Er sah sie einschätzend an und Etienne war fest davon überzeugt, dass er sich weigern würde, ihr die Frage zu beantworten. Doch zu ihrer Überraschung tat er dies diesmal nicht. Er brach ihr Aufeinandertreten an einer Stelle und sie wusste nicht, ob sie das mochte.
„Ich schätze, Gilgian ist aufgefallen, dass du und Meta miteinander unterwegs wart.“
„Ah wirklich? Ihm ist das aufgefallen?“, fragte sie nach.
„Vielleicht ist es auch mir aufgefallen und er hat Wind davon bekommen“, meinte er leicht lächelnd, legte den letzten Inhalt ordentlich in den Koffer.
„Und wie ist es dir aufgefallen?“, fragte sie weiter nach.
Er schloss den Koffer und wandte sich ihr zu, „Es war nicht schwer zu bemerken, dass du irgendwas ausgeheckt hast. Ich muss nur zugeben, ich bin sehr überrascht, dass du schon am nächsten Tag aufgebrochen bist. Wie hast du es überhaupt geschafft, Meta dazu zu bewegen? Sie ist nicht gerade dafür bekannt, leicht zugänglich zu sein.“
Etienne zögerte, mochte es nicht, wie sie zum Thema des Gesprächs wurde. Und Etienne hatte noch immer das Bedürfnis, es ihm für den Stein heimzuzahlen. Und für die Art, wie er sie hereingelegt und vor Tatinne bloß gestellt hatte. Das nahm sie ihm besonders übel.
Raffael lehnte sich zu ihr vor, „Komm schon. Ich möchte nur ein normales Gespräch mit dir führen.“
„Aber du hast damit angefangen. Mit allem.“
„Das habe ich und ich bin bereit mich zu entschuldigen. Und ich werde deine Fragen beantworten, ohne eine Gegenantwort abzuverlangen. Nicht alle, offensichtlich. Würde das als erste Versöhnung reichen?“
„Wenn du eine Versöhnung willst, dann wirst du mir den Stein geben müssen“, sagte sie eindringlich.
„Deswegen spreche ich auch nur von der ersten“, sagte er lächelnd und meinte dann weiter, „Ich werde dir den Stein wiedergeben. Nur nicht jetzt.“
„Und wann? Und was wirst du dafür haben wollen?“, fragte sie.
„Über das Wann können wir gerne sprechen, wenn du den zweiten hast. Bis dahin wirst du sicher noch auf ihn verzichten können.“
„Ich überlege es mir“, sagte sie unzufrieden.
Solange sie wusste, wo der Stein war, konnte sie das Problem nach hinten verschieben. Er hatte recht damit. Sie würde sich sowieso noch damit beschäftigen müssen, wie sie den dritten bekommt. Aber sie wollte ihm keine Zeit geben, sich etwas auszudenken, was ihr Probleme bereiten würde.
„Ich könnte dir dabei helfen, ihn zu bekommen“, sagte er dann mit neuem Elan, stand auf und ging zum Waschbecken, in welchem noch immer ihre Jacke lag. Sie wäre beinahe aufgesprungen, als er diese hochhob und betrachtete. Wassertropfen fielen in die Pfütze am Becken und sah warnend seinen Rücken an.
„Es gibt viele Möglichkeiten, für mich nützlich zu sein“, sagte er weiter.
Etienne hob die Brauen. Sie glaubte ihm nicht, dass er ihr einfach so helfen würde, „Würdest du mir alles geben, worum ich verlange?“
Er lachte, „Auf keinen Fall. Wenn dein Vorgehen generell dem von heute gleicht, dann würde ich dir wirklich gerne nahelegen, so etwas anders anzugehen.“
„Ich sehe nicht, wo das Problem liegt. Ich habe einem Geist den Zugang in diese Welt verwehrt, hab meinen Stein bekommen und es wäre niemand verletzt gewesen, wenn du und Gilgian nicht aufgetaucht wärt.“
„Vielleicht wäre es anders gelaufen“, sagte er und sie sah ihm dabei zu, wie er die Jacke an einigen Stellen auswrang und dann ordentlich zusammenlegte, „Aber ich glaube es ehrlich gesagt nicht.“
„Was hast du vor?“, fragte sie ihn alarmiert und deutete auf die Jacke, als er sie sich unter den Arm packte.
