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Calisteo - Stadt der Geister [German/Deutsch]
Kontrahenten: Ungewohnte Defensive

Kontrahenten: Ungewohnte Defensive

Raffael hob eine Braue, während er sich eine Reihe unter ihr setzte und seinen Rucksack auf den Boden warf. Ein Schwall von frischer Luft begleitete ihn und brachte ein Gefühl von nassem Wetter in die Halle.

„Das ist ein neuer Gesichtsausdruck. Was überrascht dich so?“

Sie sah ihn einen Moment sprachlos an und ihr Kopf fing vor Schrecken an, sehr schnell zu arbeiten. Normalerweise war dies besonders hilfreich, wenn sie in gefährlichen Situationen steckte. Sie war sich nicht sicher, ob das eine war, denn während sie sich in ihrer ruhigen Dunkelheit sicher gefühlt hatte, war er auf einmal aufgetaucht.

Etienne stellte fest, dass er dunkle Ringe unter den Augen hatte. Er sah sehr müde aus und sie konnte sich gut vorstellen, dass er seit ihrem Abenteuer in der Villa nicht viel Ruhe bekommen hatte. Seine Jacke war etwas nass. Wahrscheinlich nieselte es draußen.

„Was machst du hier?“, fragte sie ihn und ihre Stimme hörte sich zum Glück ruhiger an, als sie sich fühlte. Sollte er reden, während sie sich von der Überraschung erholte und sich überlegte, wie sie sich am besten diesem Gespräch stellen sollte.

Er sah sie prüfend an und dann breitete sich ein verstehendes Lächeln in seinem müden Gesicht aus.

„Ich hab vermutet, dass ich dich hier finde“, sagte er. Sie wartete ab, dass er weiter redete, doch er sagte nichts. Er erklärte ihr nicht, wie er auf diese Schlussfolgerung gekommen war. Oder was genau er davon hielt, dass das Erste, was sie am nächsten Tag nach ihrem Gespräch getan hatte, es war, sich mit jemandem anzulegen.

Sie starrten sich an, bis sie schließlich nachgab und das Wort ergriff, „Muss ich noch mehr Fragen stellen, um eine verständliche Antwort zu bekommen?“

„Versuchs. Vielleicht beantworte ich ein paar. Oder auch nicht. Mir ist gerade nicht wirklich danach, Fragen zu beantworten.“

Sie hörte einen wütenden Unterton in seiner Stimme. Etienne unterdrückte das Bedürfnis, sich unter seinem Blick nervös zu winden. Bei O’Donnel hatte sie sich nicht so gefühlt. Ihre Gedanken huschten zum Stein und dem Grund des Meeres. Er hatte gesagt, er würde das nicht machen.

„Dann sollten wir besser in die Klasse“, sagte sie und versuchte zu überdecken, dass sie sich eingeschüchtert fühlte. Die beste Art, dieser Situation zu entkommen, war es, nicht mehr allein mit ihm zu sein.

„Cruz hat die ersten Stunden heute. Und er ist morgens nie da. Außer er muss“, sagte er, „Von unserer ganzen Klasse bist du aktuell allein da. Leichte Beute für Halil.“

Sie behielt ihr Lächeln aufrecht, als er mit solch einer Betonung den letzten Satz aussprach, dass sie allein deswegen glaube, sie wäre Halil nicht gewachsen.

„Dann werde ich mich wohl auch verabschieden. Etwas Ruhe würde mir bei den furchtbaren Wunden guttun, die ich nach der Villa erhalten habe.“

Er verschränkte die Arme über die Lehne, „Das kann ich mir vorstellen. Muss furchtbar wehtun, oder?“

Sie nickte, „Fürchterlich.“

„Dann sollten wir wohl zur Krankenstation. Sie könnten sich noch mal alles anschauen und sichergehen, dass nichts übersehen wurde.“

Sie starrte ihn an und er erwiderte abwartend ihren Blick. Dann lächelte er, „Nur zu. Was hast du noch zu bieten? Ich habe den ganzen Tag Zeit.“

Sie lächelte ihm entgegen und sagte nichts. Verflucht sei er und sie auch, weil sie sich wirklich von ihm in die Ecke drängen ließ. Sie könnte einfach aufstehen und gehen, aber sie hatte nicht das Gefühl, dass sie damit durchkommen würde.

