Raffael richtete sich auf, versuchte tief durchzuatmen und bewegte sich langsam Richtung Treppe. Die Wut war dem Schmerz gewichen, welcher seine Knie schwach werden ließ. Das strahlende Lächeln seiner Mutter leuchtete vor seinen Augen auf. Er zwang den Gedanken an das alles jedoch beiseite. Er verdrängte es, wie er es in den vergangenen Monaten getan hatte, um funktionieren zu können. Denn aktuell drängten ihn andere Probleme. Er würde sich jetzt mit Etienne beschäftigen müssen, dem wahrscheinlich künftigen Herrscher seiner geliebten Stadt. Dann mit Halil, welcher jegliche Brücken zu allen verbrannt hat und immer wieder für neuen Ärger sorgte, von dem Raffael nicht nachvollziehen konnte, wieso. Dann am Abend mit Dustin, der ihm hoffentlich gute Nachrichten überbringen würde, bezüglich der Suche nach den Menschen, welche Gilgians Provinz angegriffen haben. Dann würde er sich um eine weitere Provinzangelegenheit kümmern, die Eldan nicht alleine erledigen konnte. Und anschließend würde er Eldan beschämt fragen, ob sie auf ihre abendliche Lehrstunde heute verzichten könnten. Raffael brauchte wirklich dringend den Schlaf. Aber wie seine Familie immer schön zu sagen pflegt: eines nach dem anderen. Er hoffte nur, dass Etienne dieses blöde Handy sich geschnappt hatte, denn sonst wäre das Ganze umsonst gewesen.
Als er oben ankam, sah er Etienne im Schatten der Regale am Tisch sitzen. Erleichterung durchströmte ihn, denn er hätte beinahe damit gerechnet, einen leeren Tisch ohne ihre Tasche vorzufinden. Er spielte wirklich nicht gerne ihren Babysitter, aber er musste sie überzeugen in Calisteo zu bleiben und herausfinden, wie sie an die Macht kommen würde. Schleichend oder schnell, das war ihm alles egal, was Tatinne da von sich gegeben hat. Wichtig war nur geordnet, sicher, ohne unnötige Opfer, wie es bei ihm passiert war oder bei Gilgian. Und ohne sinnlose Kämpfe zwischen den Provinzen auszulösen. Hierfür wäre es nicht produktiv, wenn sie von Provinzmitgliedern zusammengeschlagen wird. Sei es ein Gilgian oder ein Halil.
Er setzte sich zurück an den Tisch und schloss die Augen, bevor er ihrem Blick begegnen konnte. Eigentlich hatte er vorgehabt, dass nachdem er sie öffnen würde, er wieder sein Lächeln aufsetzen konnte, doch er schaffte es nicht sie zu öffnen. Ihr war das Ganze sicher aufgefallen. Würde sie es ausnutzen? Er hoffte so sehr, dass sie das mit Josef nicht gehört hatte. Diese Wunde seines naiven Vertrauens, welcher den Tod seiner Mutter zur Folge hatte, war er nicht in der Lage zu teilen.
„Erzähle mir was“, forderte er auf, stellte selbst fest, dass seine Stimme viel zu rau war. Er durfte jetzt nur nicht losheulen. Er brauchte eine Ablenkung und sie war im Moment die Einzige, die hier war.
„Was willst du hören?“, fragte sie zurück.
„Ist mir egal“, sagte er.
„Wie viel weißt du über Magie?“
„Nicht viel“, erwiderte er und verschwieg, dass es ein Gebiet gab, in welchem er sich ganz gut auskannte … so gut es den Umständen entsprechend möglich war. Denn es war einfach nicht Calisteos Schwerpunkt. Die Stadt bildete keine Magori aus oder Priester, welche Segen zaubern konnten. Es gab in den letzten fünfzehn Jahren genau fünf Magori in der Stadt, zwei waren im letzten Jahr gestorben, nicht zuletzt wegen der Machtkämpfe. Hierzu gehört der Einzige, welcher Raffaels Provinz angehörig war und der einzige aus Gilgians. Derjenige, der noch am Leben war, gehörte der neutralen Provinz an und beschäftigte sich mit der Grundausbildung. Und die letzten beiden gehörten Elias’ Provinz an. Einer davon war Elias’ Mutter.
