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21 Alinas Leid

Alina stöhnte, als lautes Vogelgezwitscher sie aus dem Schlaf riss. Aus irgendeinem Grund, fiel ihr das Aufwachen heute besonders schwer. Eine schlimme Ahnung drückte in ihrer Brust. Doch sie konnte nicht benennen, was genau es war. Alina drückte ihre Wange tiefer in das Kissen hinein.

»Alina? Ich bin hier. Du bist nicht allein. Ich bin hier.« Warum zitterte Tessas Stimme so? Sie klang heiser. Nicht wie Morgenheiserkeit, eher so, als würde sie weinen. Mit zitternden Lidern öffnete Alina ihre Augen und blickte direkt in Tessas Gesicht, das mit roten Flecken übersät war.

Wieder drückte ein pechschwarzes Gefühl ihre Brust zusammen und Alina setzte sich langsam auf, während sie versuchte, ihre benebelten Gedanken zu ordnen.

Sie lag auf einem Bett. Wieso? Und wo war sie eigentlich zuletzt gewesen?

Dann kam sie. Die Erinnerung. Wie eine eiskalte Hand packte sie ihr Herz, presste ihre Lungen und ihre Kehle zusammen. Aiven. Aiven war nicht mehr.

Alina schnappte nach Luft, immer wieder, während das schreckliche Gefühl sich durch ihre Glieder ausbreitete, immer mehr von ihr in Besitz nahm und sie mit einer grausamen Leere erfüllte.

Die Tränen brachen heraus, ein Jammern durchschüttelte ihren Körper, während sie mit erstickter Stimme immer wieder Aivens Namen von ihren Lippen heraus zwängte.

Dumpf spürte Alina, wie sich Arme um sie legten und ein Kopf auf ihre Schulter. Die Berührung brachte eine neue Schmerzwelle durch ihre Körper. Ihr Herz schien nicht mehr zu schlagen, sondern nur noch zu wallen, als würde es unaufhörlich bluten.

Tessa wisperte ihr irgendetwas zu, doch es half nicht. Weder ihre Umarmung, noch ihre Worte. Nichts. Es gab nichts das helfen konnte. Der Schmerz wurde nur größer und schlimmer, je mehr Zeit verging, seitdem sie ihren Bruder das letzte Mal lebend gesehen hatte.

Sie war nicht mehr. Sie war nur noch der Schmerz.

Bald klebten ihre Hosen an der Haut. Dort wo ihr Leid, durch ihre Augen und ihre Nase seine tropfenden Spuren hinterließ.

»Ich weiß, es tut weh. Ich weiß, es ist schrecklich«, wimmerte Tessa.

Das war das Letzte, was Alina noch hörte, ehe das Schluchzen und Jammern wieder ungebändigt ihren Körper erschütterte. Der Schmerz nahm kein Ende. Er nahm einfach kein Ende. Alina war sich sicher, sie würde ebenfalls sterben. Ihr Herz würde jeden Augenblick nachgeben. Doch es blutete immer weiter.

Betäubt lehnte sich Alina an Tessa. Ihre Augen brannten. Ihre Nase war so dicht, dass sie nur noch durch den ausgetrockneten Mund atmen konnte.

Die Tür ging auf. Es klang wie Nevin. Verschwommen sah sie, wie Gilwa sich vor ihr aufs Bett setzte und ihr irgendetwas sagte. Sie sah ihn kurz an, sah kurz Lenius an, der neben Gilwa stand. Das war alles, was sie ihnen geben konnte. Ein Blick.

Es kamen keinen Tränen, doch das wallende Gefühl in ihrer Brust ließ nicht nach. Wann würde es aufhören? Würde es jemals aufhören? Alina hätte sich nicht darüber gewundert, wenn sie ein klaffendes Loch in ihrer Brust gefunden hätte.

»Alina.« Tessa legte eine Hand auf Alinas Schulter. »Aiven wird begraben. Wir müssen uns von ihm verabschieden.«

Alina hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war. Sie befanden sich irgendwo hinter dem Burggarten. Sie hatte noch die Birnenbäume des Obstgartens und ein paar verfaulte Früchte auf den Boden liegen gesehen.

Doch jetzt waren sie woanders. Eine mit weißen Tüchern eingewickelte Leiche wurde auf eine Bahre vor dem Loch getragen, das vor ihnen im Boden ausgegraben worden war. Vorsichtig ließen Nevins Diener mit der Hilfe von Seile die Liege hineinsinken.

