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Elyons Fluch Band 1 (German)
26.1 Alinas Hoffnung

26.1 Alinas Hoffnung

Alina öffnete ihre Augen ein winziges Stück und schloss sie sofort wieder, als die Sonne ihr entgegenstrahlte. Stöhnend drehte sie sich zur Seite und drückte ihr Gesicht in das kühle, platt gewälztes Gras auf dem sie lag. Sie war in der Nacht ständig aufgewacht und hatte in ihrer Drachenform versucht, einen guten Schlafplatz hinter der Wassermühle zu finden, ohne Erfolg.

Der Schmerz, der immer noch ihre Brust zusammendrückte ließ sogar das atmen zu einer schmerzvollen Aufgabe werden. Die Trauer saugte so viel Kraft weg, dass Alina sich manchmal kaum regen konnte. Sie hatte auf den Fluch gezählt. Darauf gehofft, dass er sie überkommen würde. Stattdessen, hatte sie sich in der Nacht wieder verwandelt und lag nun in ihrem menschlichen Körper, umgeben von hohem Gras und bedeckt von einem langen, schweren Umhang, den Lenius ihr gestern um den Hals gebunden hatte.

Ächzend richtete Alina sich auf. Über ihr am strahlend blauen Himmel, flog ein Schwarm Wildgänse vorbei. Im Hintergrund rauschte der Fluss, das Gras und die Blätter der Obstbäume, von einer Brise berührt. Vögel zwitscherten. Sie hörte sogar ein paar Bienen summen.

Alles war voller Leben. Alles lief, sang, atmete, lebte weiter, nur sie nicht. Sie war stehengeblieben und alles rauschte an ihr vorbei und Alina wusste nicht, wie sie mithalten konnte. Sie wusste nicht, wie sie mit ihrem Verlust sein sollte. Als wäre etwas in ihr mit Aiven gestorben und das, was übrig geblieben war, war zerbrochen.

Ein Seufzen hob ihre Brust und erstarb sofort, als ein Stich durch ihre Lungen fuhr. Als Alina versuchte, den Schmerz weg zu schlucken, kratzte ihr trockener Hals und ein Hustenanfall überfiel sie, durchschüttelte ihren gepeinigten Körper.

»Alina?«, fragte Gilwa vorsichtig, der gerade hinter der alten Wassermühle spähte.

Alina überfiel wieder ein heftiges Husten. Gilwa rannte davon und kam wenig später zurück mit einer Holzschüssel, aus der etwas Wasser heraus schwappte, als der kleine Junge vor ihr stehen blieb. Gilwas zusammengepressten Lippen und die kleine Sorgenfalte zwischen den Augen, bewegten etwas in ihr, so dass Alina nicht anders konnte, als ihren gebeugten Oberkörper aufzurichten und zuzulassen, dass er die Schüssel zu ihren Lippen führte.

Während sie trank, tauchte auch Lenius hinter der Mühle auf, seine dunkelblonden Haare noch völlig zerzaust vom Schlaf. Sie war nicht die Einzige, die das Frühstück verschlafen hatte.

Als er ihren Blick traf, seufzte der junge Mann erleichtert. Lenius hatte sie gestern ständig darum gebeten, sich wieder zurückzuverwandeln.

»Kannst du aufstehen?«, fragte er.

Alina beantwortete die Frage mit einem leeren Blick auf das Gras. Ihre Sicht verschwamm. Gilwa sagte etwas, doch sie hörte seine Stimme nicht deutlich genug, um ihn zu verstehen.

Dann spürte sie Lenius Arme um ihren Rücken und den Kniekehlen und er hob sie vorsichtig vom Boden auf. Wie gelähmt hingen ihre Arme und Beine herab, ihr Kopf fiel gegen Lenius' Brust. Als sie sein Herzklopfen an ihrer Wange spürte, kamen wieder alte Bilder auf. Von ihr und Aiven und wie sie oft ihren Kopf an seine Brust gelehnt hatte. Tränen quollen aus ihren Augen. Alina presste die Lippen zusammen und weinte stumm in Lenius' Armen.

