganz schlimm. Beiß keine Tiere oder Menschen, in Ordnung? Wenn du kämpfen musst, kannst du deine Krallen benutzen. Oder sie schlagen. Am besten mit deinem Schwanz. Danach schlafen sie tief und fest.«

Alina drückte die Ohren an den Nacken. Es war zu spät. Die Bilder, die sie nie wieder sehen wollte, drängten sich zurück in ihr Gedächtnis. Sie spürte fast wieder den widerlichen Blutgeschmack im Mund.

Gilwa hüpfte auf ihren Schwanz zu und hob ihn hoch. »Wie eine Peitsche, in Ordnung? Mit ganz viel Schwung!« Dann rannte er wieder zurück und lehnte sich an ihr Vorderbein. »Was noch? Ah, ja! Bleib nie alleine. Finde eine Drachenbande. Oder, wenn sie ganz besonders sind, einem Menschen.« Er strahlte Elora an, die ihre Augen fest auf ihr Heft gerichtet hatte und ihm keines Blickes würdigte. Stattdessen, zeichnete sie, mit schnellen Strichen, weiter in ihrem Heft.

Da fiel Alina etwas ein. Sie hob eine Pfote und kratzte mit Hilfe ihrer Kralle den Holzboden leicht an. Sie war scharf genug, um deutliche Spuren zu hinterlassen.

»Was machst du da?«, fragte Gilwa neugierig und beobachtete die Bewegungen ihrer Kralle, während sie Schriftzeichen in das Holz einritzte. Vielleicht hatte sie ja Glück und jemand in der Burg kam aus Höhental. Oder konnte zumindest die Schriftzeichen lesen.

Erst jetzt bemerkte sie Elora, die auf einmal vor ihnen stand. Sie hatte nicht mal gehört, wie das Mädchen aufgestanden war. Die dunklen Augen weiteten sich, dann starrte sie auf Alina.

»Höhental?«, röchelte sie.

Alina nickte eifrig und das Mädchen kniete sich hin und fuhr mit ihren Fingern über die Schriftzeichen.

»A-li-na?«

Wieder nickte sie. Endlich! Endlich hatte sie einen Weg gefunden, um sich mitzuteilen.

»Ist das dein Name?«, fragte Gilwa. Alina nickte abermals.

»Und du kommst aus Höhental?« Gilwas Gesicht strahlte vor Begeisterung. »Ich habe noch nie jemanden aus Höhental getroffen!«

Das Mädchen ging zurück zu ihrem Gepäck und brachte ihr Kurzschwert. Sie hielt Alina die Klinge auf zwei Händen entgegen. Alina wich unwillkürlich zurück und legte die Ohren an. Sie wollte sie nicht sehen, noch riechen. Bestimmt waren es Drachenknochen.

»Kommt aus Höhental.«

Neugierig kam Alina wieder etwas näher und schnupperte an der Klinge. Tatsächlich. Sie roch nicht nach Drache. Und als sie den Schwertgriff betrachtete, bebte ihre Brust. Es war das Kurzschwert eines Wächters. Erkennbar an das Wappen im Schwertknauf. Ein Feuervogel, der ein Schwert und ein Pfeil trug. Irgendwo musste auch der Name des Wächters eingraviert sein.

Sie suchte zuerst die obere Seite ab, dann duckte sie sich und suchte auf der unteren Seite. Eloras Finger lagen im Weg. Alina nahm vorsichtig die Klinge zwischen den Zähnen. Das Mädchen zog schnell ihre Hände zurück. Dann ließ sie das weiße Schwert auf den Boden fallen und drehte es mit Hilfe ihrer Pfote um.

Da. Kaum erkennbar, am Ende der Klinge, nahe am Griff. Ein D und zum Schluss ein N. Alle anderen Buchstaben waren ausgeblichen. Alina wurde schlecht. Sie kannte die Schrift. Jeder Wächter gravierte den eigenen Namen in seine Waffen ein. Winselnd wich sie vor der Klinge zurück.

»Was ist los?«, fragte Gilwa besorgt und starrte auf die Klinge. Elora hob das Schwert hoch und starrte auf die Schriftzeichen. Ihre Augenbrauen zogen sich finster zusammen.

Taken from Royal Road, this narrative should be reported if found on Amazon.

