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16.1 Nevins Glück

Als Nevin das letzte Dokument unterzeichnet hatte, legte er mit einem langen Seufzer die Feder ab und massierte sich die rechte Hand, die vor Anstrengung brannte.

Die letzten fünf Tage hatte er auf seiner Burg in Adlerstal verbracht und war endlich seinen ganzen Pflichten als Thronfolger nachgekommen. Tage und Nächte hatte er in seinem Arbeitszimmer gesessen und die meiste Zeit mit den Bergen an Dokumenten, Briefen und Anschreiben verbracht. Er hatte es nicht mehr aufschieben können. Unglücklicherweise, hätte er in dieser Woche auch Prinzessin Elyon finden müssen. Stöhnend rieb er sich die Stirn. Morgen würde Davenius kommen, der alles, was Nevin nicht geschafft hatte, ihrem Vater berichten würde. Dilek hatte die Suche übernommen. Noch war nichts verloren. Vielleicht hatte sein bester Freund ja heute Glück.

Es klopfte an der Tür und sein Diener Naias trat ein. Der schwarzhaarige Mann verbeugte sich mit einem warmen Lächeln und legte einen Umschlag auf Nevin Arbeitstisch. Der Tisch war ein Geschenk von Finan, der ihm das kostspielige, aus Kirschholz gemachte Möbelstück gegeben hatte, da er der Meinung war, dass seine schäbige Burg dringend eine bessere Einrichtung brauchte.

»Eure Hoheit, ein Brief von Fürst Merin, so eben eingetroffen.«

»Fürst Merin. Ich hoffe, die Hilfsgüter sind unbeschadet bei ihm angekommen. Es hat die letzten Wochen stark geregnet.«

»Das sind sie, Eure Hoheit.«

Nevin nahm den Brief an sich, brach das Siegel und faltete das cremeweiße Papier auseinander.

Ihre Kaiserliche Hoheit, Prinz Ilias Nevin von Rovis,

ich vermag es kaum, finde keine Worte, um meinen überfließenden Dank an Euch zu verfassen.

Nach der Dürre in unserem Fürstentum, und nach der Weigerung des Kaisers uns von den Abgaben an die Kaiserstadt zu befreien, hatten wir bereits eine große Hungersnot befürchtet. Doch Ihr habt mal wieder Euren Großmut bewiesen und seid uns zur Hilfe geeilt.

Wir haben all die Hilfsgüter bekommen. Ihr habt in Eurem Brief ausgedrückt, dass Ihr leider nicht mehr tun konntet, als uns etwas Getreide, Linsen und Dörrfleisch zu senden, doch Ihr habt mit Eurer Gabe viele Familien gerettet, die sonst verhungert wären.

All Eure Untertanen sind Euch zutiefst dankbar und blicken Eurer zukünftigen Herrschaft voller Hoffnung und Freude entgegen. Seid sicher, dass Ihr in meinem Hause stets Freunde finden werdet, die Euch zur Seite stehen möchten, wie auch immer es uns möglich sein mag.

Möge es Ihnen stets wohlergehen. Ich verbleibe Eurer treuer und dankbarer Diener,

Fürst Merin von Weidenen

Erleichtert legte Nevin den Brief in seiner obersten Schublade und stand auf. Wenigstens eine gute Nachricht. Naias öffnete die Tür für ihn und sagte voller Inbrunst: »Fürst Merin wird nun und in Zukunft an Eurer Seite stehen. Ihr habt einen wertvollen Verbündeten gewonnen.« Naias, schloss die Tür und folgte ihm durch den spärlich möblierten Gang.

»Das wäre natürlich von Vorteil. Aber selbst wenn er mich später nicht unterstützt. Es gibt andere Dinge, die wichtiger sind.«

»Alle wissen, dass Ihr es nicht getan habt, um Euch Gunst zu verschaffen. Schon in Eurer Kindheit wart ihr großzügig und mitfühlend.«

Nevin seufzte und betrat sein Lesezimmer. Die ergrauten Samtsessel, die in der Mitte des Raums um einen Teetisch standen, waren einmal grün gewesen, doch Nevin benutzte sie immer noch gerne, da sie einst seiner Mutter gehört hatten.

»Ich glaube nicht, dass sie weiterhin so freudig bleiben, wenn sie erfahren, dass ihr zukünftiger Kaiser ein abscheuliches Ungeheuer ist.« Nevin ließ sich auf einen der Sessel fallen und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.