Bald hallte das Kratzen seiner Schritte und die Luft wurde kühler. Sie waren im Tempel. Alina blinzelte die Tränen weg und nahm tief Luft, um den Druck in ihrer Kehle zu erleichtern.

Menschen liefen an ihnen vorbei, Stimmen streiften ihre Ohren. Lenius sprach mit einer von ihnen, eine junge Frau, die sie die Treppen hinauf führte. Als sie vor einem Vorhang anhielten, setzte er Alina vorsichtig ab. Zum Glück kehrte Spannung in ihren Beinen zurück. Schnell wischte sie sich die Tränen von den Wangen.

»Hier, komm rein, dann kleiden wir dich erstmal ein.« Die junge Frau lächelte sie sanft an, doch die leicht verzogenen Brauen über den grünen Augen verrieten ihr Mitleid. Sie hielt Alina den Vorhang auf. Es dauerte einen Moment, ehe sie es schaffte ihre Beine dazu zu bringen sie hineinzutragen.

»Ich heiße Juna. Da du aus Höhental kommst, vermute ich, dass du lieber Hosen anziehen möchtest, nicht wahr? Solltest du irgendetwas brauchen, kannst du mich jederzeit fragen.« Juna trat ebenfalls in den großen Abstellraum ein und ging auf die großen Truhen zu, die Alina gegenüber in der Nähe der Fenster standen, dessen morsche Läden man entfernt und auf der linken Seite des Raums gestapelt hatte.

Juna reichte ihr Kleidung und Schuhe und ging aus dem Raum, sodass Alina sich ungestört anziehen konnte. Sie behielt den Umhang an, den sie enger um sich zog, sobald sie durch den Vorhang zurück zu dem langen, aus Sandstein gebauten Flur trat.

»Komm mit! Jetzt gibt es Mittagessen!« Gilwa nahm Alinas Hand und zog sie mit sich nach unten, zunächst zum offenen Innenhof, dann in den rechten Gebäudeflügel in einen großen Saal zu ihrer Linken.

Filzstücke lagen verteilt auf dem Boden, auf denen Menschen saßen und in kleineren Gruppen das Mittagessen zu sich nahmen, während sie sich gleichzeitig miteinander unterhielten. Die lauten Stimmen dröhnten in Alinas Ohren. Dabei war der Saal nur halb voll.

Während Lenius ihnen etwas zu Essen holte, setzten Alina und Gilwa sich nahe der rechten Wand, wo sie etwas mehr Abstand zu den anderen Leuten hatten.

Der Saal war spärlich eingerichtet. Außer den Filzdecken, gab es nur zwei Regale, dessen Holz bereits verwittert war. Das Essen holte Lenius von draußen, der Saal hatte einen großen Ausgang zum Garten hin, der zwischen dem Tempel und den kleineren Häusern lag. Die zwei ergrauten Flügeltüren waren weit geöffnet worden, so konnte man die Köche beim Umrühren des Eintopfs beobachten, den sie in einem großen Kessel über ein Lagerfeuer kochten. Nicht weit davon lagen große Körbe vor das hohe Gras, in denen Äpfel und Birnen lagen.

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Lenius ließ sich drei Holzschüsseln mit Eintopf auffüllen, die er geschickt übereinander stapelte und es sogar noch schaffte, mit seiner riesigen Hand zwei Birnen und einen Apfel aus einem Korb zu nehmen.

»Hurra! Es gibt wieder Obst!« Gilwa wippte im Sitzen seinen Körper vor und zurück, seine strahlenden Augen achteten nur noch auf die Früchte in Lenius' Hand, der gerade zu ihnen zurückschlenderte.

Der kleine Junge streckte seine Hände aus, kaum das Lenius sich gesetzt hatte, nahm eine Schüssel und eine Birne an sich und drückte beide an seine Brust und grinste breit. Dann legte er vorsichtig die Birne in seinen Schoß, ehe er mit funkelnden Augen einen Löffel von dem braunen Linseneintopf nahm.