»Demian.«

Alina winselte und zitterte am ganzen Leib. Woher kannte dieses Mädchen ihren Cousin? Und warum hatte sie sein Kurzschwert? Er war tot. Sie öffnete ihr Maul, doch sie konnte nur winseln. Schreiben. Sie sollte es schreiben. Doch ihre Pfote zitterte zu sehr und sie hatte keine Kraft, um ihre Kralle über das Holz fahren zu lassen.

»Kennen? Aus Höhental?«, fragte Elora.

Alina nickte.

»Wer ist Demian?«, fragte Gilwa. Doch keiner antwortete ihm. Elora starrte nachdenklich auf das Kurzschwert. Alina grölte frustriert. Warum konnte sie nicht sprechen? Sie zwang ihre Kehle dazu, Worte zu formen, ohne Erfolg. Sie knurrte. Stapfte im Raum hin und her. Ihr Herzschlag bebte bis zu ihrer Schwanzspitze. Sie hielt es hier drinnen nicht aus. Sie brauchte Luft. Erinnerungen an Tessas Bruder fluteten ihren Kopf, an ihre gemeinsame Kindheit.

Sie sprang auf die Tür zu, krabbelte hinaus und trabte orientierungslos zwischen den Häusern umher. Ihre Bissnarbe kribbelte, dann strömte Hitze langsam aus ihr heraus, doch Alina weigerte sich. Wenn sie jetzt ihren Verstand verlor, würde sie alle vergessen. Demian, Tessa, Aiven. Und auch wenn es sie innerlich zerriss an sie zu denken, ihre Erinnerungen zu verlieren, war grauenvoller. Es war alles, was sie noch von ihnen hatte.

Sie streckte ihre Vorderbeine aus und drückte gegen die Hitze an, so stark wie sie konnte. Zog ihren Kopf hoch, als könnte sie sich mit genug Kraft aus dem Drachenkörper herausziehen. Der Druck in ihrem Körper machte sie schwindelig. Weiße Punkte tanzten vor ihren Augen und ein Stechen pulsierte in ihrem Kopf.

Alina brüllte, grölte, winselte. Alle Geräusche die ihre Kehle machen konnte, sprudelten aus ihr heraus. Dann löste sich alles auf. Das Stechen in ihrem Kopf, die Wärme in ihrem Körper, der Druck. Die Welt um sie herum verschwamm, während Alina seitlich umfiel und ihr Bewusstsein verlor.

Als Alina die Augen aufschlug, starrte sie einer dunklen Holzdecke entgegen. Sie lag auf etwas weichem und eine kratzige Decke fiel von ihr ab, als sie sich aufsetzte. Seufzend versuchte sich zu erinnern, wo sie war und rieb sich die pochende Stirn.

Ihre eigene Hand fühlte sich fremd an und rutschte an der glatten Haut ihrer Stirn aus. Alina hielt inne und zog langsam ihre Hand von der Stirn weg, um sie zu betrachten. Ihre Hand. Fünf Finger, fünf Nägel, rosige Haut. Sie sprang auf die Beine und legte beide Hände auf ihre Wangen, tastete vorsichtig ihr Gesicht ab. Nase, Lippen, Augenbrauen.

Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und sie sah auf sich herab. Nackte, menschliche Füße standen auf dem alten Holzboden. Sie war gekleidet in einfachen Hosen und einem kratzigen Hemd. Ein Schluchzen schlüpfte aus ihr heraus, das sie mit einer Hand vor dem Mund abdämpfte. Ihre Beine sackten zusammen und sie landete zurück auf der dicken Schlafmatte.

Hinter ihr knarzten Holzbretter, die mit jedem Schritt lauter wurden.

»Alina! Du bist wach!« Gilwa kniete sich vor ihr hin und legte seine Hände auf ihre Oberschenkel. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, wisperte sie und Tränen sammelten sich in ihren Augen, als sie ihre eigene Stimme hörte.

»Du hast sicher Hunger. Komm mit. Wir haben unten etwas Brot und Käse.«

Noch völlig benommen von ihrer Rückverwandlung, ließ Alina sich von dem kleinen Jungen mitziehen. Er führte sie die Treppen hinunter und dann drückte er sie auf einem der Stühle. Vor ihr lagen ein halbes Laib Brot, ein Stück Käse und ein Messer auf einem alten Holzbrett. Erst jetzt spürte sie es. Das schmerzhafte Loch in ihrem Magen. Mit wässrigem Mund, griff sie nach dem Messer, schnitt sich eine Scheibe Brot und etwas Käse ab und stopfte sie sich in den Mund.

