Der Wachmann am Eingang des Gebäudes begrüßte sie. Er tauschte ein paar nette Worte mit Raffael aus, sie witzelten über irgendein Ereignis in Calisteo. Von Raffaels Wut war nichts mehr zu sehen. Er führte sie durch die Haupthalle der Schule, diesmal steuerten sie direkt den Weg zu ihrer Linken an, gingen durch die Tür hindurch, welche zu einem langen Gang mit vielen Fenstern führte. Auf der anderen Seite der Fensterfront waren der Reihe nach Porträts und Bilder an der Wand angebracht. Sie waren umrandet von dunklen, hölzernen Rahmen, welche ganz unterschiedliche Verzierungen und Schnittmuster hatten.
„Das ist der Kunstbereich unserer Schule. Alles, was mit Musik und Bildern und Skulpturen und was auch immer den Leuten sonst noch kreatives Einfällt, ist hier zu finden. Dazu gehört auch das Theater. Sicherlich fragst du dich, wieso wir Theater machen müssen, oder?“
Er schielte zu ihr herüber und sie antwortete ihm nicht. Tatsächlich hatte sie sich diese Frage gestellt. Aber nun, wo ihre Beziehung offensichtlich feindselig war, konnte sie ihm nichts glauben, wozu denn dann reden?
Bei ihrem Schweigen presste er die Lippen zusammen und beließ es dabei. Als sie durch die große Tür traten, bemerkte Etienne reges Menschentreiben. Es war ein bescheidener Theatersaal. Eine tief liegende Bühne war ausgestattet mit verschiedenen Reliquien. Bühnenbilder wurden gerade auf dieser aufgestellt. Die Treppen nach unten waren mit einem Teppich versehen, und die Stuhlreihen zu ihren Seiten reihten sich in schwarzen Linien zu den Seiten hin aus.
„Guten Morgen!“, rief Raffael gut gelaunt in den Raum, ein Schauspiel, passend zur Kulisse. Es waren noch nicht so viele dort, aber Etienne entdeckte Bianca am anderen Ende des Raumes ihnen einen neugierigen Blick zuwerfen.
„Guten Morgen!“, trällerte eine Frau in bunten Kleidern. Sie sprang zu ihnen die Treppen hinauf und ihre wunderschönen blauen Augen fixierten sie. Etienne wusste nicht, wie sie diese Frau beschreiben sollte, aber sie erinnerte an eine flauschige Sommerwolke, durch deren Fluffigkeit ein Regenbogen schien. Ihre blond-roten Haare waren zu einer wilden Hochsteckfrisur mit bunten Blumen gesteckt. Die Kleidung bestand aus verschiedenen Stoffen, welche gefühlt wahllos zu einem bunten Kleid und einer genauso bunten Jacke zusammengenäht wurden. Es waren zu viele Eindrücke auf einmal.
„Du bist die neue Schülerin, von der ich gehört habe. Wie schön, dich kennenzulernen! Ich bin Mila Mirtin. Du kannst mich Mimi nennen, das tun hier alle.“
„Das tut nahezu niemand“, warf Raffael ein, doch die Frau ignorierte ihn.
„Lass mich dir alles zeigen, solange noch nicht alle hier sind!“, sie packte Etienne an der Hand und zog sie hinunter. Überrumpelte ließ sie sich mitziehen und versuchte den aufflammenden Schmerz in ihrer Schulter zu ignorieren.
Diese laute Frau erzählte ihr etwas über die Bühnenbilder, welche soeben von Meng und Colin bearbeitet wurden. Meng war bekleidet in einem roten Pullover und einer weiten Latzhose, welche mit den verschiedensten Farben befleckt war. Sie grüßte Etienne freundlich und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit. Dann wurde sie weiter gezogen und entdeckte Halil, welcher sichtlich genervt schien, sie zu sehen. Er wandte sich ab, als Mirtin ihn grüßte. Zu Etiennes Überraschung, wurde er ihr als Choreograf vorgestellt.
Nach einigen Momenten richtete Catjill sich auf und flog davon. Etienne entdeckte ihn zu Meta fliegen, welche in den oberen Rängen alleine das Geschehen unter sich beobachtete. Sie zuckte zusammen, als Catjill auf ihrem Kopf landete, verscheuchte ihn aber nicht. Als Meta sie bemerkte, grüßte sie zurückhaltend und Etienne grüßte zurück. Am liebsten würde Etienne zu ihr hinaufgehen. Dort würde sie sicherlich für einen Moment Ruhe bekommen von der stetigen Wachsamkeit, welche sie inmitten all dieser bekannten und unbekannten Menschen an den Tag legen musste. Meta war ungefährlich, bei ihr musste sie nicht wachsam sein.
