„Und das, meine lieben Freunde, ist der Grund, weshalb ich heute hier stehe“, sagte Raffael mit einem breiten Grinsen im Gesicht, nachdem er seinen Freunden über die Konfrontation mit Tatinne erzählt hatte. Er wusste, dass diese alte Frau ihm unter die Haut fahren wollte. Und sie hatte es geschafft. Drei lange Tage hatte er sich nachts im Bett gewälzt und sich Gedanken gemacht. Nun war er hier, vor den Toren des Châteaus, welches weit außerhalb der Stadt Calisteo und erst recht nicht in seiner Zuständigkeit lag. Und das nur um denjenigen zu sehen, welcher die Vorhersehung erfüllen sollte.
Seine Cousine Scarlett sah nicht glücklich aus, als sie dem düsteren Gebäude hinaufblickte.
„Ich fasse es nicht, dass ich dich hierher begleitet habe.“
Sie wirkte noch immer leicht desorientiert von dem Sprung, aber langsam kehrte Klarheit in ihre Augen zurück. Es war immer ein Genuss zu sehen, wie sie mit all ihrem vorlauten Sein auf einmal wie ein braves Kind ihm auf Schritt und Tritt folgte. Links und rechts, oben und unten, vorne und hinten. Das alles verschwamm für sie, sobald sie ihre angeborenen Fähigkeiten nutzte und von einem Ort zum anderen sprang.
Sein Freund Crom zog ebenfalls seine Schusswaffe und sagte, „Wenn ich sterbe, such ich dich heim.“
„Lass es uns hinter uns bringen. Anjelika wird sich freuen, wenn wir es heute noch schaffen sollten vorbeizukommen, anstatt unsere Zeit hier zu verschwenden“, sagte seine Cousine. Sie war die ganze Zeit über nicht zufrieden mit dem Ausflug gewesen. Ein ganz bestimmter Lehrer an ihrer Schule würde sie das nächste Mal für das heutige Fehlen ausschimpfen und Scarlett würde diejenige sein, welche das Meiste abbekommen wird.
Raffael konnte sich immer auf seine Cousine verlassen. Sie war immer für ihn da, egal ob es war, um ihn zu nerven oder für ihn ins Fadenkreuz zu rennen. Also entschloss er sich, das Ganze schnell über die Bühne zu bringen. Doch seine Cousine hielt ihn plötzlich zurück, „Warte. Hier.“
Raffael nahm die Visitenkarte entgegen, „Was soll ich damit?“
„Keine Ahnung", antwortete Scarlett, „Eine liebenswerte Frau hat es mir in Calisteo in die Hand gedrückt, nachdem sie ihre Kleider abgeholt hat. Da dachte ich mir, ich schenke dir ein schönes Erlebnis.“
Raffael schnaubte, „Die ist für ein Frauensalon, Scarlett. Die werden mich herauswerfen.“
„Wirklich?“, sie sah über seine Schulter, „Tatsächlich.“
„Wieso schiebst du deinen Müll immer zu mir?“, fragte Raffael sie.
„Weil du ihn immer annimmst“, antwortete sie kühl. Und das stimmte.
Raffael seufzte und steckte die Karte ein. Er würde sie an einem anderen Ort wegwerfen. Und nicht dort, wo womöglich irgendeine Bestie auf sie aufmerksam wird und diesen armen Frauenladen dann aufsucht. Nicht, dass die Biester schlau genug dazu wären. Aber er wollte es trotzdem nicht riskieren.
„Genug ihr zwei. Können wir endlich los“, jammerte Crom, „Euer Gezanke könnt ihr auf später verschieben. Zu eurer Information. Wir laufen schon seit einer halben Stunde im Regen und ich bin bis auf die Knochen nass.“
Raffael ignorierte ihn und sie setzten sich in Bewegung. Voller Vorfreude betrat er das Château. Und als er über die Schwelle ging, fühlte er sich sofort anders. Er war bereit für einen Kampf. Raffael hatte alles ganz genau geplant. Sie würden nur so weit gehen, bis sie ihn gefunden haben. Er würde ihn kennenlernen, sich einen ersten Eindruck verschaffen. Einfach sicher gehen, dass es sich nicht um einen Wahnsinnigen handelte.
Es war nicht so, dass Raffael unbedingt gegen ihn kämpfen wollte. Wenn das Schicksal diesen Ablauf der Geschichte wollte, dann sollte es so sein. Aber es war erst ein Jahr her, seit sie einen Tyrannen losgeworden waren und seiner Provinz ging es mittlerweile um so vieles besser. Ein Ergebnis der Arbeit all der Menschen, die sich so bemüht hatten, ihr Zuhause zu einem besseren Ort zu machen. Er konnte das nicht in unwürdige Hände abgeben.
„Zieht die Ringe an“, sagte er zu ihnen und sie gehorchten ihm.
