Nevin war gerade eingeschlafen, als ihn jemand an der Schulter rüttelte. Er fuhr hoch und blinkte um sich. Es war stockfinster. Er schüttelte leicht den Kopf und griff auf seine Drachensicht zurück. Der Raum war nun so klar zu sehen, als wäre es Tag.
Einer seiner eigenen Männer aus der Singbucht stand neben seinem Bett und bedeutete ihm zu folgen. Nevin ächzte leise, warf die Bettdecke zur Seite, dann schlich er vorbei an den liegenden Stallburschen aus der Schlafkammer heraus.
»Bist du wahnsinnig? Was machst du hier? Warum bist du nicht beim Waffenlager?«, zischte Nevin.
»Draußen«, murrte Dilek. Seine Augen blitzten gelblich im dunklen Flur.
Es musste wichtig sein. Sie hatten sich schon seit Wochen nicht mehr gesehen um es zu vermeiden, dass sie als Spione aus der Singbucht entlarvt wurden. Nevins Kopf begann jetzt schon zu schmerzen. Zu wenig Schlaf. Zu viele Probleme.
»Wir müssen sofort aufbrechen«, platzte Dilek heraus, als sie sich draußen hinter dem Schutz eines Schuppens gestellt hatten.
»Was? Wir sind noch lange nicht fertig.« Nevin verschränkte die Arme.
Dilek schüttelte den Kopf. »Es ist eine Nachricht gekommen. Sie haben einen unserer eigenen Drachen als Eilboten hergeschickt.«
»Hat ihn jemand entdeckt?«, fragte Nevin erschrocken.
»Nein. Es war Milo.«
Nevin atmete erleichtert auf. Der weiße Drache hatte die Fähigkeit sein Fell seiner Umgebung anzupassen, um so unbemerkt zu bleiben. Auch seine relativ kleine und dünne Drachengestalt war für solche Missionen von Vorteil.
»Was überbringt er?«
»Dein Onkel hat ihn geschickt. Wir sollen sofort alles abbrechen und zurückkehren. Die Prinzessin ist verschwunden.«
»Verschwunden? Wie meinst du das? Was ist mit Juna?«
»Sie ist bereits zurück in der Singbucht. Sie hat uns die Nachricht überbracht, dass die Prinzessin spurlos verschwunden ist.«
Nevin stand wie benommen da. Juna war von ihm zur Sturminsel geschickt worden und hatte sich eine Position als Kammerzofe von Prinzessin Elyon ergattert und um ihn so in regelmäßigen Abständen über sie und den Hof ihres Vaters zu berichten. Die Prinzessin war ein wichtiger Bestandteil seines Plans.
»Offiziell heißt es, die Prinzessin wäre von einem Bären getötet worden. Doch das kann nicht sein. Das wissen wir beide. Juna vermutet, dass sie einer Heirat entgehen wollte und geflohen ist.«
Nevin rieb erschöpft sein Gesicht.
»Nevin, du solltest wirklich gehen. Wir brauchen dich in der Singbucht. Du hast dich sowieso mit deiner Reise hierher gegen deinen Onkel gestellt. Gehorche ihm wenigstens jetzt.«
»Nein. Ich kann noch nicht weg. Ich habe zwei Leuten hier versprochen ihnen zu helfen. Sie wollten mit in die Singbucht. Und wir brauchen die Schriften, sonst kommen wir nicht weiter, selbst wenn wir die Prinzessin finden sollten.«
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»Hör auf dir so stark die Augen zu reiben«, sagte sein langjähriger Freund mit besorgten Miene.
»Geh. Fliege diese Nacht los und überbringe meinem Onkel, dass ich dir in zwei Tagen folgen werde. Hat Milo etwas über unsere Leute in den Hafenstädten gesagt?«
»Wir haben sie bereits auf die Prinzessin angesetzt.«
»Gut. Mein Onkel weiß, was zu tun ist.«
Dilek sah ihn nachdenklich an. »Nevin, ich weiß, dass du ein hervorragender Menschenkenner bist. Aber sei vorsichtig. Vertraue den Leuten, die du erwähnt hast, nicht zu schnell. Sie sind aus Höhental. Wir können nichts riskieren. Es steht zu viel auf dem Spiel.« Dilek legte eine Hand auf Nevins Schulter. Sein Blick verzerrt mit Sorge.