„Ich nehme sie als Referenz mit.“
Etienne verzog das Gesicht und er lachte erneut, „Ich kann wohl kaum etwas in Auftrag geben, wenn ich nichts habe, an dem sich die Leute orientieren können.“
„Wann bekomme ich sie wieder?“, fragte sie misstrauisch. Seine Augen wanderten zur Decke, als er ein nachdenkliches Geräusch von sich gab. Dabei wippte er leicht vor und zurück, bis er schließlich sagte, „In zwei Tagen? Ja, ich denke, das sollte hinkommen.“ Seine Augen wanderten wieder zu ihr und er meinte lächelnd, „Was hältst du davon, wenn ich dich am Abend abhole und wir uns anschauen, ob sie dir passt?“
Misstrauisch starrte sie zurück und fragte, „Wieso nicht hier?“
„Weil ich nicht mit dieser wieder zurücklaufen werden, wenn sie doch nicht passt. Ich bin kein Laufbursche und ich habe deutlich wichtigere Sachen in meiner freien Zeit zu tun, als für dich durch die Gegend zu rennen.“
Die Vorstellung, mit ihm irgendwohin zu gehen, wo sie sich nicht auskannte, löste keine Freude aus.
Er seufzte, „Ich kann dir die Zurückhaltung nicht verübeln. Aber vielleicht kann ich dich davon überzeugen, dass nicht hinter all meinen Handlungen ein Hintergedanke steckt.“
Etienne lächelte schnaubend. Sie glaubte das nicht, denn er enthielt ihr noch immer den Stein. Früher oder später würde es darauf hinauslaufen, dass er etwas verlangen würde. Sie entschloss sich jedoch, zunächst die Versöhnung anzunehmen und sie zu ihrem Vorteil auszunutzen. Wie er richtig festgestellt hatte, musste sie immer noch einen Stein finden.
Eine Bedingung gab es aber. Die Situation von vorhin durfte sich nicht wiederholen. „Wenn du mir den Stein nicht mehr auf dieselbe Art über den Kopf hältst, wie gerade eben, werde ich mich darauf einlassen.“
Sein Finger fing zu tippen an und er schwieg, gab ihr nicht direkt eine Antwort. Das bestätigte Etienne in ihrer Vermutung. Er war nicht bereit die Kontrolle aufzugeben, die er in einem von ihr unachtsamen Moment an sich gerissen hatte. Und sie hatte die Vermutung, dass ihr seine Hilfe anzubieten, nur darauf hinauslaufen würde, noch mehr Kontrolle über die Situation zu bekommen. Das spornte sie jedoch an, es ihm heimzuzahlen, dass er sie so unterschätzte. Sie war vielleicht nicht sonderlich gut darin, mit anderen zu Verhandeln, aber sie weigerte sich, ein Fußabtreter zu sein, den man nach Belieben herumschubsen konnte.
„Und“, führte sie dann weiter aus, „du wirst mir sehr ausführlich erzählen, was du von mir willst.“
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Diesmal hob er überrascht die Brauen, „Und ich hab mich schon gewundert, wann diese Frage von dir kommt.“
„Ich hab sie dir bereits gestellt, aber als Antwort habe ich Schwachsinn erhalten“, sagte sie und musste wieder an ihr erstes richtiges Gespräch denken.
Er grinste verschmitzt, „Das stimmt. Da habe ich noch nicht entschieden, wie ich mit dir umgehen soll.“
„Und nun weißt du es?“, fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern, „Vielleicht. Aber ich akzeptiere deine Bedingungen. Ich werde den Stein nicht mehr gegen dich verwenden und ich werde dir erzählen, was ich von dir für den Stein erwarte.“
Sie spürte, wie ihr Gesicht sich verdüsterte. Er erwartete etwas. Wie er das so dreist und selbstverständlich sagte, als würde er ein Recht darauf haben, von ihr etwas zu erwarten.
Raffael lachte, als er ihren Ausdruck sah und das machte sie noch wütender. Daraufhin hob er beschwichtigend die Hände, „Ich will mich nicht streiten. Aber wohl kaum betreibe ich den ganzen Aufwand, nur um dich zu ärgern. Denkst du nicht?“
„Ich merke es mir“, sagte sie und stand dann auf. Sie musste sich noch vorbereiten, „Ich muss mich umziehen. Vielleicht solltest du wieder nach unten gehen. Und lass mir meinen Talisman auf dem Tisch.“
Er seufzte, „Sei nicht sauer.“
„Bin ich nicht“, sagte sie und ging dann durch die Tür nach oben.