Mirtin zog sie weiter hinter die dunkelroten Vorhänge. Raffael folgte ihnen schweigend und Etienne konnte nicht anders, als sich seiner Anwesenheit nur zu bewusst zu sein. Und dann vergaß sie diese für einen Moment, als sie eine Person ausmachte, von der sie niemals gedacht hätte, dass sie diese wiedersehen würde.
Die braunen, schulterlangen Locken wirbelten zu ihnen herum, als Mirtin sie an der Schulter anstupste und dann strahlte ein freundliches, liebevolles Lächeln ihnen entgegen. Etiennes Blut gefror vor Angst, als wäre ihr Herz nachgegeben. Also ließ sie sich in ihre Gewohnheiten fallen, in vertraute Handlungen, welche ihr Körper in- und auswendig kannte, sodass es nicht ihre Anweisungen brauchte, um diese auszuführen. Etienne lächelte ihr entgegen und Mirtin stellte die beiden einander vor, „Das ist Katelin. Sie kann nicht sprechen, aber sie versteht bestens, was wir sagen. Katelin ist für unsere Kostüme zuständig. Wie geht es dir, Liebes?“
Katelin strahlte sie an und nickte freundlich. Dann holte sie einen Block hervor und zeigte eine Seite, welche bereits einen vorgeschriebenen Satz hatte.
Gut.
„Das ist Etienne“, sagte Mirtin und stelle Etienne der jungen Frau vor, „Sie ist, ich glaube es ist eine Woche… Sie ist seit einer Woche bei uns.“
„Und hat schon für viel Ärger gesorgt“, warf Raffael hinter ihnen hinzu. Etienne hörte den Ton in seiner Stimme, doch diesmal kümmerte sie sich nicht darum. Er hinter ihr, Katelin vor ihr, Mirtin, welche noch immer ihre Hand mit der verletzten Schulter hielt. Sie fühlte sich umzingelt.
Wie erwartet, erkannte Katelin sie nicht. Das war gut. Dennoch wunderte sich Etienne, wie sie es vergessen haben konnte, dass Katelin in dieser Stadt war. Immerhin hatte sie dafür gesorgt, dass sie hierhin kam. Dann rasten ihre Gedanken wieder zu Raffael. Sie durfte ihn nicht herausfinden lassen, dass sie Katelin kannte. Und mit einem Mal fühlte sie sich erdrückt von all den Vorhaben, die sie sich an diesem Tag gesetzt hatte.
Katelin holte einen Stift hervor und schrieb etwas in den Block. Sie hielt es Etienne entgegen.
Willkommen!
Etienne lächelte ihr zu, wusste noch nicht gänzlich, wie sie mit ihr umgehen sollte. Dann fragte sie, „Wird jeder Schüler in eine bestimmte Rolle eingeteilt?“
Mirtin lächelte, „Normalerweise lassen wir euch das selbst entscheiden. Es muss aber etwas sein, was einen Lerneffekt erzielt. Es soll nicht jeder einfach irgendwas machen. Normalerweise lassen wir zum Schuljahresanfang eine Abstimmung abhalten, welches Theaterstück gespielt wird und wer der Direktor sein darf. Dieser organisiert dann alles Weitere. Dieses Mal war es unsere geliebte Anjelika.“
„Anjelika?“, fragte Etienne nach. Sie hatte den Namen noch nicht gehört und ihr wurde auch noch niemand vorgestellt, der so hieß.
„Sie hat heute etwas Verspätung“, sagte Raffael langsam hinter ihr. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, doch sie hörte den zufriedenen, schadenfrohen Ton in seiner Stimme, während er ausführte: „In meiner Provinz gab es heute etwas Stau, aufgrund der Vorbereitungen für das Winterfest. So wie ich sie kenne, wird sie so sehr in die Planung versunken sein, dass sie vergessen hat, es einzukalkulieren. Aber ihr könnt in ungefähr zwei Stunden mit ihr rechnen.“
Etienne atmete leise durch, während Mirtin mit der Zunge schnalzte und ihren Unmut über Anjelikas Unachtsamkeit kund tat.