„Was willst du von mir?“, fragte sie dann säuerlich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Er hob belustigt eine Braue, „Was, sind wir schon fertig? Keine Fluchtversuche mehr?“

Sie hob trotzig ihr Kind und weigerte sich, ihm darauf eine Antwort zu geben. Wenn er sie den ganzen Morgen über schweigend anstarren wollte, nur zu. Sie würde sich schon zu beschäftigen wissen. Warlens Buch wartete nur darauf, dass Etienne es sich ansah.

Er nahm sich noch einen Moment und es schien ihr, als wollte er sie länger in ihrer Unruhe winden lassen. Dann sprach er und sie hörte wieder die Wut in seiner Stimme, „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen soll.“

Sie probierte es noch mal, „Dann lass es uns einfach vergessen und es für heute sein lassen.“

Diesmal erwiderte er ihr Lächeln nicht. Er sah sie einen Moment genervt an und sagte dann wütend, „Ich habe dir genau zwei Ratschläge gegeben. Und es hat nicht mal einen Morgen gebraucht, bis du gegen beide gehandelt hast. Obwohl du mir dein Wort gegeben hast.“

Es nervte sie, wie vorwurfsvoll und verraten er sich anhörte.

Sie lehnte sich zurück in ihren Sitz und wandte den Blick ab.

„Ich habe gesagt, ich gebe mein Bestes, nicht mein Wort“, dann zögerte sie und sah wieder zu ihm, „Was meinst du mit zwei?“

Sie bereute es direkt, als sie sein grimmiges Gesicht sah. Die Müdigkeit ließ ihn noch düsterer aussehen.

„Wieso musstest du dich mit der einzigen Lehrerin anlegen, welche es sich zur leidenschaftlichen Aufgabe machen wird, dich aus der Klasse zu werfen?“

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Für einen Moment verstand sie nicht, was er meinte. Dann erinnerte sie sich an das andere Gespräch mit ihm und all die Informationen, die er ihr über O’Donnel gegeben hatte.

„Wieso geht es jetzt darum?“, fragte sie verständnislos, „Wolltest du dich nicht über Halil beschweren? Was nebenbei nicht meine Schuld ist.“

„Keine Sorge, darüber reden wir gleich noch“, sagte er, „Aber dir sollte doch eigentlich bewusst sein, wie dumm das war. Und das aus mehreren Gründen. Wieso musstest du sie so unnötig provozieren?“

Etienne weigerte sich, bei dieser Frau auch nur einen Moment nachzugeben, „Dann soll sie nicht so mit mir sprechen.“

Er gab ein lachendes Schnauben von sich, „Und? Ist das der einzige Grund? Eine einzige gute Leistung hätte gereicht, damit sie nachsichtiger mit dir wäre. Aber du sprengst das komplett. Was hast du jetzt damit gewonnen?“

„Lass mich dich daran erinnern, dass der einzige Grund, weshalb ich überhaupt hier bin, der ist, dass du mich bestohlen hast“, verteidigte sie sich, „Mir ist es herzlichst egal, ob ich heruntergestuft werde oder nicht. Denn ich habe nicht vor, hier zu bleiben.“

Sie merkte, wie sein Kiefer sich anspannte, „Gut. Sagen wir, es ist egal, ob du dir O’Donnel zum Feind machst oder nicht. Aber ist dir klar, dass wenn sie dich herunterstufen lässt, du niemanden in der Klasse haben wirst, der Halil davon abhält, dir einen Besuch abzustatten? Der einzige Grund weshalb er gestern aufgetaucht ist, war der, dass jeder von den Provinzherrschern nicht anwesend war. Und nun hast du ihn dir nicht nur zum Feind gemacht, sondern auch dafür gesorgt, dass er sich bald leichter mit dir anlegen kann. Hast du so weit nachgedacht?“

„Zu dem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass ein Halil zum Problem werden würde“, verteidigte sie sich. Aber selbst nach dem Konflikt hatte sie diese Möglichkeit nicht betrachtet. Sie hatte nur daran gedacht, wie sie weiterhin den leichtesten Kontakt zu Elias und Meng schaffen konnte. Nichtsdestotrotz. Nur weil ihr diese Option entfallen war, hieß es nicht, dass es dazu kommen würde. Das Problem mit Halil würde bald gelöst werden.