Ob und wie die Menschen ihre Fähigkeiten weiter ausbildeten, lag nach der Grundausbildung in ihrer eigenen Verantwortung. Seine Gedanken wanderten wieder zu seiner Mutter. Sie hatte ihnen beiden oft lachend erzählt, wie verzweifelt Scarletts Eltern durch die Stadt gelaufen waren, als das kleine Kind von einem Moment auf den anderen plötzlich bei Raffaels altem Zuhause gelandet war, dessen Ort sie vom Sehen her kannte. Damals ein Grund für Schrecken, heute eine heiß begehrte Fähigkeit, welche ihr schon vor Jahren eine Aufmerksamkeit beschert hat, welche sie nie hätte erlangen dürfen. Und die Aufmerksamkeit war geblieben, weil Scarlett früh gelernt hat, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren.
„Das habe ich mir schon gedacht“, sagte Etienne, riss ihn aus seinen Gedanken wieder heraus, „Als ich den Stundenplan gesehen habe, ist mir direkt aufgefallen, dass hier ziemlich viel an alten Wissenschaften gelehrt wird. Nicht, dass daran etwas verkehrt wäre, aber wenn alte Gesetze nicht mehr ganz so funktionieren, wie sie sollten, dann ist es teilweise etwas zweitrangig.“
Er schnaubte, „Willst du sagen, wir verschwenden hier unsere Zeit? Lustig, bedenkt man, wie begehrt unsere Menschen in anderen Städten sind.“
Er hörte ein bisher seltenes Lachen, „Keineswegs. Genau genommen ist es so, dass um Magie zu praktizieren genau die alten Wissenschaften einen perfekten Ankerpunkt liefern. Wenn man versteht, wie etwas funktioniert, dann kann man es umso besser nach seinem Willen bändigen. So zumindest ist es bei Magie zweiter Art der Fall. Beispielsweise kommt mir das hier zugute. Ich hab vollen Zugriff auf sein Handy, ohne den Code eingeben zu müssen. Er hat interessante Inhalte drauf.“
Er öffnete überrascht die Augen und sah auf den Tisch. Das Handy lag auf einem weißen Blatt Papier. Er blickte zu ihr hoch und sie grinste ihn schelmisch an, „Ich will wetten, dass du das nicht kannst.“
Er lachte, überrascht und volle Neugierde. „Wie hast du das gemacht?“
Sie schob das Handy beiseite, dessen Bildschirm direkt ausging, und deutete auf das Papier, auf welchem ein kleines Dreieck abgebildet war, in welchem weitere Symbole verarbeitet waren, „Das ist Magie, welche eher im Handwerklichen angelegt ist, also Magie zweiter Art. Das weißt du oder? Die Sorte von Magie, welche auf den Naturgesetzen aufbaut.“
Er nickte. So viel zu den Grundlagen.
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„Und das ist ein echt altes Modell von einem Handy. Wenn du weißt, wie diese funktionieren und eine Vermutung hast, welche Materialien drin verbaut sind, dann kannst du den entsprechenden Zauber schreiben, welcher bestimmte Sicherheitslücken ausnutzt, um hineinzukommen. Ich kenne jetzt zwar sein Passwort nicht, aber so lange es auf dem Symbol liegt, brauche ich dieses nur aktiviert zu halten und wird es das Passwort nicht abfragen. Es gäbe auch andere Möglichkeiten, aber diese scheint mir unter diesen Umständen die einfachste zu sein.“
Er bedachte das Symbol, welches sie gezeichnet hatte, „Funktioniert das bei jedem Gerät so?“
„Bei vielen Geräten auf die gleiche Art und Weise. Manche Metalle haben auch Einfluss. Aber das ist keine hochkomplexe Magie. Das Symbol ist meistens dasselbe. Nur bestimmte Einzelheiten müssen geändert werden. Und ab da an, ist es einfach nur ausprobieren, bis es funktioniert.“
Sie schob die Hand beiseite und zeigte ihm zwei andere Symbole, von denen er ausging, dass sie mit diesen zuvor probiert hatte, den Code zu umgehen.
Neugierig sah er sie an, verglich sie miteinander und entdeckte die Unterschiede, die sie angesprochen hatte.
„Dreieckssymbole halten immer nur für eine kurze Zeit. Oder? Brauchen sie nicht stetig Energie?“, fragte er nach. Ein Zeichen der Stabilität, aber eher selten natürlich vorkommende Form. Im Rahmen der Magienutzung muss sie durch den menschlichen Körper hergestellt werden und mit dem Geist des Menschen, mit einem Sinn ausgestattet werden.