Es dauerte eine Weile, bis Alina begriff, das es Aivens Körper gewesen war. Erst als die Diener mit ihren Schaufeln das Loch zugrabten und einen Erdhügel formten, genauso hoch wie die der anderen Gräber, begriff sie es. Sie fiel schluchzend auf die Knie und entwischte Tessas Griff, die sich sofort zu ihr hinunterbeugte und sie wieder an den Schultern hielt.

Es war falsch. Es fühlte sich so falsch an. Dieses Grab, dass Aiven nun unter so viel Erde lag, dass sie hier alleine mit Tessa stand, keine anderen Familienmitglieder in Sicht. Das Grausamste war die weiße Kerze, die Nevin gerade in die höchste Stelle des Erdhügels steckte. In Höhental waren sie rot. Wie das Land, in dem Aiven geboren worden war.

Alina wollte die Kerze aus dem Hügel reißen. Den Hügel ausgraben. Aiven aus der kalten, dunklen Erde herausholen. Doch sie konnte ihren Körper nicht bewegen, der im Takt ihres Schluchzens bebte.

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Nevin trat näher an den Hügel und führte ein angezündetes Streichholz an den Docht. Seine Augen waren gerötet. Auch seine Lippen. Wieso weinte er? Wut flackerte inmitten von ihrer blutenden Brust auf und brachte sie wieder auf die Füße. Er hatte kein Recht zu weinen, er kannte Aiven nicht. Doch dann zündete er die Kerzen der anderen Gräber an, sieben an der Zahl. Er weinte für die anderen. Die Wut verging, der Schmerz nicht. Er bekam nur noch mehr Platz in ihr.

Nevin kam zurück, stellte sich vor Aivens Grab und steckte eine große Feder vor der weißen Kerze in die Erde. Eine braunschwarze Fasanenfeder.

Neue Tränen quollen aus ihren Augen hervor. Es musste eine Goldene sein. Keine elende Fasanenfeder.

Alinas unaufhörliches Schluchzen, brannte in ihrer Brust und sie stand kurz davor, eine Hand in die Brust zu stecken um alles herauszureißen, was diese grausamen Gefühle in ihr hervorriefen. Tessas Arm packte sie fester.

»Aiven von Rappenfeld. Seine kurze Flamme, die das Leben auf dieser Welt darstellt, ist erloschen. Viel zu früh.« Nevin hielt inne und senkte den Kopf. »Sein Leben endete gestern und auch wenn er nicht mehr ist, nie wieder sein wird, bleiben die Erinnerungen an ihm erhalten. Wir werden ihn nie wiedersehen, doch sein Blut besteht weiter. Durch seine Eltern. Durch seine Geschwister. Durch seine Zwillingsschwester. So sind es Erinnerungen und sein Blut, die an die Zukunft weitergegeben werden. Er hat sich durch seine aufopfernde Liebe zu seiner Schwester, zu dem Rest seiner Familie, als einen ehrenhaften, gütigen Menschen ausgezeichnet und wird als Beispiel für uns alle dienen, dessen Lebensflammen noch weiter brennen. Wir leben weiter. Für ihn, für unsere Lieben, für alle, die gestern von uns gegangen sind.«

Alinas Beine gaben wieder nach. Sie heulte in das Gras hinein. Weitere Arme legten sich um sie und ihr Gewicht drückte sie nur noch tiefer zu Boden.

Ihre Brust brannte. Immer mehr. Wieder sehnte Alina sich danach, in sie hineinzugreifen, um ihr Herz zu packen und es herauszureißen. Vielleicht konnte das ihr Erleichterung schaffen. Vielleicht tat das weniger weh, als hier vor Aivens Grab zu stehen, im Wissen, dass sie ihn niemals wiedersehen würde.

Nie wieder würde sie seine Stimme hören. Nie wieder würde er sie im Spaß beleidigen. Nie wieder in den Arm nehmen. Nie wieder die Fleischstücke aus ihrem Eintopf stibitzen. Nie wieder neben ihr liegen und leise schnarchen. Selbst seine kratzigen Bartstoppeln hätte sie nun um jeden Preis wieder an ihrer Wange spüren wollen.

Alina jammerte in den Boden hinein, so lange, bis ihre Stimme nachließ. Bis sie nur noch lautlos weinte, während sie verzweifelt versuchte, sich an Aivens Stimme zu erinnern. An jedes Wort, das er jemals zu ihr gesagt hatte. An sein Lächeln. Wie seine Augenbrauen sich gehoben haben, wann immer er gelacht hat.

Doch alle Erinnerungen begannen jetzt schon zu verblassen. Alina war sich jetzt schon nicht mehr sicher, ob seine Stimme rauer oder sanfter klang, als ihre eigene. Wie sahen seine Augen nochmal genau aus? Eher grün? Eher braun? Warum konnte sie sich nicht erinnern?