Naias hatte bereits alles für einen Tee bereitgestellt und begann, die getrockneten Kräuter, mit einem silbernen Löffel in ein dünnes Baumwolltuch zu portionieren.

»Eure Hoheit, Ihr seid kein Ungeheuer. Wenn ich es mir erlaubten darf, Ihr seht immer prächtig aus, als Mensch und als Drache.«

Naias war nur etwas jünger als Nevins Vater, doch kein graues Haar war in seiner dunklen Mähne zu entdecken. Nur die Krähenfüße neben seinen stechend blauen Augen verrieten, dass er bereits alterte. Der treue Diener, der an Nevin Stelle für Ordnung auf der Burg und in dem umliegenden Dorf sorgte, reichte ihm eine warme Porzellantasse, gefüllt mit einem scharf riechendem Tee.

»Selbst mit kurzen Haaren?«, spottete Nevin.

»Selbst mit kurzen Haaren.« Naias lachte herzlich.

Nevin schaffte es nur einen Schluck Tee zu sich zu nehmen, ehe es wieder klopfte und ein weiterer Diener eintrat. »Eure Hoheit, Hochwohlgeboren Dilek von Rovistal ist hier.«

Sein bester Freund trat ins Zimmer. Die Lider hingen schlaff über seine graublauen Augen und genau so schlaff hingen auch seine Schultern. Nevin sprang auf und ging seinem besten Freund mit offenen Armen entgegen.

»Dilek! Endlich bekomme ich wieder dein zynisches Gesicht zu sehen!«

Dilek prustete leise und klopfte Nevin in der Umarmung auf die Schulter.

»Du wirst nicht mehr so erfreut sein, mich zu sehen, wenn ich dir die schlechten Nachrichten überbringe.«

Nevin seufzte, ließ ihn los und ließ sich zurück auf sein Sessel fallen.

»Ich sehe es dir bereits an. Du hast sie nicht gefunden.«

Dilek setzte sich auf den zweiten Sessel und rieb sich die müden Augen.

»Ich habe sie nicht gefunden.«

»Nun denn, ich schätze spätestens nächste Woche werde ich wieder zurück in der Hauptstadt sein, damit mein Vater mich mit seiner Klinge ein letztes Mal begrüßen kann.« Ein trauriges Lächeln huschte über seine Lippen.

Dilek verdrehte kopfschüttelnd die Augen und nahm die Tasse Tee entgegen, die Naias für ihn zubereitet hatte.

»Sei nicht so melodramatisch, Nevin. Natürlich fliege ich dich heute wieder zurück zur Singbucht und dort bleibst du auch, bis wir neue Pläne gefasst haben. Dein Vater wird dich niemals finden.«

»Das wage ich zu bezweifeln. Mein Vater ist der Kaiser. Wenn er etwas finden will, dann hat er die Macht, das Geld und die Ressourcen es zu finden«, gab Nevin zurück, setzte sich vernünftig auf seinen Sessel hin und nippte an seiner eigenen Tasse. Die warme Schärfe der Kräuter belebte ihn wieder etwas.

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»Wenn dem so wäre, hätte er schon längst selber die Prinzessin gefunden«, murrte Dilek.

»Eure Hoheit, ich bin mit Dilek einer Meinung. Ihr solltet nach Eurem Tee gleich aufbrechen. In der Singbucht seid Ihr sicher.«

»Ich weiß. Ich weiß, es wäre das Beste für mich. Aber ich mache mir Sorgen um dich und die ganze Dienerschaft, Naias. Ich will euch nicht unbeschützt hier zurücklassen.« Nachdenklich ließ er den grünen Tee in seiner Tasse kreisen. »Und wer weiß? Vielleicht verschont mich mein Vater. Bis jetzt hatte ich irgendwie immer Glück und bin dem Schwert meines Vaters entkommen. Vielleicht wird es auch dieses Mal der Fall sein.«

»Ich gebe zu, dass du wirklich immer unverschämtes Glück hast. Schon seit wir klein sind passieren dir die glücklichsten Zufälle. Aber du solltest lieber auf einen weiteren glücklichen Zufall in der Singbucht warten. Jaro ist unruhig. Er will, dass du zurückkehrst.«

»Eure Arbeit hier ist getan. Den Rest kann ich wieder für Euch übernehmen«, warf Naias ein.