„Sie halten, bis das Symbol zerstört wird. Was die Energie angeht, nun, dafür gibt es viele Möglichkeiten. Sein Handy ist fast voll aufgeladen und das ist auch eine Art von Energie. Ich hab den Zauber darauf angepasst, hier.“ Sie zeigte auf ein kleines Viereck in der unteren Ecke einer Spitze.
„Das wird so lange daran ziehen, bis der Akku leer ist.“
„Beeindruckend“, sagte er. Er wusste, dass Magie mit Vierecken als Grundbaustein hauptsächlich für Flüche genutzt wurde, da diese stetig aus der Umgebung Energie zogen. Zu sehen, wie das ineinander kombiniert wurde, beeindruckte ihn, „Weißt du, was mich immer gewundert hat? Cruz meinte, dass es Indizien in alten Schriften der alten Welt gibt, welche Quadrate und Vierecke als Symbole der Stabilität darstellen. Ist da was dran?“
Etienne zuckte mit den Schultern, „Kann sein, dass es mal so war. Es gibt Salze, welche von ihrer Struktur her auch quadratisch sind. Mit ihnen können Flüche neutralisiert werden und von dieser Betrachtungsweise her ist das gar nicht so abwegig.“
„Wieso wird diese Grundstruktur dann für Flüche genutzt? Ist das nicht mehr Instabilität?“
„Es ist das, was die Menschen nach dem Zusammenbruch der alten Welt daraus gemacht haben. Magie erster Art folgt nicht den Naturgesetzen, sondern dem menschlichen Geist. Einer hat damit angefangen, dann ein anderer und viele weitere haben angefangen, daran zu glauben und den Glauben zu verbreiten. Und nun sind wir hier, wo es unanfechtbares Allgemeinwissen geworden ist, dass diese Symbole wohl niemals eine andere Bedeutung bekommen würden… nicht ohne viel Arbeit zumindest.“
„Beeindruckend“, sagte Raffael erneut, verspürte ein Drang, sich noch mehr damit auseinanderzusetzen, „Beinahe bereue ich es schon, nicht mehr dazu gelernt zu haben.“
„Ehrlich gesagt, kann ich das nicht so ganz nachvollziehen. Diese Magie ist nicht kompliziert. Und mittlerweile ist sie so vielfältig, dass es keinen Beruf gibt, wo sie nicht aushelfen könnte. Verstehe mich nicht falsch. Alberto hat beeindruckendes Talent, mit welchem er fantastische Arbeit leistet. Aber damit würde er deutlich weiter kommen. Und Magie zweiter Art ist echt nicht kompliziert zu erlernen.“
Raffael lachte, „Er ist sehr stur. Wahrscheinlich weiß er davon, aber wird nur so arbeiten, wie er es als richtig betrachtet. Bis vor einer Weile wollte er nicht mal einen Schüler.“
Sie legte das Handy wieder auf das Symbol und tippte es mit dem Finger an. Das Handy leuchtete auf und Etienne betrachtete erneut die Bilder drauf.
„Ist es in Ordnung für dich, wenn ich es an mich nehme?“, fragte sie ihn.
Er zuckte mit den Schultern, „Du warst diejenige, die es haben wollte.“
Das Handy interessierte ihn nicht. Am liebsten würde er die ganze Konfrontation mit Braad vergessen. Bis ihm erneut aufgefallen war, dass sie beide durchaus in der Lage waren, etwas gemeinsam zustande zu bringen. Diese Erkenntnis war vielleicht etwas Positives, was er aus der Situation ziehen konnte.
Er beobachtete sie dabei, wie sie ein Bild nach dem anderen betrachtete. Ihr Gesicht sagte nicht viel aus, bis er ganz kurz eine Regung entdeckte, die ihn neugierig machte.
„Was ist?“, fragte er nach. Sie sagte ihm nichts und die Regung war verschwunden. Ihre Finger wischten schnell über den Bildschirm. Sein Blick fiel auf das Handy. Er legte die Hand auf das Papier und zog es zu sich. Sie hielt es fest und sah ihn warnend an. Er ignorierte es jedoch und versuchte auszumachen, was auf dem Bildschirm zu sehen war. Nach einem Moment entdeckte er auf diesem lange braune Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren.