Noch bevor der Wecker richtig klingelte, schlug Metas Hand sanft aber schnell gegen das kalte Metall und brachte es zum Verstummen. Wie von Strom berührt hatte sie sich aufgerichtete und wartete wenige Minuten unbewegt, ob etwas zu hören war. Sie lebte in einem großen Haus. Es lebten hier zwar nur Gilgian und sie, jedoch waren hier auch hier viele andere Menschen untergebracht. Und vermutlich waren gerade mehrere Bedienstete unterwegs. Ihr Bruder schlief im Zimmer gegenüber. Sie lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören. Also stand sie auf Zehenspitzen auf und schlich zu den Kleidern, die sie sich am Abend zuvor bereitgelegt hatte. Sie legte mit pochendem Herzen ihre Schlafkleidung ab. Zog langsam die andere Kleidung an. Jedes Rascheln fühlte sich viel zu laut an. Jeder Atemzug fühlte sich viel zu laut an. Ihr Bruder hatte ein verdammt gutes Gehör und sie wusste das nur zu gut. Umso mehr war jeder Moment, in welchem zu viele Geräusche hervorkamen, quittiert mit einem Moment des Wartens und einem verstohlenen Blick zur Tür.
Dann schöpfte sie mit ihren Händen etwas Wasser aus der Schüssel, welche sie sich, wie die Kleidung, am Abend zuvor bereitgestellt hatte. Desto weniger sie herumhantieren musste, desto leiser war sie, so zumindest ihre Theorie am Vortag. Aber jetzt fühlte sich das alles nicht so sicher an.
Nachdem sie fertig war, nahm sie sich ihre Schuhe und schlich zu der Tür, die sie einen Spalt offen gelassen hatte. So musste sie keine Geräusche des Schlosses fürchten. Sie sah zu dem Brief, den sie für Gilgian am Tisch gelassen hatte. Sie wusste nicht mehr, wann es das letzte Mal war, dass sie einen für ihn geschrieben hatte. Als Kinder hatten sie das öfters getan. Sich Nachrichten zugeschickt, diese an geheimen Orten versteckt und so miteinander gesprochen. Alles unentdeckt von den scharfen Augen ihres Vaters. Und es schmerzte sie diese kindliche Tradition von ihnen nutzte, um ihm gegenüber unehrlich zu sein.
Sie schlich auf den Flur und war froh über die weichen Teppiche, welche ihre Schritte dämpften. Die dicken Socken taten ihr restliches. Meta beeilte sich und fragte sich, wieso ihr Bruder nicht durch ihr rasendes Herz geweckt wurde. Als sie die Treppe erreicht hatte, sah sie sich erst einmal um, ob irgendwer auf dem Gang war. Dann beeilte sie sich hinunter. Ein Paar weitere Gänge und Treppen folgten und Meta nahm sich vor, demnächst in ein Zimmer etwas näher am Haupteingang zu ziehen. Aber nur, sollten noch einmal solch eine Aktion vorhaben. Meta fragte sich zum tausendsten Male, wieso sie überhaupt mitmachte. Sie hatte sich fest vorgenommen diese verfluchte Villa niemals wieder zu betreten. Ihr Vater war grausam gewesen. Wäre Gilgian damals nicht für sie da gewesen, dann wäre sie kaputtgegangen. Es waren fast zwei Jahre vergangen, aber sie konnte sich noch sehr gut an die Ereignisse von damals erinnern. Nicht zuletzt, weil die Menschen aus Calisteo sie immer daran erinnerten. Manche nur mit ihren Blicken, andere mit ihren Taten. Sie zeigten ihr, wer sie war. Die seltsame, verfluchte Tochter eines verstorbenen Herrschers, welche mit ihrer Anwesenheit die Menschen immer daran erinnerte, wie viele Opfer die Herrschaft ihres Vaters den Menschen gebracht hat.
Sie zog die Schuhe an und schlich durch die Tür, sobald sie sich vergewissert hatte, dass da niemand war. Dann grub sie ihre mickrigen Schauspieltalente aus und ging aufrecht und langsam, wie jeden morgen, aus der Villa. Meta wünschte sich, sie hätte etwas von Scarletts Schauspieltalenten.
Kühle Morgenluft schlug ihr entgegen, ebenso wie das Gezwitscher von Vögeln. Sie wusste, sie würde bei den vielen Menschen in der Villa nicht unbemerkt durch den Garten kommen. Es gab wenige Bäume und es musste nur aus dem Fenster geschaut werden, um sie zu sehen. Es würde wahrscheinlich viel Verwirrung und Misstrauen geben, wenn man sie in geduckter Haltung rennen sah. Und dann würden sie wahrscheinlich schnell Gilgian wecken und er würde sie finden. So aber sah es einfach nach einem frühen Sparziergang aus. Es war auch gar nicht so selten, dass sie es mal tat. Vor allem früh im Sommer, wenn die Morgenluft nach einem warmen Tag roch, ging sie gerne durch die Gärten. Im Winter eher weniger. Es würde sie hoffentlich also keiner beachten, wie sonst normalerweise auch immer.