Alina starrte in ihre eigene Schüssel, ehe sie selbst nach dem Löffel griff. Sie sah die Linsen, die Kartoffel- und die Fleischstücke, die Erbsen und die Möhren, spürte, wie sie in ihrem Mund fast ohne zu kauen zerfielen, doch keine einzige Zutat löste irgendeinen Geschmack auf ihrer Zunge aus. Alina schaffte es, die Hälfte der Schüssel zu essen, dann legte sie diese ab und stand auf.

»Wo gehst du hin?«, fragte Lenius.

»Nach oben. Ich will alleine sein.« Ohne sich nochmal zu den beiden umzudrehen, verließ Alina den lauten Saal und nahm die Treppen im Innenhof hinauf in den zweiten Stock. Der lange, staubige Flur war leer. Alina atmete auf. Dann fiel ihr Blick auf die Wandmalereien zu ihrer Rechten.

Mit leisen Schritten stellte sie sich so hin, dass sie den ersten Abschnitt bis zur nächsten Tür von vorn betrachten konnte. Ein riesiger dunkelroter Kreis, bestehend aus zwölf kleineren Kreisen, zierte die hellbraune Wand. In jedem der kleinen Kreise, war die Malerei eines Tieres zu sehen. Ganz oben ein Tier, das so ähnlich aussah wie ein Berglöwe. Sein Kreis wurde mit dem gegenüberliegendem verbunden, wo eine Rehkitz abgebildet war.

Die anderen Kreise waren ebenfalls mit ihrem Gegenüber verbunden. Ein Adler mit einer Maus, ein Pferd mit einem Bären und noch weitere Tiere, die Alina nicht eindeutig bestimmen konnte, da der Putz abgebröckelt, oder die rötliche Farbe verblasst war. In der Mitte des großen Kreises, liefen die Linien in ein Dreieck, an dessen Spitzen weitere Kreise gezeichnet waren. Fremde Schriftzeichen füllten die runden Formen aus.

Alina ging weiter zum nächsten Abschnitt, der zwischen zwei Raumeingängen lag, die man noch nicht mit Vorhängen bedeckt hatte.

Unten war eine Wiesenlandschaft gemalt, auf der mehrere Menschen zu sehen waren. Oben, eine dicke, wellige Wolkendecke, aus der sich eine riesige Hand nach einer jungen Person ausstreckte, die auf der Wiese lag.

»Die große Hand gehört einem Gott, der die verstorbene Seele eines Menschen zu sich holt.«

Alina zuckte heftig zusammen. Neben ihr stand ein junger Mann mit dunklen, lockigen Haaren.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.« Blaue Augen sahen ihr entschuldigend entgegen. Alina erinnerte sich an ihn. Er war immer mit Kael oder Jaro zu sehen.

»Ein Gott? Was ist das?«, fragte sie. Das Wort sagte ihr nichts.

»Götter sind übernatürliche Wesen. In unterschiedlichen Glaubensrichtungen werden ihnen die Erschaffung der Welt und aller Lebewesen zugesprochen. Sie werden von Menschen angebetet und verehrt. Oft bringen sie Bitten, Klagen, auch verschiedene Opfergaben, um sich mit den Göttern in Verbindung zu setzen. Man kann ihre Gestalt nicht sehen und ihre Stimme nicht hören, zumindest nicht mit unseren natürlichen Sinnen.«

Dunkel kam ihr der Name des jungen Manns zurück. Isko. Er trug einige vergilbte Schriftrollen unter seinem Arm. Seine Augen waren funkelnd auf das Bild vor ihnen gerichtet.