Ihre Arme zitterten. Sie durfte nicht vergessen, konnte nicht vergessen. Als könnte Alina so besser die Erinnerungen festhalten, ballte sie die Hände zusammen und setzte sich hin, legte das Gesicht zwischen ihren Knien. Die nassen Wangen durchnässten den Hosenstoff.

»Alina. Es ist vorbei. Lass uns reingehen. Du hast heute noch nichts gegessen«, wisperte Tessa ihr zu. Alina schüttelte mit einem lauten Jammern alle Arme von sich ab und kroch näher an das Grab heran. Niemand folgte ihr. Irgendwann entfernten sich alle Schritte. Irgendwann, huschten nur die Vögel an ihr vorbei, singend, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen.

Mit neuen Tränen, lehnte sie ihren Oberkörper an den Erdhügel und schloss die Augen.

»Alina, du musst was essen, oder zumindest was trinken«, röchelte Tessa.

Alina schüttelte nur leicht den Kopf und schloss wieder ihre brennenden Augen. Fast war es, als könnte sie das Salz spüren, das an ihren Wimpern hing.

»Bitte, du musst unbedingt was zu dir nehmen.«

Etwas Kühles berührte ihre Lippen. Alina riss die Augen auf. Tessa hielt ihr einen Kelch mit Wasser hin. Schnell wandte sie den Kopf ab und legte ihr Gesicht auf den Erdhügel. Sie wünschte, es gäbe nichts außer dem Geruch der Erde in ihrer Nase. Sie wünschte, sie könnte die Erde sein. Still, ohne Gefühle. Für immer mit Aiven verbunden.

»Alina. Ich weiß wie schwer es ist. Aber du musst was trinken und essen. Für Aiven. Er würde nicht wollen, dass du nicht auf dich achtgibst.«

Ein furchtbarer Stich fuhr durch ihr Herz.

Nein. Tessa wusste gar nichts. Sie hatte ihren Bruder jetzt wieder. Und er war nicht ihr Zwilling. Sie hatten noch nicht mal ihre Zimmer geteilt. Geschweige denn, den Bauch ihrer Mutter.

Alinas Kehle war so trocken, dass sie kein einziges Wort über die Lippen bringen konnte. Selbst wenn sie keine Halsschmerzen gehabt hätte, hätte sie keine Kraft gehabt, um Tessa irgendetwas zu sagen. Was machte es schon für einen Sinn? Wozu reden? Wozu essen? Trinken? Schlafen? Atmen? Sie wünschte, sie könnte mit allem einfach aufhören. Einfach aufhören zu sein. Nicht zu sein, war gewiss erträglicher, als dieses riesige Loch in der Brust mit sich zu tragen.

Sie legte die Arme um ihren klammen Oberkörper. Da kam, ganz schwach, eine andere Erinnerung in ihr hoch. Alina löste die Arme wieder von sich, fasste mit einer Hand an das Gelenk der anderen und fühlte nach der Narbe. Es gab einen Weg zu entkommen.

»Alina? Was ist los?«

Kurz zögerte sie noch, doch dann drückte Alina mit der Hand auf die Narbe und zum ersten Mal, fühlte sich die gleißende Hitze, die durch ihren Körper strömte wie eine Erlösung an. Doch sie dauerte nur kurz.

»Was um alles in der Welt ...? Wieso hast du dich verwandelt? Alina! Was machst du da?!«

Alina fühlte in sich hinein. Doch ihre Brust fühlte sich immer noch zerschlissen an. Sie brüllte in den Boden, spannte ihre Muskeln an und ließ noch mehr Hitze aus der Narbe frei, in der Hoffnung, dass der Fluch ihren Verstand übernehmen würde. Doch die Wildheit, die sie früher gespürt hatte, kam nicht. Nichts hatte sich verändert, außer ihre Gestalt. Sie streckte dem Himmel ihre Schnauze entgegen und brüllte.

»Alina? Was ist los mit dir? Verwandel' dich zurück!«

Mit einem frustriertem Schnauben, wandte sie sich von ihrer Cousine ab und schleppte sich zu Aivens Grab, wo sie sich um den kleinen Erdhügel hinlegte.

Sie hörte, wie Tessa mehrmals nach Luft schnappte, als wollte sie zum Reden ansetzen, doch am Ende schwieg sie nur. Alles, was Alina noch von ihr hörte, war das Kratzen ihrer Schritte im sandigen Bogen, als sie zurück in die Burg kehrte.

Alina war wieder allein. Sie wartete. Wartete, bis der Fluch ihren Verstand übernahm. Alina wartete bis zum Abend. Am Ende übermannte sie nur eine tiefe Erschöpfung und sie schlief ein.