Anjelika gehörte Raffaels Provinz an und sie war die Direktorin des Stücks. Etienne konnte sehr gut verstehen, wieso er so schadenfroh war. Dennoch. Er war so überzeugt davon, dass sie verlieren würde, dass er den Fehler begangen hatte, ihr davon zu erzählen. Anjelika war noch nicht hier und Etienne würde nun dafür sorgen, dass sie gar nicht erst ankam.
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„Das Stück findet in etwas mehr als einer Woche statt. Es war schon immer Tradition, zum Neujahresfest ein Stück aufzuführen und anschließend in den wohlverdienten gemeinsamen Urlaub zu gehen. Was mich dazu führt, euch daran zu erinnern, dass ihr euch noch immer nicht dazu entschieden habt, wohin es gehen soll. Wenn das so weitergeht, wird dieses Jahr zum ersten Mal das gemeinsame Reisen ausfallen. Eine weitere Nachlässigkeit von Anjelika. Von einem Direktor erwarte ich Besseres. Aber sei es drum. Die anderen können sich wenigstens schon mal in ihre Rollen einspielen, bis sie da ist.“
Katelin schrieb wieder etwas auf ihren Block und hielt es Etienne entgegen, während die Lehrerin laut überlegte, inwieweit sie vorhatte, beim Projekt der Schüler behilflich zu sein.
Frag mich, wenn du Hilfe brauchst.
„Was machen wir mit dir, Etienne?“, fragte Mirtin. Etienne lächelte Katelin zu und wandte sich dann an die Lehrerin. Mirtin bedachte sie von oben bis unten und schien nachzudenken. „Eine Woche ist etwas knapp, um dir eine tragende Rolle zu geben. Vielleicht sollten wir dich zu dem Aufräumtrupp für die Abende zuordnen?“
„Sie hätte wohl kaum etwas davon gelernt, wenn sie eine Woche nur zum Aufräumen da wäre“, erwiderte Raffael.
Nun bereute sie es, dass sie sein Angebot, ihr etwas über den Sinn des Projekts zu erzählen, nicht angenommen hatte. Etwas mehr Informationen über die Ziele von diesem würden ihr helfen, sich vor Mirtin so zu positionieren, dass sie die Position bekam, die sie haben wollte. Und das Aufräumen hörte sich sehr verlockend an.
„Ich wäre dankbar über eine keine allzu anspruchsvolle Aufgabe“, sagte sie, „Ich bin gut im Beobachten. Für mich stellt Aufräumen kein Problem dar.“
Mirtin gab ein nachdenkliches Geräusch von sich. Katelin schrieb wieder etwas in ihren Block und hielt es ihnen entgegen.
Du kannst gerne bei mir dazu kommen.
„Bist du mit den Aufgaben eines Kostümbildners vertraut?“, fragte Mirtin sie. Etienne schüttelte den Kopf.
„Dann macht das nicht viel Sinn. Wir müssen etwas finden, was zu deinen Fähigkeiten passt. Wenn nicht, nun dann bleibt leider nicht viel übrig.“
Sie seufzte schwer und dachte wieder nach, bedachte sie ganz eingehend, von oben bis unten und dann erneut und Etienne verstand nicht, wonach sie Ausschau hielt. Stattdessen stieg langsam die Nervosität in ihr auf. Aufräumtrupp, da wollte sie hin. Wenn diese wirklich erst am Abend aktiv wären, dann würde sie den Tag über die meiste Freiheit haben, um sich mit Raffael auseinanderzusetzen. Abgesehen davon wäre es eine Rolle in den hinteren Reihen. Keiner würde groß auf sie achten.
„Ich habe in jedem Bereich die beratende Rolle. Die eine Woche wäre für sie am effektivsten verbracht, wenn sie sich an mich hängt und von allem etwas kennenlernt“, sagte Raffael und sie musste überrascht blinzeln. Dann setzte ein Schrecken durch ihre Glieder ein, als sie verstand, dass er direkt loslegte. Er wartete gar nicht auf Anjelika.
Mirtin gab wieder ein nachdenkliches Geräusch von sich, schien diese Idee abzuwägen. Etienne spürte, wie ihre Gedanken sich überschlugen, bis sie bei einem Bild landeten, welches sie nicht mochte. Sie verwarf es, ließ weitere Ideen durch ihren Kopf blitzen, bis sie erneut frustriert feststellte, dass sie beim selben Bild hängen blieb. Etienne wollte nicht, dass ausgerechnet das ihr Weg aus der Situation war.