»Der Glaube an Götter, überhaupt alles, was übernatürlich ist, wurde hier in Rovisland und in Höhental ausgetrieben, deswegen wissen die meisten nichts mehr darüber. Aber ganz früher glaubte man auch hier an diese übermenschlichen Gestalten. Jeder Gott, gehört zu einem bestimmten Glauben, oder einer sogenannten Religion, mit der die Menschen aufwachsen, oder sich später anschließen. Da es in Rovisland verschiedene Religionen unter den Königreichen gab, führte das zu vielen Auseinandersetzungen zwischen ihnen, nicht selten sogar zum Krieg. Deswegen hat einer von Rovis' Vorfahren beschlossen, sämtlichen Glauben an Götter zu verbieten und auszumerzen. Seitdem, ist nur das wahr, was man mit seinen eigenen Sinnen und der Wissenschaft beweisen kann. Ausnahme ist natürlich ein wenig übergebliebener Aberglaube. Und der mysteriöse Drachenfluch.«

Zum ersten Mal an diesem Tag, schaffte Alina es jedem Wort zu folgen, das jemand an sie richtete. So wie Isko, starrte sie gebannt auf das Bild vor ihr. Ein kleiner Schauer fuhr über ihren Arm.

»Was passiert, nachdem dieser Gott die Menschenseele zu sich holt?«, wisperte sie.

»Ich kenne den genauen Namen des Gottes nicht, doch ich weiß, dass dieser Tempel einem einzigen Gott gewidmet war. In ganz alten Schriften habe ich einmal den Namen Elyon gelesen, der mit ihm in Verbindung stand, könnte sein eigener gewesen sein.«

Alina wandte sich ihm überrascht zu. Isko nickte mit einem verschmitzten Ausdruck in den Augen.

»Ich weiß. Ich vermute, daher kommt der Name der Königslinie aus Höhental. Angeblich besitzt dieser Gott ein Reich jenseits unserer Welt, wo er die verstorbenen Seelen der Menschen zu sich holt und für ewig leben lässt. Anders als wir glauben viele Anhänger von Göttern an ein Leben nach dem Tod. Für sie ist der Tod nicht das Ende, sondern der Beginn eines neuen Lebens.«

Tränen verschwammen ihre Sicht. In Höhental, genau wie in Rovisland, war der Tod das Ende. Es gab nichts mehr, außer die Erinnerungen der Lebenden an die Verstorbenen. Die Vorstellung, dass Aiven vielleicht irgendwo anders noch am Leben war, und sie ihn vielleicht eines Tages wiedersehen könnte, legte sich wie eine warme, weiche Decke um ihr Herz. Alina schluckte schwer und wischte sich die Tränen von den Augen. Glücklicherweise war Iskos Blick immer noch auf die Wandmalerei gerichtet.

»Glaubst du daran?«, fragte Alina.

»An ein Leben nach dem Tod?«

»Hmhm.«

»Ich würde gerne. Aber wer kann mir das schon bestätigen? Bis jetzt ist niemand von den Toten zurückgekehrt, um davon zu berichten. Fakt ist, ich kann weder beweisen, dass es keine Götter gibt, noch kann ich beweisen, dass es sie gibt. Etwas Übernatürliches, kann ich nicht mit meinem menschlichen Verstand, oder mit meinen eingeschränkten Methoden beweisen. Es bleibt ein verbotenes Mysterium.« Isko seufzte schwer.

»Ich könnte mehr über Götter durch die Händler aus den südlichen Kontinenten erfahren, aber die halten dicht. Den Ländern des südlichen Kontinents ist es verboten, ihre Religionen hier weiter zu verbreiten. Und da sie sich streng daran halten, ist es ihnen deswegen erlaubt, mit unserem Reich Handel zu betreiben. Ich hab es schon einmal versucht, doch man hat mir nur mit Schweigen geantwortet. Und mit den Ländern des Ostens haben wir ja keinen Kontakt mehr.« Isko legte behutsam eine Hand auf die Rollen unter seinem Arm.

»Doch ich habe die Hoffnung, dass wir mit der Suche nach der Auflösung des Fluchs, auch mehr über diese geheimnisvollen Religionen erfahren werden.«