Es war Jahre her gewesen, als Etienne einen Weg durch den sternenbeleuchteten Rosengarten zu einem kleinen, mit Dornen geschützten Verliesen geführt wurde. Eine ihrer früheren Erinnerungen, welche eine Frau beinhalteten, deren von Glückseligkeit erfülltes, mageres Gesicht sich in ihrem Kopf eingebrannt hat. Eine verkümmerte Figur, in sauberer Kleidung, scheinbar gut gepflegt, dennoch war sie mager gewesen und das nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Denn anders konnte Etienne sich nicht die Ambivalenz der Gefühle erklären, welche nur auf die offensichtlichsten reduziert waren, als wäre sie gänzlich unfähig differenziertere Empfindungen in allen ihren Tiefen und Facetten zu empfinden. Glück und Euphorie hat sie ergriffen, als sie die Person neben Etienne wahrgenommen hat. Sie hat sich auf die Knie geworfen, hat gestrahlt wie die Sonne und sich zeitgleich auf dem weichen Teppich ihrer Zelle übergeben. Er hatte ihr ins Gesicht gespuckt und sie hat es behandelt, wie eine geschenkte Droge. Sie war vom Glück ergriffen und zeitgleich war ganz deutlich in ihren Augen zu sehen, dass da ein wütender, weit entfernter Zuschauer war, welcher genau wusste, was mit seinem Körper passierte und welcher nichts dagegen auszurichten vermochte. Einer der ersten Konfrontationen von Etienne mit Flüchen und deren Auswirkungen auf den menschlichen Geist, welcher den künstlich ausgelösten Begierden oder Schrecken unterlag, dazu verdammt in seinem Inneren an der Seite zu stehen und Zuschauer zu sein.
Nun stand sie mit ihrer geliebten Jacke in den Händen, welche von der zu ihr dringenden Magie brannten. Kalter Schweiß sammelte sich unter ihrer Kleidung und in ihrem Magen setzte eine berennende Übelkeit ein, als das Gesicht dieser Frau vor ihrem inneren Auge aufleuchtete, beraubt jeglicher Freiheit, selbst ihrer geistigen, ein Schicksal, welches auch ihr drohen würde, wenn sie stetig dem Fluch ausgesetzt wäre. Es war ein langsamer Fang, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Auf einen Schlag machte auch der schlampige Fluch unter ihrem Stuhl Sinn. Ein Angriff auf ihren Willen, damit der zweite Fluch sich durch seine Risse fressen und an dem laben konnte, was durch ihren Willen kontrolliert wurde. Ihre Triebe, ihre Liebe, ihre Zuneigung, sowie ihre Ängste und ihre Sorgen und all die anderen Gefühle, welche die Kontrolle über sie erlangen könnten. Wie bei der Frau.
Raffael redete weiter, erzählte ihr etwas von seinen Plänen, die letztendlich nur darauf hinauslaufen würden, dass er sagen würde, was sie tun sollte und von ihr erwarten würde, dass sie ihm gehorchte. Ein deutlich leichteres Unterfangen sollte sie diese Jacke anziehen und eine Weile tragen.
Etienne lenkte Magie in ihre Fingerspitzen und das Brennen ließ etwas nach. Ein kurzer Blick in die zweite Welt und sie konnte die deutlichen Farben sehen, ein Gold für Magie, ein dunkles Violett und Rot. Sie justierte ihre Sicht in die zweite Welt etwas, keine leichte Handlung und ihre Augen brannten etwas, aber nach und nach sah sie Schemen und Formen, welche ihr groß bekannt vorkamen. Raffael hätte ihr genauso gut ins Gesicht spucken können. So fühlte sich also Verrat an.
Etienne warf die Jacke wieder in die Tasche, weg von sich, aber nicht weit genug, da sie es nicht übers Herz brachte. Die Sicht in die zweite Welt wurde fallen gelassen, ihre Augen brannten noch immer. Sie spürte, wie die Wut sich zusammenzog zu einer ihr nur zu vertrauten kleinen, kalten Kugel, umgeben von Ruhe, welche sie kontrollierte. Sie war bereit für einen Kampf, aber nicht, wenn sie dabei den Kopf verlor.
„Etienne?“, hörte sie ihn misstrauisch fragen. Sie war sich nicht sicher, ob er wusste, dass sie den Fluch bemerkt hatte. Aber das würde keinen Unterschied machen. Er hatte zuerst die Waffe gezückt. Das war alles, was für sie zählte und was sie brauchte. Wie konnte er es wagen?
„Du willst also, dass ich deine Provinz übernehme?“, fragte sie, trat zu ihm und setzte sich vor ihm in die Hocke. Etienne lächelte zu ihm hinauf, betrachtete seinen irritierten Blick. Er hatte schöne, warme Augen. Solch ein hinterlistiger Mistkerl.