Mirtin seufzte unglücklich und Etienne sah es ihr an, dass sie bereit war, seinen Vorschlag als Kompromiss anzunehmen, aber auch sie zögerte, sah Etienne erwartungsvoll an, wartend… Beinahe irgendwie lauernd.
„Ich kann etwas Klavier spielen. Es ist lange her, seit ich es das letzte Mal gespielt habe, aber die Grundlagen sitzen“, beeilte Etienne sich zu sagen, „Wenn es darum geht, meine Fähigkeiten in einem Bereich intensiver auszubilden, dann wäre das für mich die beste Option.“
Sie hasste das Klavier. Und für einen Moment hatte sie sich überlegt, das Verlieren in Kauf zu nehmen, nur um nicht diesen Ausweg zu wählen. Bis sie Raffaels siegesgewisses, faules Lächeln gesehen hatte. Er war so überzeugt davon, dass sie in nur wenigen Minuten verlieren würde, dass er nicht einmal abwartete, was Mirtin zu sagen hatte. Nun war dieses Lächeln verschwunden und überraschte, zweifelnde Augen fielen auf sie.
„Ist das so?“, fragte Mirtin, auf einmal sehr interessiert, „Hast du viel gespielt?“
„Ein paar Jahre“, sagte Etienne lächelnd, „Ich habe angefangen, als ich sehr jung war. Und wenn ich mir über eins sicher sein kann, dann ist es, dass sich das Wissen über das Klavier in meine Hände eingebrannt hat.“
Mirtin klatschte in die Hände und ein strahlendes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, „Elias spielt bei uns das Klavier. Ist das nicht fabelhaft? Er ist auch in deiner Klasse. Du hast ihn bestimmt schon kennengelernt.“
Das war eine Wendung, die sie nicht erwartet hat.
„Elias mag es nicht, wenn sich jemand in seine Arbeit einmischt“, sagte Raffael und sie sah bei diesem ungewohnten, harten Tonfall, den sie bisher nur am Vortag von ihm gehört hat, wieder zu ihm. Er sah genauso lange nicht glücklich aus, bis er bemerkte, dass sie ihn beobachtete.
Perfekt, dachte sie. Der Ort, an dem sie heute sein sollte, war der, wo Elias war. Ein anderer Provinzherrscher, welcher sich nichts von Raffael sagen lassen würde. Zufälligerweise, hatte diese Provinzherrscher auch etwas mit den Steinen der Austreibung zu tun.
„Elias muss lernen, mehr mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten. Er hat es bisher nicht sehr erfolgreich gemeistert, seine Fähigkeiten in der Musik so anzuwenden, dass sie die Schauspieler unterstützen. Was denkst du, Etienne? Würde ein Schützling ihn dazu verleiten, sich mehr an den Bedürfnissen anderer zu orientieren?“
Woher soll ich das wissen?
Definitiv war sie nicht diejenige, welche ihm dabei helfen konnte. Sie hatte selbst keine Ahnung von dem Thema.
Raffael schnaubte lachend. „Die zwei zusammen werden es wahrscheinlich noch schlimmer machen, als er allein. Das ist ein Projekt, an dessen Gelingen vielen Menschen etwas liegt. Es macht keinen Sinn, jemand Neues in einen bereits problematischen Bereich einzuteilen. Ich kann ihr deutlich mehr in diesem Zeitraum zeigen.“
Etienne ignorierte ihn und sprach, bevor er Mirtin auf andere Gedanken bringen konnte: „Wenn er mir alles verständlich erklären muss, dann wird er vielleicht mehr darauf achten, wie er anderen etwas erklärt?“
Mirtin nickte zufrieden. „Das denke ich auch. Er muss an seiner Kommunikation arbeiten. Hier geht es darum, dass ihr eure Probleme gezielt angeht und löst, Raffael. Es wäre zu leicht für sie, sich von dir alles vorkauen zu lassen. Sehr schön. Katelin Liebes, sei so lieb und hole Elias zu uns herunter. Wahrscheinlich lungert er schon wieder im Klavierzimmer herum.“
Katelin nickte lächelnd und ging schnell los. Etienne bemerkte, wie weitere Menschen den Saal betraten. Sie entdeckte Keyen und Scarlett unter ihnen, auch Crome war dabei, was sie verwunderte. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass die Zeit langsam aber sicher voranging und sie sich Gedanken machen sollte, wie sie Anjelikas Ankunft zu verhindern vermochte. Sie wollte Catjill noch nicht einsetzen. Aber während eine Idee sich in ihrem Kopf formte, stellte sie fest, dass sie es vielleicht nun musste.