»Du kannst alles aufessen. Du hast sicher einen riesigen Hunger. Elora und ich haben schon gegessen.«

Alina konnte nichts sagen, der Hunger überwältigte sie so sehr, dass sie gerade noch genug Vernunft besaß, um wenigstens dreimal zu kauen, ehe sie ihr Frühstück hinunterschlang. Sie verschluckte sich, und Gilwa zog einen Krug und eine kleine Holzschlüssel heran um ihr etwas Wasser einzuschenken.

»Hier. Du musst vorsichtig sein. Iss langsam, sonst wird dir schlecht und alles kommt wieder raus. Ist mir früher auch oft passiert.«

Keuchend schenkte Alina sich noch etwas mehr Wasser ein, bevor sie eine zweite Brotscheibe nahm. Dieses Mal biss sie kleinere Stücke ab.

Gilwa setzte sich ihr gegenüber hin, stützte die Ellbogen auf den Tisch und grinste sie an. »Du hast dich endlich wieder zurückverwandelt! Weißt du noch, was gestern passiert ist?«

Alina schüttelte den Kopf.

»Wir haben dich draußen gefunden und du hast fest geschlafen.«

»Wo ist Elora?« Alinas Stimme kratzte in ihrem Hals und sie musste sich mehrmals räuspern, um den Frosch in ihrem Hals loszuwerden.

»Ich weiß es nicht. Sie ist ganz früh aufgestanden. Lenius wollte sie mit zur Burg nehmen, aber wir konnten sie nicht finden. Ich hoffe, sie ist nicht in die Schlucht gefallen. Und Lenius glaubt, dass sie nicht Elora heißt. Weißt du warum? Weil sie nicht auf ihren Namen hört. Man muss ihn immer zwei oder dreimal sagen. Hat sie dir ihren echten Namen verraten?«

Weil ihr Mund voll war, gab Alina wieder nur ein Kopfschütteln von sich.

»Na ja, sie hat bestimmt einen Grund, nicht wahr? Sie gibt sich ja auch als Jungen aus. Weil sie wie ein Junge angezogen ist. Übrigens, tut es uns Leid. Elora hat dich angezogen. Wir hatten keine Kleider oder Röcke, deswegen musst du eine Hose und ein Hemd tragen.«

Alina lächelte leise. Zum Glück. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal ein Kleid angezogen hatte.

Sie aß den ganzen Brotlaib auf und fühlte sich immer noch hungrig. Doch sie wagte es nicht, nach mehr zu fragen. Und sie hoffte, dass sie sich, mit etwas mehr Wartezeit, satt fühlen würde.

Gilwa zuckte zusammen, als die Tür aufgerissen wurde. Elora blieb für einen kurzen Moment am Türrahmen stehen und machte ein verblüfftes Gesicht, als sie Alina bemerkte. Schnell senkte das Mädchen ihren Blick und schloss mit ernstem Gesicht die Tür hinter sich zu.

»Elora! Wo warst du?«, fragte Gilwa.

Sie legte zwei Kaninchen auf den Tisch, enthäutet und ausgenommen und daneben ein Lederbündel, dass sich auf dem Tisch ausbreitete und die rohen Organe der getöteten Tiere enthüllte.

Alina schluckte schwer und drehte ihren Kopf zur Seite.

»Hurra! Mittagessen!«, rief Gilwa. »Ich laufe schnell zur Burg und besorge was zum Kochen.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, war er schon aus dem Haus geflitzt.

Alles war still. Elora kniete sich vor ihrer Tasche hin und zog etwas aus dem Lederband heraus, das um ihr Arm gewickelt war. Erst auf den zweiten Blick konnte Alina die Klingen in ihrer Hand erkennen. Nachdem Elora einen kleinen Beutel aus ihrer Tasche genommen hatte, verließ sie schweigend wieder das Haus.

Unschlüssig saß Alina am Tisch und überlegte, ob jetzt eine gute Zeit war, um mit Elora zu sprechen. Ihr Blick fiel auf ihre Arme und ihr Anblick, lenkte sie kurz ab. Sie öffnete und schloss ihre rechte Hand ein paar Mal und genoss die Erleichterung, endlich wieder in ihrem richtigen Körper zu stecken. Dann fiel ihr Blick auf die Kadaver. Und die dunklen, schimmernden Organstücke. Hastig stand sie auf und folgte Elora nach draußen.