»Vertraue mir. Ich weiß was ich tue. Ich werde bald nach dir wieder zurück in der Singbucht sein. Mit den Schriften. Und so werden wir hoffentlich dem Geheimnis des Drachenfluches einen Schritt näher sein.«
»Es wird übrigens unser letzter Einsatz hier sein«, erklärte Dilek. »Dein Onkel will es so. Wir werden heute Nacht alle von hier wegfliegen. Du wirst alleine zurückbleiben.« Die letzten Worte richtete er mit einem drängenden Ton an Nevin.
Doch auch der Fakt, dass er alleine zurückbleiben würde, brachte ihn nicht ab von seinem Plan. Die Singbucht brauchte die Schriften.
Nevin seufzte. Der Gedanke in diesem fremden Land allein zu bleiben brachte seinen Kopf noch mehr zum Pochen. Er hatte Höhental, mit seinen selbstgerechten Lehren und Gesetzen langsam satt. »Sollte ich nicht in vier Tagen zurück in der Singbucht sein-«
Sein Ohr zuckte, als er ein leises Rascheln im Gras vernahm. Dilek war still wie eine Statue. Er hatte es auch gehört.
Nevin nickte kurz. Dann sprang er hoch und landete schwebend auf das Dach. Im Schatten des Schuppens kauerte eine Gestalt. Ein Wappen war auf dem Rücken seines Hemdes angenäht. Das Wappen der Landeswächter.
Nevin biss die Zähne zusammen. Er hasste es. Es musste jedoch sein. Er sprang nach vorne und ließ sich auf die Person fallen. Aus seinen Fingern fuhr er die Krallen heraus und steckte sie dem Mann in den Nacken. Er gurgelte erschrocken, dann fiel sein Körper in sich zusammen und er blieb regungslos liegen. Schnell zog Nevin sein Hemd aus und wickelte es um den Hals der Leiche. Dilek war bereits zur Stelle und hievte die Leiche auf seine Schulter.
Beide horchten auf weitere Geräusche, suchten die Gegend mit Hilfe ihrer Drachensicht ab. Doch der Wächter war alleine gekommen. Nevin biss die Zähne zusammen. Wieder klebte Blut an seinen Krallen.
»Es musste sein. Du hast richtig gehandelt«, murmelte Dilek leise. »Vergiss ihn schnell. Du hast andere Sorgen. Wann hast du vor dich um die Schriften zu kümmern?«
»Morgen Nacht.«
»Gut. Aber du musst gleich danach von hier verschwinden. Der hier wird sicher vermisst werden.«
Nevin betrachtete die Kleidung des Mannes. Das dunkelrote Hemd trugen nur die persönlichen Männer der Landeswächter. Sie waren ihnen auf der Spur. Sein Onkel hatte recht. Es würde die letzte Mission in Höhental sein. Morgen Nacht musste er alles zu Ende bringen.
»Vergiss es nicht. Sollte ich dich nicht spätesten in vier Tagen in der Singbucht sehen, werden wir deinen Vater unterrichten müssen.«
Nevin seufzte. Das musste um jeden Preis vermieden werden. Er spürte jetzt noch die Klinge, die sein Vater ihm das letzte Mal an die Kehle gehalten hatte.
»Ich werde da sein.«
Dilek drückte Nevins Schulter und schlich davon um die Leiche für Nevin zu entsorgen. Statt zurück in sein Zimmer zu gehen, rannte Nevin lautlos und barfuß über das Gras zum nächsten Brunnen um das Blut von seinen Fingern abzuwaschen. Ihm wurde übel. Wegen des Blutes und den Kopfschmerzen. Er nahm einen tiefen Zug von der kühlen Nachtluft.
Bald würde er hier wieder weg sein. Nur noch eine Nacht. Doch dann würde einer entlaufenen Prinzessin suchen müssen.
»Was habt Ihr nur angestellt, Prinzessin Elyon?«