„Es ist nicht, dass ich es will“, sagte er vorsichtig, „Aber ich werde nicht Kraft daran verschwenden, gegen eine Vorhersehung anzukämpfen, wenn das Hauptziel sein soll, die Sicherheit und den Wohlstand der Menschen zu sichern.“
„Ah“, sagte Etienne verständnisvoll und glaubte ihm kein Wort, entschloss sich aber mitzuspielen, „Es ist dir egal, wer die Stadt leitet, Hauptsache derjenige macht es richtig.“
Seine warmen Augen bedachten ihr Gesicht prüfend. Auf einmal empfand sie Dankbarkeit. Er hatte ihr die ganze Situation mit einem Schlag um so viel leichter gemacht. Etienne hatte sich nie wohl damit gefühlt, Menschen als Gegner zu haben, die innerlich gut waren. Je mehr sie ihn kennengelernt hatte, desto mehr schien er zu dieser Sorte zu gehören. Sie war nicht gerne der Bösewicht. Nun war sie nicht allein und noch besser, sie hatte nicht angefangen. Ihr wurde klar, dass sie nie angefangen hatte. Er hingegen versuchte stetig die Schlinge mehr und mehr um ihren Hals zu ziehen. In jedem unachtsamen Moment von ihr hatte er sich einen Vorteil verschafft, sei es mit ihrem Stein und nun noch schlimmer, mit ihrer geliebten Jacke. Etwas, was nicht nur ein Gegenstand war, sondern eine besondere Rolle in ihrem Leben einnahm. Nahm seine Provinz eine Besondere in seinem Leben ein?
„Vielleicht lasse ich mich doch überzeugen, das zu machen. Nirgendwo ist der Blick schöner als ganz oben. Das wolltest du mir sicherlich mit dem heutigen kleinen Ausflug zeigen.“
„Was? Nein!“, sagte er vehement.
Sie sprach weiter, ignorierte ihn, „Was soll ich als Erstes machen? Ich könnte ein paar nervige Verträge mit den anderen Städten aufheben. Es ist nie gut, abhängig von anderen zu sein. Vor allem der Rohölimport aus Vheruna ist eine Schwachstelle von Calisteo. Was wollt ihr nur machen, wenn die Stadt nicht mehr neutral ist und die Loyalität nicht mehr Vherunas König gilt? Dann würden wir zwangsläufig Vasallen von denjenigen werden, die über Vheruna herrschen.“
Er runzelte erneut die Stirn, „Was? Etienne, das ist eine furchtbare Idee.“
„Nein, nein“, sagte sie, „Ich glaube, das ist eine fantastische Idee. Natürlich nicht für eure Maschinen, auf die du so stolz bist. Kann sich natürlich nicht so gut auf eure Ernte auswirken. Aber damit haben die Menschen scheinbar schon Erfahrungen gemacht, ich bin mir sicher, sie meistern ein weiteres … Knappheitsproblem von Nahrung.“
Reading on Amazon or a pirate site? This novel is from Royal Road. Support the author by reading it there.
Sie genoss jeden Moment, in welchem sein Gesicht von Verwirrung zu Unglaube zu Wut wechselte. Diese funkelte in seinen Augen auf und die Wärme verschwand. Er wandte den Blick nicht ab und diesmal genoss sie es, ihm direkt in die Augen zu starren. Hoffentlich fühlt er sich genauso, wie sie gerade. So viel Schmerz, etwas Geliebtes zu verlieren, das war sie ihm schuldig. Auch wenn sie nie dazu kommen würde, ihn wirklich etwas verlieren zu lassen, nicht wie es gerade bei ihr und ihrer Jacke der Fall war.
Raffael atmete tief durch, schien sich zu beruhigen, zu versuchen. Aber sie würde es ihm nicht erlauben. Etienne hatte fest vor, ihn die Fassung verlieren zu lassen.
„Ich bin nicht hier hochgekommen, um mich mit dir zu streiten“, sagte er. Eine vernünftige Aussage, wie sie es von einer Person erwartete, welche sich so sehr Mühe gab, das zu sein, was seine Menschen brauchten.
„Nein, du hast dir den heutigen Abend sicherlich ganz anders vorgestellt“, stimmte sie ihm zu, „Und vielleicht hätte ich es dir sogar gegönnt. Aber letztendlich sind wir nur zwei Fremde. Wir werden es immer bleiben. Und wie wir beide wissen, ist eine Freundschaft ausgeschlossen.“
Sein Kiefer spannte sich an. Er starrte sie an, schien zu überlegen, was er als Nächstes sagen sollte. Doch nun lag eine Härte in seinen Augen. Er mochte zwar den Stein haben, aber er hatte bei Weitem nicht die Oberhand. Raffael wusste nicht, wie dringen Etienne sie brauchte und er wusste nicht, dass sie unter Zeitdruck stand. Solange er das nicht herausfand, konnte sie sich weit herauslehnen.