Sie war genervt, aber nicht sauer, dafür war sie zu müde. Wäre nicht das erste Mal, dass jemand aus heiterem Himmel auftaucht und etwas verlangt, als wäre deren Leben der Mittelpunkt des Universums. Aber es war in Ordnung. Etienne würde herausfinden, wie sie damit umgehen sollte. Doch zunächst verlangten andere Dinge ihre Aufmerksamkeit. Eines davon war die Schuld, die sie gegenüber Meta empfand. Es hatte sich nur zu deutlich herauskristallisiert, dass sie nicht genug Rücksicht auf sie genommen hat. Meta war kein starker Mensch. Sie gehörte zu den Schwachen, zu denen, welche beschützt werden mussten. Etienne schuldete ihr eine Wiedergutmachung und hatte keine Ahnung, wie diese aussehen sollte.
Und dann war da noch Catjill, welcher unter ihrer Decke auf dem schmalen Bett lag. Darum müsste sie sich jetzt auch kümmern. Etienne ging durch den engen Weg zum breiten Schrank. Tatinne hatte ihr eine Schublade frei gemacht, in welcher sie noch ein paar gute Kleidungsstücke hatte. Diese waren nicht so gut, wie die Jacke oder die aktuelle Hose. Etienne hatte letztere erworben, als sie dringen robuste und sichere Kleidung für ihre kleinen Abenteuer benötigt hatte und als die alte, welche sie nun in der Hand hielt, zu wenig Schutz geboten hatte, als dass sie damit in den verfluchten Wald gehen wollte, in welcher der Djinn versteckt war.
Etienne zog sich aus und sah die blauen Flecken. Diese sahen fürchterlich aus. Sie hatte einige an ihren Oberschenkel und an der rechten Seite ihrer Hüfte. Auch ihr Rücken sah nicht verschont aus. Etienne seufzte und sah dann zu ihrem Bein. Sie entdeckte einige Kratzer und Löcher rund um ihren Knöchel. Allein von der Anordnung der Wunden her konnte sie erahnen, wo das Wesen sie gepackt hatte. Und allein die Tatsache, dass ihr nicht das halbe Bein fehlte, sprach für den Schutz, den ihr ihre Hose geboten hatte. Sie wollte nicht auf sie verzichten, aber für den Abend würde ihr die alte ausreichen.
Die alte Kleidung fühlte sich unsicher auf ihrer wunden Haut an. Etienne vermerkte sich, dass Tatinne ihr Bein anschauen musste. Dieser Gedanke ließ sie erschaudern. Wenigstens konnte sie das auf später verschieben und wäre somit nicht den Augen ihrer Gäste ausgesetzt. Die Bakterien des Crawlings wirkten langsam und die Wunden waren nicht so schlimm, als dass sie viele von diesen abbekommen haben sollte.
Etienne trat zum Bett und atmete tief durch. Sie zog die Decke zurück und begegnete zwei wütenden Augen eines flauschigen Balls.
„Also wirklich, als Djinn musst du das doch von Weitem kommen sehen“, meinte sie.
Er fauchte sie an. So wie er gerade war, würde sie ihn nicht anfassen wollen. Es wäre ein Leichtes ihm befehlen, sich zu benehmen, aber das würde sie nur im Notfall tun. Als sie ihn kennengelernt hatte, hatte sie nicht vorgehabt, so zimperlich mit ihm umzugehen. Ihre Gedanken kehrten zu Raffael zurück und sie seufzte. Sie konnte wohl nicht weiter wütend auf ihn sein, wenn sie mit ihrem Djinn genauso umging, wie er es mit ihr versuchte. Aber ein Djinn war etwas anderes. Sie waren von Natur aus darauf ausgelegt zu nutzen und genutzt zu werden. So hatten sie sich nach dem Zusammenbruch der alten Welt entwickelt. Catjill würde sie ohne mit der Wimper zu zucken auflaufen lassen, wenn er geschickt genug dafür wäre. Aber er war noch jung und das war der einzige Vorteil, den sie ihm gegenüber hatte. Raffael hingegen war schwerer einzuschätzen. Er war ein Mensch, der nach eigenen Regeln agierte. Die Art, wie sich zu Gilgian benahm, wie er ihre eine Jacke zugesichert hatte und danach handelte, schien zu zeigen, dass er sich aufrichtig an das hielt, was er sagte. Genau das machte ihn so gefährlich.
Ein Mensch der Aufrichtigkeit ist ein Heuchler, hörte sie ihren Vater sagen. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis Raffael sich gegen sein Wort zu handeln entschloss. Und er hatte das Potenzial, folgenlos damit durchzukommen. Catjill nicht.
Etienne verwarf die Gedanken wieder. Sie war nicht sauer auf Raffael, weil er so mit ihr umging, sondern weil er gut genug dabei war, dass sie sich im Nachteil ihm gegenüber fühlte. Zu dem Djinn hingegen hatte sie sehr gemischte Gefühle. Als sie ihn im Wald aufgesucht hatte, war sie nach all den Strapazen bereit gewesen, so hart wie nötig mit ihm umzugehen. Aber nach kurzer Zeit hat er sich nicht als das herausgestellt, was sie erwartet hatte, nicht wie das, worüber sie gelesen und geforscht hatte. Er war tollpatschig und schien nicht konkret zu wissen, was er eigentlich tat. Und schon bald hatte Etienne die Vermutung gehabt, dass er mehr von ihr erwartete, als nur eine klar definierte Beziehung von Meister und Untergebener auf Zeit. Das verunsicherte sie, denn sie wusste nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Er stellte ihr andauernd Fragen, wollte mehr von der Welt um sie herum entdecken und war so neugierig, dass sie stetig Angst hatte, ihn irgendwo zu verlieren. Es überraschte sie auch, wie verraten er sich fühlte, wann immer sie ihn an ihre fest gesetzten Verhältnisse erinnerte. So wie eben. So handelte ein Djinn nicht und sie verstand, dass sie ihn verletzt haben musste, aber sie verstand nicht, wieso er so auf etwas reagierte, was normal sein sollte.
„Wie wäre es damit“, sagte sie und hockte sich auf Augenhöhe zu ihm hin, hoffte, dass er nicht mit seiner Klaue nach ihrem Gesicht greifen würde, „Wir bringen die beiden gleich weg. Und nachdem ich eine kleine Erledigung erledigt habe, können wir uns eine Stelle irgendwo oben suchen und den Ausblick auf die Stadt und die Sterne genießen. Dort oben könnten wir auch das Essen essen, welches ich dir für deine großzügige Hilfe mit Meta schulde und ich werde dir einen Nachtisch besorgen.“
Sein Schwanz schlug hin und her, „Woher weiß ich, dass du das wirklich machst?“
Ja, das ist die Frage bei uns allen, dachte sie.
Er hörte sich so misstrauisch an, aber sie konnte hören, wie sein Interesse geweckt wurde. Er wollte so sehr etwas erleben. So sehr, dass er immer wieder vergaß, wie er und Etienne zusammenhingen. Und das verunsicherte Etienne im Umkehrschluss, denn sie war mit fester Absicht in dieses sonderbare Verhältnis reingegangen, sich nicht zurückzuhalten, wenn es um den Umgang mit einem Djinn ging. Sie taumelte in ihrer Handlung und begab sich auf einen Umgang mit ihm, der sehr gefährlich war.
„Ich verspreche es dir, dass wir das heute machen“, sagte sie, „Du wirst mir jedoch vertrauen müssen, denn ich werde heute keine neue Abmachung mit dir eingehen. Ich habe keine Energie dafür.“
„Woher weiß ich, dass du dich daran hältst?“
„Ich halte immer ein Versprechen ein.“
Er setzte sich langsam auf, dachte über das nach, was sie ihm gesagt hatte. Ihr Herz pochte schmerzhaft in ihrer Brust und kalter Schweiß trat an ihrem Gesicht aus. Sie hatte ihm soeben ein Angebot außerhalb des verpflichtenden Verhältnisses von einem Angebot und Preis geboten. Sie hatte ihm etwas freiwillig angeboten.
„Ich bin immer noch sauer auf dich. Aber ich, als das großartige Geschöpf, das ich bin, bin bereit so gnädig zu sein und einem dummen Menschen wie dir zu verzeihen“, er richtete sich stolz auf und Etienne lächelte müde. Sie hatte soeben ihre Beziehung auf eine Ebene gehoben, welche weit über das einfache, feste Verhältnis mit Regeln ging und er schien es nicht einmal zu merken.
Sie strich ihn mit der Hand über den Kopf, spürte das weiche Fell zwischen ihren Fingern und er streckte sich ihrer Bewegung entgegen, „Das ist sehr gnädig von dir. Ich werde dir das nicht vergessen.“
Er flog wieder hoch und umkreiste sie, „Wann gehen wir los?“
Ihr Körper beschwerte sich, als sie wieder aufstand. Heute würde noch ein langer Abend werden.
„Lass uns schauen, wie weit sie da unten sind.“