»Danke, Naias. Ich schätze wirklich sehr, wie viel du für mich tust.« Nevin lächelte breit. »Und keine Sorge, ich werde sogleich aufbrechen.«

»Wir sollten uns beeilen. Aiven und Tessa warten auf uns im Dorf.« Dilek stürzte den restlichen Tee hinunter und stand auf.

»Du hast sie hierher gebracht?«, wunderte Nevin sich und stellte die Tasse wieder zurück auf den Teetisch.

»Ja. Niemand war frei, um sie von der Südküste abzuholen. Also hab ich mich angeboten. Ich hab sie sofort ins Gasthaus gebracht. Und die Bewohner des Dorfes haben sie wie immer, aus sicherer Entfernung beobachtet. Du hast Glück, dass die Einwohner hier so überfürsorglich sind, wenn es um dich geht und es nicht an die große Glocke hängen, wer der Burgherr in Adlerstal ist.« Dilek löste den Wasserschlauch von seinem Gürtel und gab ihm Naias, der bereits eine Karaffe mit Wasser in der Hand hielt.

»Haben sie schon irgendwelche Hinweise auf ihre Cousine gefunden?«, fragte Nevin.

»Leider nicht. Niemand von unseren Leuten hat in letzter Zeit weibliche Drachen gesichtet. Sie sind dementsprechend sehr niedergeschlagen.«

»Sie tun mir leid. Hoffentlich finden wir sie bald.« Nevin stand auf und ging aus dem Zimmer, gefolgt von Naias und Dilek. Als sie die Eingangshalle betraten, fand Nevin all seine Diener dort versammelt, um sich von ihm zu verabschieden. Es waren zwanzig Personen. Sie alle waren von dem Fluch auf irgendeine Weise betroffen. Einige hatten Verwandte und Freunde die in der Singbucht lebten. Andere hatten ihre Lieben durch die Drachenjäger verloren. Wieder andere vermissten Menschen, die sich durch den Fluch vollständig in Drachen verwandelt hatten.

Zwanzig waren eine viel zu kleine Zahl an Dienern für einen Thronfolger. Doch Nevin brauchte nicht mehr. Und er konnte ihnen vertrauen. Funkelnde Augen und mehr als nur ein warmes Lächeln wurde ihm von seinen Dienern zuteil.

»Danke für all eure gute Arbeit. Ich bin sehr zufrieden. Lebt wohl, alle miteinander«, sagte Nevin.

Seine Diener verbeugten sich und blieben zurück. Nur Naias folgte ihm nach draußen in den Hof.

»Naias, möge es dir wohlergehen. Pass gut auf dich auf. Wenn morgen mein Bruder kommt, vertraue ich darauf, dass du danach die richtigen Entscheidungen triffst, damit alle sicher sind. Solltest du Vaters Zorn fürchten, schreib mir und flieh.« Nevin drückte Naias' Schulter.

»Jawohl Eure Hoheit. Ich werde dafür sorgen, dass niemandem etwas zustößt.«

Dilek und Nevin verabschiedeten sich. Nach dem Burgtor führte sie ein steiler weg den Hügel hinab, auf dem die Burg stand. Dilek folgte ihm nachdenklich in Richtung des Dorfs, das wie ein Ring um die Burg lag.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Nevin.

Dilek seufzte. »Vieles. Die Prinzessin. Dein Vater. Was wir als Nächstes tun sollten.«

»Ich will immer noch eine Möglichkeit finden, diesen Fluch aufzuheben. Selbst wenn ich dafür in den verbotenen Osten reisen muss.«

Dilek blieb stehen und starrte ihn entgeistert an.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich es tun werde. Das ist nur mein Notfallplan. Sollte ich hier keine Lösung mehr finden. Du brauchst dich also noch nicht aufzuregen. Spar es dir für später auf.« Nevin warf ihm ein verschmitztes Grinsen zu. Der Weg ebnete sich, als sie den Dorfrand erreichten. Rechts, auf der anderen Seite der Straße, saß das größte und älteste Haus im Dorf, wo sich der Gasthof befand.