Er seufzte schwer und rieb sich mit der Hand die Augen, „Ganz ehrlich. Du suchst dir den Ärger doch freiwillig aus. Was ist es? Ein tief verankertes Bedürfnis nach Lebensgefahr?“

„Das stimmt nicht“, sagte sie empört, „Außerdem habe ich bisher alles wunderbar lösen können.“

Er hob eine Braue und sah sie herausfordernd an, „Ah ja? Als ich dich im Château de la Fortune getroffen habe, hattest du nicht mal einen Fluchtplan. Und in der Villa der McClains wusstest du nicht mal, was auf dich dort wartet. Und nun das.“

„Ich bin in beiden Fällen perfekt klargekommen“, sagte sie stur und versuchte ihre Unruhe zu überdecken, versuchte, ihr Gesicht wieder in den Griff zu bekommen. Wieso fühlte sie sich so in der Defensive? So schlimm wie er es darstellte, war es nun auch nicht.

„Und das soll ich dir glauben?“

Sie grinste, „Du musst nicht. Aber du kannst. Immerhin bin ich noch am Leben. Und das mit Halil wird auch kein Problem darstellen.“

Sie sah ihm im Gesicht an, dass er wenig von ihren Worten hielt. Ihre Ausflüge waren vielleicht nicht perfekt organisiert, aber sie hatte bekommen, was sie wollte, und es gab keine Toten. Das war nach ihrer Definition eindeutig erfolgreich.

„Ausgerechnet mit Halil“, sagte er leise und fuhr dann in einer ruhigen Tonlage fort, „Du hast gesagt, es ist nicht deine Schuld. Erzähle mir, was passiert ist. Vielleicht kann ich etwas finden, um ihn dir vom Hals zu halten.“

Sie zögerte. Das hätte sie nicht sagen sollen. Er blickte wieder misstrauisch zu ihr und sie spürte, wie sie die Unruhe erneut packte, „War es deine Schuld oder nicht?“

„Er ist in Catjill gelaufen, der nur seine Aufgabe mir gegenüber erfüllt und mich beschützt hat“, sagte sie und hoffte, dass er das Thema fallen lassen würde.

„Wie ist er gegen ihn gelaufen?“

„Ich stand zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Ah, war es zufällig zwischen Halil und Anaki?“

„Unter Umständen“, bestätigte sie säuerlich, wandte den Blick ab. Er würde wieder wütend werden. Sie wollte das nicht, machte sich jedoch innerlich darauf bereit.

„Und wie bist du dahin gekommen?“, fragte er und sie hörte seiner Stimme an, dass diese Frage überflüssig war. Er wusste es und wollte nur noch bestätigt haben.

Seine Augenringe stachen heraus und seine Mundwinkel waren heruntergezogen. Er sah nicht aus, als wäre er wütend, eher resigniert.

„Hast du nicht deine zwei kleine Untergebene, die dir sowieso schon alles berichtet haben.“

„Ich lasse dich nicht überwachen“, sagte er empört, „Und das sind auch nicht meine Untergebenen, das sind meine Freunde.“

Sie zuckte mit den Schultern, „Du bist Herrscher, da hat man keine Freunde.“

Als er ihr nicht direkt etwas daraufhin erwiderte, bereute sie ihre Worte. Sie beobachtete, wie sein Gesichtsausdruck sich wandelte. Von Überraschung, zur Nachdenklichkeit, bis hin zu einem Verstehen, von dem sie sich sicher war, dass es auf Grundlage falscher Schlüsse zustande kam.

„Ist es das, was du übers Herrschen denkst? Denn ich kann dir versichern, dass es sicherlich nicht der Fall ist.“

Sie verdrehte die Augen, „Oh bitte. Interpretiere nicht zu viel in diese Aussage hinein. Mal abgesehen davon, woher sonst weißt du das alles, wenn dir nicht alles direkt erzählt wird?“

„Das mit Halil ging mittlerweile durch die ganze Schule. Dafür muss mir niemand was erzählen. Keyen hat mich aber vorgewarnt. Und Scarlett hat es sich nicht nehmen lassen, sich über O’Donnel auszulassen. Sie fand die Situation zu komisch.“

„Hört sich nach Überwachen an“, meinte Etienne trocken. Angriff war die beste Verteidigung. Vielleicht würde er ja ablassen.

Doch Raffael verdrehte nur die Augen, „Wenn du Sachen machst, die jeder mitbekommt, dann brauchst du dich nicht zu wundern, wenn das auch wirklich jeder mitbekommt.“

„Ich weiß ja nicht…“, meinte sie und stand auf, versuchte das Gespräch schnell zu beenden.