Das Mädchen war nicht weit gegangen. Sie stand wenige Schritte auf dem Platz, wo sie gerade ein Lagerfeuer entfachte. Eine kleine Flamme begann gerade das Holz zu verzehren, als sie sich neben Elora stellte.

»Ich wollte dir noch danken. Dass du mir geholfen hast. Du warst die erste Person, die mich nicht angegriffen hat.«

Elora sagte nichts und sah sie nicht an, sondern stocherte mit einem Stock im Feuerholz herum.

Alina setzte sich neben ihr auf den felsigen Boden hin und presste die Lippen zusammen. Was nun? Sie hatte viele Fragen, viele Dinge, die sie sagen wollte und jetzt wo sie es auch konnte, sorgte das Schweigen des Mädchens dafür, dass sie sich nicht traute. Auch das Elora nun einen Schritt weit von ihr wegrückte, ließ sämtliche Selbstsicherheit in ihr verkümmern. Alina nahm tief Luft.

»Ich war überrascht, als du meine Schriftzeichen lesen konntest. Wie du bereits weißt, komme ich aus Höhental. Woher kommst du?«

Keine Antwort. Stattdessen legte das Mädchen mehrere Wurfmesser auf dem Boden, stand auf und ging ins Haus zurück. Befangen knetete Alina ihre Hände durch und blickte das Feuer an, als könnte sie dort einen Hinweis finden, wie sie Antworten aus dem seltsamen Mädchen gewinnen konnte.

Elora kam zurück, mit den Kaninchen in der Hand.

»Brauchst du Hilfe?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf, legte das Lederstück mit den Organen auf dem Boden und daneben die Kaninchen. Alina behielt ihr Gesicht starr auf das Feuer gerichtet. Eine Frage brannte in ihrem Kopf. Eine Hoffnung funkte in ihr auf und sie musste wissen, ob die Wächter nicht vielleicht gelogen hatten. Ob Demian vielleicht nicht sogar auch am Leben war.

»Das Kurzschwert das du hast. Es hat meinem Cousin gehört. Er war ein Wächter. Die Krieger, die Höhental beschützen. Und er ist bei einem Drachenangriff umgekommen. Deswegen hat es mich gewundert, woher du sein Kurzschwert hast?« Sie wagte es nicht ihre Augen vom Feuer zu nehmen und wartete. Wartete. Doch Elora schwieg weiter. Wollte das Mädchen nicht mit ihr reden, oder konnte sie einfach nicht? Ihr war bereits aufgefallen, dass ihre Sprache sehr gebrochen war. Dafür war sie umso besser darin, sich mit tierähnlichen Lauten zu äußern. Selbst das wäre Alina lieber, als ihr Schweigen. Wieder nahm sie Luft, um einen weiteren Versuch zu wagen.

»Falls du mir irgendetwas darüber erzählen könntest, würdest du mir einen riesigen Gefallen tun. Da ich mich auch gerade Frage, ob er vielleicht noch am Leben sein könnte. Der Grund ist nämlich-«

»Wie sieht aus?«

Verblüfft hielt Alina inne.

»Cousin. Aussehen.«

»Nun«, begann Alina verwirrt, »er ist blond. Hat sehr helle, blaue Augen. Ist groß. Viele sagen, dass wir die gleiche Nase haben. Zwei Jahre älter als ich. Also so um die 19.«

Sie wagte es einen kurzen Seitenblick auf Elora zu werfen. Diese starrte finster auf die Klingen, die vor ihr lagen. Alina wartete wieder auf eine Antwort. Die niemals kam. Stattdessen nahm das Mädchen eins der Wurfmesser und tauchte sie in einen kleinen Beutel hinein. Als sie die Klinge wieder herausnahm, glänzte sie feucht und Elora legte sie auf einen großen, flachen Stein, nahe ans Feuer.

Fieberhaft überlegte Alina, was sie sonst noch fragen konnte. Doch als sie Eloras finstere Miene sah, traute sie sich nicht, irgendein Laut von sich zu geben.

Selbst als Gilwa zurück mit Kräutern, einem Topf und einem Dreibein kam, richtete sie kein Wort mehr an Elora. Schweigend sah sie die beiden dabei zu, wie sie das Essen vorbereiteten. Dabei wuchs ein elendiges Gefühl in ihr, dass ihre Stimmung immer weiter niederdrückte und ihr selbst die Freude nahm, wieder in ihrer menschlichen Gestalt zu sein.