»Nevin, wegen dir werde ich noch vorzeitig graue Haare bekommen!« Dilek Laufschritte hämmerten auf dem plattgetreten Erdboden. Nevin lachte und rannte auf das alte Haus zu, dem einzigen Gasthof des Dorfes, Zum Großen Adler. Er stieß die alte, abgewetzte Holztür auf und trat in den hellen Gastraum ein. Durch die großen, runden Fenster, die im Süden des Landes sehr beliebt waren, war der großzügige Raum selbst durch das graue Wetter noch gut beleuchtet. Tessa und Aiven saßen an der Theke, zwei Gläser Kräuterbier vor ihnen, über die ihre langen Gesichter so tief gebeugt waren, dass Tessas kurzes, hellblondes Haar fast das goldene Getränk berührten.

»Ich gebe nicht auf Tessa, ich weiß, dass sie noch am Leben ist«, sagte Aiven gerade.

Tessa seufzte und öffnete gerade den Mund, um etwas zu erwidern, als Nevin ihre Unterhaltung unterbrach.

»Hallo, ihr beiden. Tut mir leid, dass ich euch so lange habe warten lassen.«

Die Cousins drehten sich zu ihm um. Ein müder, verzagter Blick lag in Tessas Augen. Der von Aiven war nicht viel besser, doch Nevin sah immer noch einen winzigen Funken in den braunen Augen.

»Mach dir keine Sorgen. Wir konnten uns etwas ausruhen, bevor wir weiterreisen«, sagte Aiven und gab Nevin die Hand. Tessa nickte ihm nur zu. Was körperliche Nähe anging, schien sie diese nur Aiven zu erlauben. Zumindest hatte Nevin sie noch nie mit einer der anderen jungen Frauen gesehen.

Sie stand mit Aiven auf und zog genervt an ihrem Rock, der sich im rauen Holz des Stuhls verfangen hatte. Der braune Stoff riss und löste sich von dem Stuhl.

Tessa seufzte. „Das nächste Mal, gebe ich mich als Mann aus. Ich kann immer noch nicht verstehen, warum Frauen in Rovis keine Hosen tragen dürfen."

Nevin zuckte die Achseln und führte sie zu dem Wald, der nicht weit hinter dem Gasthaus lag.

»Unsere Bräuche sind anders. Leider haben Frauen hier eine nicht ganz so gleichberechtigte Stellung wie in Höhental. So streng eure Sittsamkeit auch ist, bewundere ich die Tatsache, dass Frauen überall in Höhental mit eingeschlossen werden«, sagte Nevin.

»Gibt es nicht eine Möglichkeit, die Stellung der Frauen hier im Kaiserreich zu verändern?«, fragte Aiven.

Nevin musste ein Schmunzeln unterdrücken. Er konnte den Cousins schlecht sagen, dass die Gleichberechtigung der Frauen ein weiterer Grund war, warum Nevin es auf sich nahm, der Thronfolger zu bleiben.

»Wer weiß, vielleicht besteigt einmal ein Kaiser den Thron, der etwas bewirken kann«, sagte Nevin und handelte sich dafür einen strengen Blick von Dilek ein. Er sollte wohl besser nichts weiter sagen.

»Soll ich euch fliegen?«, fragte Nevin, als sie wieder von Bäumen geschützt waren.

»Teilen wir sie auf. Ich hab nicht mehr so viel Wasser übrig«, sagte Dilek und verschwand hinter einer breiten Eiche.

Nevin suchte sich ebenfalls einen Stamm aus, hinter dem er sich ausziehen konnte. Die letzten zwei Tage war es ihm schwergefallen, den Fluch zurückzuhalten. Je länger er sich nicht verwandelte, desto schlimmer drückte und schmerzte seine Narbe. Deswegen war das Ziehen und Brennen, dass durch Nevin Glieder fuhr fast schon erleichternd, als er dem Fluch endlich freien Lauf ließ.

Sobald er sich verwandelt hatte, nahm Aiven seine Tasche und schlang sie über seine linke Schulter. Tessa hatte Dileks Tasche bereits an sich genommen und saß auf seinem Nacken. Nevin legte sich wie Dilek flach auf dem Boden hin, damit Aiven aufsteigen konnte.

»Ich glaube nicht, dass mein Magen sich jemals mit eurer Art zu fliegen anfreunden wird«, bemerkte Aiven, als er oben saß.

»Dann hoffe ich mal, dass dir das Bier nicht wieder rauskommt. Ich will keine gelben Flecken auf mein blütenweißes Fell«, scherzte Nevin und folgte Dilek durch die Baumkronen.