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24.2 Elyons Schwur

»Wie kann jemand so schnell lesen?«, fragte Isko, der Elyon gegenüber an dem alten, staubigen Tisch saß. Genau wie sie, auf einem der Stühle, die bei der kleinsten Bewegung gefährlich quietschten. Um sie standen Nevin, Dilek, Jaro, Odilia und Kael, in Schweigen verharrt.

Elyon beendete gerade das alte Buch, dass Isko ihr gegeben hatte. Jedes Wort, das sie gelesen hatte, engte ihre Brust immer weiter ein. Als Elyon es zuklappte, lagen alle Augen auf ihr. Mit angehaltenem Atem, ging sie die einzelnen Seiten in ihrem Kopf durch, die sich wie Gemälde in ihrem Kopf eingebrannt hatte und sie konnte gedanklich jede Stelle nachverfolgen, die etwas über den Urdrachen erwähnte.

»Eure Hoheit? Haben wir die Texte richtig gelesen?«, fragte Kael.

Elyon schloss die Augen und rieb sich die Augenbrauen, um dem Druck der sieben Augenpaare zu entgehen.

»Ja. Ich verstehe das Gleiche.« Elyon faltete die Hände zusammen und legte ihre Stirn auf sie. Dieses Mal nicht um den Blicken zu entgehen, sondern um ihre Tränen zu verbergen, die sich auf ihren Augen sammelten, und zwar so zahlreich, dass sie jeden Augenblick drohten herauszufließen. Niemand sagte ein einziges Wort, Elyon hörte nur ihre schweren Atemzüge.

Nach dem, was Elyon von dem Buch erfahren hatte, saß ihr nun ein kolossales, tödliches Biest am Nacken. Ohne eine Möglichkeit ihm zu entkommen, da er anscheinend immer spürte, wo sie war. Wieder krampfte sich ihr Magen zusammen und Elyon krümmte sich nach vorne, während sie die Arme um ihren eigenen Bauch schlang. Die schweren Haare ließ sie nach vorne fallen, um so viel von ihren feuchten Augen zu verstecken, wie möglich.

»Bei den goldenen Federn! Wir müssen sie sofort von hier wegschaffen!«, rief Odilia. »Schnell! Holt einen Drachen und lasst uns sie so weit wie möglich von hier absetzen. Am besten zurück zu ihrer Insel. Da ist ja sowieso keiner mehr.«

»Odilia! Wie kannst du nur so herzlos sein!«, rief Jaro und begann mit Kael und Odilia zu diskutieren.

»Elyon«, flüsterte Nevin.

Durch die lichteren Stellen der Haarsträhnen vor ihrem Gesicht, sah Elyon, wie er sich vor ihr hinhockte.

»Mach dir keine Sorgen. Wir finden irgendeine Lösung. Zur Not fliege ich dich die nächsten Tage immer durch die Gegend, damit er dich nicht erwischt, bis wir einen Plan gefasst haben.«

»Nevin!«, riefen Dilek und Jaro gleichzeitig.

Nevin stand wieder auf. »Ich kann sie nicht einfach im Stich lassen! Elyon hat schon so viel für uns getan. Sie hat die schwarzen Drachen besänftigt und hierher gebracht. Sie hat uns Traumtod als Beruhigungsmittel für den Fluch gezeigt. Sie hat den Kaiser überredet und uns noch mehr Zeit beschafft. Ich weigere mich, ihr jetzt von der Seite zu weichen. Ich werde ihr helfen, so gut ich kann!«

Elyon hätte am liebsten traurig gelacht. Seine Freunde taten gut daran, ihn so zu schelten. Schließlich konnte sie nicht von dem Thronfolger verlangen, dass er ihr zur Seite stand. Und er durfte ihr nichts versprechen. Sein Überleben und seine Sicherheit waren wichtiger als ihres. Ein riesiges Reich wartete darauf, von ihm regiert zu werden.

»Nevin! Das ist wahnsinnig! Du bist der zukünftige Kaiser des Landes!«, rief Jaro und fing sich dafür einen gehässigen Blick von Odilia ein, den sie Nevin und Jaro öfters gab, wann immer das Kaiserreich und sein Herrscher erwähnt wurden.

»Wenn wir den Urdrachen nicht irgendwie beseitigen, wird es überhaupt kein Kaiserreich mehr zum Regieren geben!«, entgegnete Nevin.

Endlich schaffte Elyon es ihren Kopf zu heben, als sie sich sicher war, dass die Tränen nicht ihre Augen verlassen würden.

»Sie haben recht. Zu gefährlich. Muss sofort losziehen.« Elyon stand auf und verließ den Raum. Ihre Sicht verschwamm und sie sah vor sich nur helle und dunkle, bräunliche Flecken. Mit einer Hand, die über die kalte Steinwand wischte, hastete sie die Treppen hinunter zum offenem Säulenhof.

Vielleicht konnte sie Lenius darum bitten, sie irgendwo hinzufliegen. Doch wohin? Wo konnte sie vor der Bestie sicher sein, die sie immer verfolgen würde? Außer, sie hatte Glück und der Urdrache würde ihren Vater verfolgen. Doch dann erinnerte sie sich an die riesigen Augen, denen sie mit Dilek auf den Sturminseln begegnet war. Als hätten sie sich in Elyon festgebohrt. Sie keuchte, während ein bedrängendes Gefühl sich in ihrem Körper ausbreitete. Das Vieh verfolgte sie. Elyon war sich sicher. Sie konnte nicht entkommen. Sie würde immer und immer wieder fliehen müssen, egal wohin sie auch zog.

»Elyon! Warte!«, rief Nevin, der sie schon bald eingeholt hatte und kurz vor dem Ausgang des Hofs sich ihr in den Weg stellte. »Ich hab gesagt, dass ich dir helfen werde! Und das werde ich auch! Lass uns erstmal gemeinsam eine Lösung finden, ehe wir unüberlegt flüchten.«

Elyon blinzelte und wagte es nicht, ihn anzuschauen, da ihre Augen schon wieder brannten.

»Nein. Du kannst nicht helfen. Niemand kann. Du schon gar nicht. Ich muss weg.« Sie versuchte an ihm vorbeizugehen, doch Nevin stellte sich ihr wieder in den Weg.

»Ich lasse dich nicht allein. Ich bin mir ganz sicher, dass wir gemeinsam eine Lösung finden können!«

»Falls es wegen Verlobung ist, ich habe deutlich gesagt, ich will nicht! Bin keine Verlobte, kann also nicht Hilfe von dir verlangen!« Elyon stieß ihn von sich, doch Nevin fing sich, stapfte wieder näher an sie heran und packte ihre Schultern.

»Das hat nichts mit der Verlobung zu tun! Ich lasse nicht jemanden, der so viel für mich getan hat einfach im Stich! Nur weil wir nicht mehr verlobt sind, heißt das nicht, dass ich wir keine Freunde werden können, oder Verbündete. Und ich stehe meinen Freunden bei, egal was ist!«

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Elyon schüttelte seine Arme von sich ab und wollte wieder an ihm vorbeilaufen, doch Nevin packte ihren Oberarm und hielt sie zurück, mit einem beschwörenden Blick in den Augen.

»Elyon, du musst nicht alles allein durchmachen. Du trägst nicht allein die Verantwortung für die Sicherheit des Kaiserreichs, oder deiner Freunde. Wir alle sollten gemeinsam dafür sorgen. Und du musst auch nicht allein um dein Überleben kämpfen. Ich werde dir zur Seite stehen. Das verspreche ich dir!«

»Du kannst nicht versprechen! Du bist Thronfolger! Du solltest befehlen, dass ich verschwinde, zum Schutz von allen!« Elyon schluckte schwer, damit der Kloß in ihrem Hals ihre Stimme nicht noch weiter belegte. Was redete er von Freunden? Sie hatte keine Freunde. Hier im Kaiserreich würde sich nie jemand mit ihr anfreunden. Und jetzt schon gar nicht.

»Zum Donnerwetter! Wie kann ich es dir begreiflich machen, dass ich dich nicht im Stich lassen werde? Nur weil ich der Thronfolger bin ...« Nevin hielt inne und öffnete die Augen, als wäre ihm so eben etwas eingefallen. Erst jetzt bemerkte Elyon die ganzen Schaulustigen, die sich mit besorgten Mienen im Hof versammelt hatten. Sie wollte weg, so schnell wie möglich, doch so sehr sie auch an ihrem Arm zog, Nevin ließ sie nicht los.

»Komm mit. Ich werde dir zeigen, dass ich es ernst meine.« Nevin zog sie mit sich, während er auf die Säulen zu marschierte. Dann ließ er ihren Arm los, sprang die steinerne Plattform hinunter und stapfte durch das hohe Gras, das in der Mitte des Hofs wuchs, an eine paar niedrigen Büschen vorbei bis zu dem Fluss, wo er sich schließlich bückte.

Elyon blieb verwirrt zwischen zwei Säulen stehen, doch als sie die neugierigen Blicke der anderen bemerkte, besonders von den Leuten, die den beiden aus dem Raum gefolgt waren, sprang sie die Stufe ebenfalls hinunter und ging Nevin entgegen. Da sah sie die rote Blume, die er in der Hand hielt und erstarrte. Eine Blutenblume. Elyon traute ihren Augen nicht. Das konnte er nicht ernst meinen.

Mit entschlossenem Gesicht hielt Nevin vor ihr an und hielt ihr die Blume hin.