„Bekomme ich noch einen Antrag?“, fragte Crom und Raffael schnaubte belustigt. Auch er zog einen Ring an. Einer der Gründe, weshalb die niederen Wesen dieses Gebietes ihnen nichts anhaben konnten. Raffael würde nicht zulassen, dass er jemanden verlieren würde. Für Sicherheit war so gut es ging gesorgt.
Als sie den dunklen großen Saal betraten, war es bedrückend und still. Nichteinmal die Geräusche des Regens drangen zu ihnen durch. Raffael wusste, dass dieser Raum zum ersten Turm gehörte. Er hatte die letzten drei Tage damit verbracht, sich ausgiebig mit dem Château zu beschäftigen. Er wusste über alle dokumentierten Gänge Bescheid, über alle Geheimgänge und über alle Zimmer, welche je gebaut wurden. Die Gänge der oberen Stockwerke waren so verwirrend, dass er darauf achten musste, keinen seiner Begleiter zu verlieren. Nur ungern würde er sie in diesem Schloss suchen müssen. Scarlett würde allein zurecht kommen. Sie könnte sich einfach raus bewegen. Anders als bei Crom. Er hatte keine angeborenen Fähigkeiten, die ihm helfen würden. Und das Handwerk der Magie beherrschte er auch nicht. Raffael musste besonders auf ihn achten.
Gespannt warteten sie kurz, ob sich etwas regen würde. Doch es tat sich nichts. Raffael sah hinüber zu seinen Begleitern, welche mit großen Augen und vollkommen angespannt die Umgebung beobachteten. Sie waren konzentriert, das war gut.
Er drehte sich wieder weg und ging langsam und wachsam zu der Treppe, wunderte sich mit jedem Schritt, was dieser Mann hier wollte. Und dann kam ihm ein Gedanke.
„Also“, meinte er zu seinen Begleitern, „Was würdet ihr an solch einem Ort verstecken?“
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Crom verstand es nicht auf Anhieb, aber Scarlett schon. Kein Wunder, schließlich waren sie beide miteinander aufgewachsen. Sie verstanden sich ohne Worte.
„Du meinst also, dass die Person, auf die du es abgesehen hast, auf der Suche nach etwas ist, was die Wächter bewachen?“
„Das denke ich.“
„Wahrscheinlich ganz oben. Und etwas sehr Wertvolles. Ich würde auf magisch tippen“, führte Scarlett weiter aus.
„Und natürlich etwas Gefährliches, denn es wird ja nicht umsonst an solch einem Ort versteckt“, sagte Raffael.
„Ihr Beltrans seid eine Plage“, beschwerte sich Crom.
Scarlett lachte, „War das zu schnell für dein kleines Hirn.“
„Ich bin nicht dumm“, erwiderte Crom beinahe schon energetisch. Sie zog ihn zu oft damit auf. Aber er genoss ihre Aufmerksamkeit. Zu oft hatte Raffael ihn dabei beobachtet, wie er sich freiwillig in genau diese Position begab, nur damit sie ihn ärgerte. Aber für den Moment war das kein guter Zeitpunkt.
„Hört auf euch zu necken. Ihr könnt eure Liebesschwüre auf später verschieben.“
„Wie bitte?“, rief Scarlett aus und automatisch duckten sich alle drei. Kurz warteten sie, ob sich etwas zeigen würde, doch die Sekunden verflogen und kein Monster kam in Sicht, was ihm sehr sonderbar vorkam. Scarlett steckte ihren spitzen Fingernagel in Croms Wange, „Als ob ich mit diesem Idioten was anfangen würde.“
„Reg dich ab“, sagte Raffael warnend.
„Nimm deine Nägel aus meinem Gesicht“, sagte Crom und schob sie weg.
Sie rafften sich wachsam wieder zusammen und gingen die Treppe hinauf. Raffael musste die Stirn runzeln, als am Treppenende noch immer nichts zu sehen war. Es war seltsam. Nicht, dass er unbedingt einen Kampf wollte. Aber diese Geschöpfe waren nicht dafür bekannt, sich schweigend zurückzuhalten. Sie waren territorial, beschützen ihren Grund und Boden und einander in einer unnachgiebigen, brutalen Weise. Raffael wünschte sich, die Menschen wären auch so loyal zueinander.
Als sie weiter empor stiegen, machte er eine Beobachtung, welche ihm etwas mehr Einblick in ein mögliches Geschehen gab. Anscheinend gab es hier einen Kampf. Es gab aber keine Leichen. Das erinnerte ihn an das Abenteuer von vor fünf Jahren, als er und Scarlett und einige ihrer Freunde eine Höhle neben dem Meer aufgesucht hatten. Gott, war das ein Desaster gewesen. Er war mit vierzehn viel zu jung für diese Sorte der Abenteuer gewesen und einer von ihnen war bis heute verschwunden.
Es war feucht. Die einst roten Tapeten wiesen Schimmel auf. Ebenso wie die umgeworfenen Möbel. Hier und da lag Glas. Mit Bedacht stieg er drüber, versuchte nicht drauf zu treten. Sie gingen leise weiter, diesmal mit mehr Erfahrung, als damals.