War es sein Plan, sie in die Ecke zu treiben und dann mit Magie zu unterwerfen? Er hatte keine Ahnung, wie weit sie gehen konnte.
„Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht mit anderen Freundschaften schließen könnte. Es gibt hier so viele interessante Menschen in der Stadt.“
Er schnaubte und sagte: „Ah, weht daher der Wind? Hat dir jemand etwas eingeredet, als ich einen Moment nicht darauf geachtet habe?“
Sie lächelte seinem Versuch entgegen, sich zu erklären, wie er in diese Situation geraten war. Bestimmt hat er gedacht, dass sie ein ruhiges Gespräch führen würden.
„Niemand. Es gibt niemanden in dieser Stadt, der das könnte. Auch du nicht. Es reicht auch nicht aus, mir mein Eigentum zu nehmen und damit zu erpressen, das macht mich nur wütend.“
„Es war nie meine Absicht, das zu tun“, verteidigte er sich, noch immer mit dieser kontrollierten Stimme, welche jedoch nicht das Toben in seinen Augen bedecken konnte, „Und wenn es hier um unser erstes Gespräch geht: Ich wollte nur Zeit gewinnen. Du hast mich damit überrascht, dass du bei Tatinne warst und ich kann auch nichts dafür, wenn dein versautes Hirn das Wort Intimität nur auf eine Art zu deuten weiß.“
„Keine Sorge, das werde ich dir noch im vollen Maße heimzahlen“, sprach sie ehrlich, die Wut regte sich wieder bei seiner Provokation. Sie hatte es nicht vergessen und sie vergab nicht. Wenn sie es tat, würden sie alle nur auf ihr herumtrampeln.
„Ich will nicht dein Feind sein.“
„Der einzige Weg, nicht mein Feind zu sein, wäre der, mir den Stein zu geben und mich um Verzeihung zu bitten. Aber nicht nur, dass du ihn mir genommen hast, du hast mich auch beleidigt.“
Mehrmals. Sie hatte über den ersten Morgen hinweggesehen, weil es noch nicht verlangt hatte zu handeln. Aber das mit der Jacke würde sie ihm nicht verzeihen. Er war einer der wenigen, der davon wissen konnte. Der Schneider, Scarlett vielleicht auch. Da Scarlett bei ihm arbeitete und Raffaels engste Vertraute war, war es gar nicht so unwahrscheinlich, dass es diese Menschen waren, die sich an ihrer Jacke zu schaffen gemacht haben konnten. Meta und Gilgian könnten auch Wind davon bekommen haben, doch Gilgian war nicht gerissen genug, um einen Fluch zu organisieren und Meta war zu leicht einzuschüchtern, um sich an diese Arbeit zu machen. Sie hatte nicht das Rückgrat, sich den Flüchen zu widmen. Somit war die Liste an Menschen, welche sich in dieser kurzen Zeit an ihrer Jacke zu schaffen machen konnten, sehr gering und nahezu alle gehörten zu Raffael, derjenige, welche sie ohne ihre Gegenwehr aus Tatinnes Küche mitgenommen hat.
„Es war nicht meine Absicht, dich zu beleidigen“, sagte er. Vor ein paar Stunden hätte sie furchtbar viel Spaß damit gehabt, ihn so in der Defensive zu sehen.
„Natürlich nicht“, sagte sie, „Du tust nur das, was du für deine Provinz als richtig ansiehst. Das werde ich dir nicht vorwerfen. Also lass mich dir einen Ratschlag geben, der dir dabei helfen wird zu entscheiden, was wirklich das Beste für sie sein wird. Wenn ich jemals an die Macht kommen sollte, werde ich deine Provinz langsam dem Boden gleich machen. Aber nur deine und du wirst daran schuld sein, weil du mich in die Machtposition gedrängt hast.“
Er schwieg. Sah sie nur wütend an. Atmete langsam und kontrolliert, doch der Atem zitterte vor unterdrückter Wut.
„Bin ich nicht nett?“, fragte Etienne und stand auf, „Ich warne dich vor, bevor ich loslege. Immerhin weißt du jetzt, was passieren wird.“
Sie ging zurück zu der Tasche, ihre Jacke noch immer offen auf dieser liegend. Sie war sich sicher, dass, wenn sie den Stoff aufschneiden würde, der hässliche Fluch ihr entgegenspringen würde. Bedachte sie die Schmerzen in ihren Fingerkuppen, dann war das kein schwacher Fluch. Er war wenigstens einige Stunden und höchsten zwei Tage an ihrer Jacke. Je nachdem, wie früh er aktiviert worden war, konnte er sich schon seit Tagen mit Energie vollgesogen haben. Wenn sie Pech hatte, würde sie die ganze Jacke vernichten müssen. Ihr war zum Heulen zumute.