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Meta ging durch die Stadt, beobachtete die wenigen Menschen, die aus ihren Apartments heraus kam und sich auf den Weg zur Arbeit machten. Es waren nicht viele unterwegs, dafür war es noch zu früher. Aber in einer Stunde, würden die Straßen voller werden. Die Häuser in ihrer Provinz waren äußerlich nicht so sauber, wie die von Elias’ Provinz. Aber dafür waren sie innerlich gut ausgestattet, gut isoliert und die Menschen konnten sich auf eine sichere Unterkunft verlassen. Anders war es bei Raffael, dessen Provinz vom alten Herrscher regelrecht ausgebeutet wurde. Doch nach dem, was sie im letzten Jahr mitbekommen hatte, kümmerte er sich bereits darum. Als Bürger der zweiten Provinz kannte er sich sicherlich sehr gut mit den Problemen der Bewohner aus.
Als Meta die vertrauten Straßen entlang ging, entdeckte sie ein neues Zeichen an der Wand eines Hauses. Sie blieb stehen und betrachtete es nachdenklich. Sie hatte es noch nicht so häufig gesehen, aber sie wusste, dass es sich um eine neue Bande handelte. Die Gruppe war wahrscheinlich noch sehr klein, hatte nicht viele Anhänger, oder es handelte sich um Kinder, welche Späße trieben, was sehr gefährlich werden konnte. Das konnte immer ausufern, vor allem, wenn andere Banden auf sie aufmerksam werden würden. Sie hoffte inständig, dass sich die Beziehungen zwischen den Provinzen bessern würde, denn keiner profitierte mehr von den Kämpfen, als diese ganzen Banden, die versuchten ihre Macht auszubauen.
Sie schaffte es rechtzeitig zu dem Eingang des Waldes. Von hier aus, waren es nur wenige Minuten bis zu der alten Villa ihres Vaters, welche an der inneren Mauer von Calisteo gebaut worden war. Genauso war es auch mit den anderen Häusern der Provinzherrscher. Damals hatten die Gründer der Stadt es so gewollt, dass deren Herrscher die Menschen als Erstes vor Feinden schützen sollten. Daraus ist nicht viel geworden.
Meta blickte auf die teure Uhr an ihrem Handgelenk. Diese hatte sie von ihrem Bruder, vor kapp zwei Monaten, zum Geburtstag geschenkt bekommen. Sie war bis heute heil geblieben, aber es würde eh keiner wagen, ihren Sachen, die beinahe alle von Gilgian kamen, etwas anzutun. Ihr Bruder würde die Namen der Schuldigen aus ihr herausquetschen und denjenigen dann verprügeln. Meta wollte das nicht, auch wenn sie diese ganzen Hänseleien wirklich hasste. Sie fragte sich, wieso Etienne ihr geholfen hatte. Es müsste teilweise daran liegen, dass Etienne neu in der Stadt war. Sie kannte die ganzen Probleme nicht. Oder vielleicht sah sie in Meta ein leichtes Ziel. Sie war es auch. Das wusste sie selbst, dennoch hatte sie es nicht geschafft Nein zu sagen, als Etienne sie um Hilfe gebeten hatte.
„Oh, so eine ähnliche habe ich auch“, sagte Etienne, als sie plötzlich mit einem strahlenden Lächeln vor ihr auftauchte.
Meta sprang mit einem Aufschrei zurück, „Etienne!“
Etienne zeigte ihr Handgelenk und an diesem war eine schwarze Armbanduhr zu sehen. Meta konnte diese jedoch nicht beachten.
„Bitte hör auf damit“, sagte sie schimpfen, ohne zu wissen, woher dieser Mut gerade herkam, „das ist das zweite Mal.“
Etienne senkte ihre Hand und grinste sie weiterhin an. Im Gegensatz zu Meta, hatte sie eine robuste dunkelgrüne Jacke an und Jeans, welche in dicken Schuhen mündeten.
Der Kater schlief auf ihrer Schulter. Meta würde gerne erfahren, woher Etienne ihn hatte. Sie waren selten. Sie erfüllten aber keine Wünsche, wie in den alten Geschichten von Aladdin. Genau genommen wusste niemand, was sie taten. Außer vielleicht die großen Familien, wie die Cerreas oder die Petyrer. Aber sie teilten ihre Geheimnisse nicht. Mit niemandem und wenn, dann nur für einen hohen Preis. Die Petyrer gingen sogar so weit, dass sie niemanden in ihre Städte ließen, genauso wie es die Mandragonrys nie taten. Das hatte Metas Vater wahnsinnig gemacht, denn er hatte nie etwas von ihnen bekommen können, weder Informationen noch Wissen noch Artefakte. Es gab nur einmal eine Einladung zu dem Shukriyaa-Fest, von welchem er vollkommen verändert wiedergekommen war.
All diese großen Familien konnten auf erste Überlebende der neuen Welt zurückgeführt werden. Sie gaben sich größte Mühe, ihr Blut rein zu halten und ihre Geheimnisse nicht nach Außen dringen zu lassen. Ähnlich war es bei den Cerreas der Fall, diese waren jedoch offener und diplomatischer. Was auch immer ihr Vater mit ihnen Erlebt hatte, es war der Wendepunkt ihres allen Lebens, welcher zu seinem Tod geführt hat.
Etienne tänzelte um sie herum, „Wohin gehen wir?“
Meta wunderte sich über ihre Neugier und ihren Eifer. Sie atmete tief durch, denn es war das erste Mal, dass sie etwas Verbotenes tat. Und das für ein Mädchen, dass sie erst seit gestern kannte … Sie war verrückt geworden.