Weiterhin passierte nichts. Sie wurde nicht angegriffen. Doch sie bemerkten etwas Interessantes. Ein Glimmer in der Luft, in bunten Farben leuchtend und so surreal, dass ihm schlecht vom Anblick wurde. Es war ein Zeichen für höhere Magie. Er hatte so etwas noch nie gesehen.
„Das bedeutet, jemand hat den Raum gewechselt. Oder?“
„Ja“, sagte Scarlett. Auch sie war mittlerweile viel konzentrierter.
Raffael verstand den Sinn dieser Beobachtung nicht. Die Welt der Geister war nicht immer leicht zu erreichen und es barg immer ein Risiko, in dieser verlorenzugehen. Der zweite Raum lag genau über der Welt der Menschen. Manche behaupteten, es wäre eine Kopie der echten Welt, welche entstanden ist, nachdem die Realität der alten Welt zusammengebrochen war und zu der dunkelsten Stunde der Geschichte der Menschen geführt hatte. Keiner wusste aber so genau, wie der zweite Raum entstanden war. Vielleicht war er schon immer da, aber keiner hatte hineinschauen können.
„Wahrscheinlich hat er gedacht, dass er die Monster so abhängen würde“, sagte Raffael.
„Ist doch eigentlich eine gute Idee?“, erwiderte Crom fragend.
Scarlett schüttelte den Kopf, „Nein. Die Monster im Château sind sowohl Lebewesen als auch Geister. Sie werden der Person überall hin folgen können.“
Immerhin erklärte diese Entdeckung, wo sie alle hin waren. Der Besucher vor ihnen, wahrscheinlich der Mann, von dem Tatinne gesprochen hatte, hatte all die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Umso besser für Raffael. Vielleicht konnte er das Ganze für ein paar Momente aus der Ferne beobachten und dabei vielleicht eine erste Einschätzung über ihn fällen. War nur die Frage, wie er ihn im anderen Raum ausmachen konnte.
Sie traten gemeinsam durch die Tür zur weiteren Treppe, welche in einem weiten, spiralförmigen Bogen nach oben führte. Die Dunkelheit fühlte sich bedrohlich an und die Kurven des Ganges ließen seine Anspannung steigen. Man wusste nie, ob etwas in den Ecken oder hinter den Abbiegungen lauern würde. Die Eingänge zu den Gängen zwischen den Türmen fingen an, sich zu häufen. Sie blieben jedoch alle an der Wand und folgten der Treppe hinauf, stetig weiter.
Die Luft war feucht, genauso wie die Wand unter seinen Fingern. Manchmal erwischte er schleimigen Moos und es erinnerte ihn an den See, in welchem er früher immer geschwommen war.
Plötzlich hörte Raffael etwas. Er konnte dieses Geräusch nicht genau identifizieren. Er sah zurück, zu einem der Gänge. Sie waren circa elf Schritte davon entfernt. Die anderen wurden wachsamer, als das Geräusch näher kam. Es dauerte einen Moment, aber dann dämmerte es ihm, dass es sich um einen Schrei handelte. Sein Finger wanderte zum Ring, bereit sich und die anderen zu schützen.
Plötzlich schoss aus dem Gang eine Person hervor. Sie lief in einem Moment an ihnen vorbei und glatt durch Scarlett hindurch, welche sich erschrocken versteifte. Die Gestalt zu sehen, löste in ihm einen Schrecken aus und verursachte eine tief sitzende Übelkeit, welche er in seinen Knochen spürte. Es fühlte sich surreal an, nicht normal.
Raffael sah ihr unter Anstrengung hinterher, kniff die Augen zusammen, versuchte durch das Flimmern zu blicken, welches sie umgab. Es war, als würde er versuchen, im Traum ein Gesicht zu erahnen, nur um daran zu scheitern. Aber eine Sache sah er ganz deutlich, nämlich eine seltsame Gestalt mit Krallen an ihrer Jacke hängen, welche sich in unordentlichen langen Haaren zu verheddern schien. Doch als plötzlich die Umgebung leicht bebte, sah er wieder zurück und entdeckte eine Menge sonderbarer Kreaturen aus dem Gang hervorschießen. Er konnte durch die Gestalten hindurchsehen, als hätten sie keinen Körper. Ihre Farben flimmerten, die Umrisse verschwammen, nur um anschließend eine klare Form anzunehmen. Wahr gewordene Gefühle, getränkt von unzähligen Menschen der vergangenen Jahrzehnte, welche das Château aufgesucht hatten. Eine wahr gewordene Fantasie, welche Gestalt, Sinn und Willen erlangt hatte. Deswegen waren es Geister und Lebewesen zugleich. Die einzigen Kreaturen, welche sowohl im ersten als auch im zweiten Raum residieren konnten. In Calisteo wurden sie Idrazeels genannt.
Er fluchte, „Wir rennen auch."
Den Spuren nach, war sie lange vor ihnen im Château gewesen. Wie war diese Person hinter sie gekommen? So hatte er sich das nicht vorgestellt.