»Elyon, mit dieser Blume, biete ich dir an, dich wie mein eigen Fleisch und Blut zu behandeln. Mein Lebenssinn wird es sein, dass du dein Lebensziel erreichst und ich werde alles mögliche in meiner Macht Stehende tun, damit du dein eigenes Glück erreichen und verwirklichen kannst, im Austausch, dass du mich wie dein eigen Fleisch und Blut behandelst und mich in meinen Zielen und in meinem Glück unterstützt.«

Außer dem leisen Plätschern des Flusses war alles still. Selbst die leichte Brise, die gerade eben noch geweht hatte, war verschwunden. Elyon starrte die Blume an, dann starrte sie Nevin an, der seine Augen nicht mehr von ihren löste. Sein Gesicht unbeweglich, genau so wie der Entschluss, den sie darin fand. Er meinte es ernst. Er meinte es wirklich ernst. Er wollte mit ihr einen Blutenschwur eingehen.

Wieder heftete Elyon ihre Augen auf die tiefrote Blume. Sagen und Legenden waren über sie geschrieben worden, da sie zwei Menschenleben durch ein Versprechen und einer Markierung auf der Haut, oft tiefer miteinander verwoben, als der Ehebund es tat.

Viele Männer und auch ein paar Frauen, hatten sich einander versprochen, so wie Nevin es gerade getan hatte. Gemeinsam hatten sie Schwierigkeiten gemeistert und Taten vollbracht, die Elyon früher mit Herzklopfen, durch die Erzählungen von den Büchern aus der Bibliothek ihres Vaters verschlungen hatte. Nie hätte sie erwartet, dass jemand sich ihr anbieten würde. Vor allem nicht ein Mann, da der Schwur üblicherweise nur mit einem Partner desselben Geschlechts eingegangen wurde. Und er war nicht nur ein Mann, sondern auch noch ein kaiserlicher Thronfolger.

»Nevin! Bist du wahnsinnig? Ein Blutenschwur?«, rief Jaro durch den Hof. Sie hörte, wie Schritte sich näherten, doch Nevin hielt immer noch seinen Blick unentwegt auf sie gerichtet.

Als würde ihre Hand von der Blume angezogen werden, streckte Elyon sie aus und berührte mit den Fingerspitzen die tropfenförmigen Blütenblätter. Sie wollte und sollte nachdenken. Überlegen, ob das wirklich eine gute Entscheidung war, schließlich war er ein Prinz und eigentlich nur ein Bekannter, doch ihr Instinkt zerstreute alle Gedanken und sie nahm die Blume an sich. Das Versprechen, gegenseitig auf sich aufzupassen. Für einander da zu sein. Genau wie die Mitglieder eines Rudels.

Nevin atmete auf und lächelte Elyon an.

»Ilias Nevin Rovis von Adelsberg!«, donnerte Jaro, der mit hochrotem Gesicht auf sie zu stampfte. »Bist du nicht mehr bei Sinnen? Du kannst als zukünftiger Kaiser unmöglich einen Blutenschwur ablegen!«

»Doch, kann ich. Sie hat gerade zugesagt. Also wird es vollbracht«, meinte Nevin, immer noch lächelnd.

Dilek stieß nun ebenfalls zu ihnen, seine blauen Augen schienen fast aus ihren Höhlen zu fallen.

»Nevin, ich bin ganz seiner Meinung. So groß die Gefahr gerade auch ist und so dringend du auch Verbündete brauchst, du solltest das wirklich nicht tun.«

Elyon konnte ihre Einwände verstehen. Sie waren berechtigt. Sie hätte selbst auch noch mehr darüber nachdenken müssen. Üblicherweise legte man diesen Schwur ab, wenn man sich sehr nahestand. Wenn man befreundet war und tiefe Zuneigung empfand. Die Erzählungen, die über die verschieden Schwüre geschrieben worden waren, mussten fast jedem im Kaiserreich bekannt sein, denn sie gehörten zu den Lieblingsgeschichten des Adels und der einfachen Bevölkerung.

»Ich werde es durchziehen und ihr könnt es mir weder ausreden, noch mich daran hindern. Das ist mein Wille als kaiserlicher Prinz. Ich befehle euch, ihn zu akzeptieren.« Nevin schenkte ihnen ein breites Grinsen, was beide nur mit entsetzten Gesichtern beantworten konnten.

»Nun, Jaro, wirst du freiwillig das Ritual für uns durchführen, oder soll ich jemand anderen fragen?«, fragte der Prinz.

Nevins Onkel stöhnte und raufte sich die langen, graubraunen Haaren. »Du wirst noch mein Tod sein, Bursche! Mein Tod!«

Dilek stammelte irgendwelche unzusammenhängenden Worte vor sich hin, während Nevin mit zufriedener Miene die Arme verschränkte.

»Gut, abgemacht. Ich weiß auch schon, wo wir es durchführen werden. Im Wald, weiter östlich, wo die Steilklippen sind. Das Ungeheuer ist ein Wasserdrache, oder? Dann wird er das Land wahrscheinlich umgehen wollen. So locken wir den Urdrachen weg von dem Festland und ich glaube, selbst mit seiner kolossalen Größe, sollte er die Ostklippen nicht so leicht hoch schaffen. Fliegen wird er hoffentlich nicht können?«

Dilek und Elyon schüttelten die Köpfe.

»Gut. Ich kümmere mich um alles für die Nacht. Elyon, wir treffen uns wieder hier, wenn du so weit bist.«