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Prolog: Tatinnes Vorhersehung

Wenn die erbrachten Opfer eines anderen Menschen, einen selbst schmerzen, sind es dann auch eigen erbrachte Opfer? Und wenn die erbrachten Leiden eine neue Welt schöpfen, ist man dann ein Leidtragender oder ein Schöpfer?

Tatinne, auch genannt die Spinne, die inoffizielle Herrscherin des neutralen Stadtteils von Calisteo, saß noch immer am Küchentisch ihrer Küche und wunderte sich aufs neue. Die dunkle Marmoroberfläche der Tischplatte spiegelte das Mondlicht und ihre Langeweile, ein Ausdruck, der in den letzten Jahren kaum von ihrem Gesicht wich. Sie nippte an ihrem Kaffee, ein Luxus, den sich nahezu niemand leisten konnte und den sie nicht mehr würdigte und das, obwohl sie die schokoladige Note einst geliebt hatte. Die Zeit nahm jegliche Freude.

Und die nächsten Generationen müssen die Freude noch früher abgeben.

Das laute Gelächter von Raffael Beltran drang von unten zu ihr durch. Ein Schauer ging ihr den Rücken hinunter und sie verzog das Gesicht bei diesem nervigen Geräusch. Und obwohl sie ihn unausstehlich fand, war sie leicht beeindruckt. Es war sonderbar gewesen, eines Morgens aufzuwachsen und festzustellen, dass die zweite der drei Provinzen der Stadt Calisteo in die Hände eines siebzehnjährigen Kindes gefallen war. Und dieses Kind hatte sich seit über einem Jahr bewährt und war nicht gestorben, als andere versucht haben, ihm seine Macht zu stehlen. Aber sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie dieses Kind verloren und eingeschüchtert an ihrer Türschwelle gestanden hatte.

Leidtragender oder Schöpfer? Oder Anstifter eines weiteren Kampfes?

Schnell stand sie auf. Sie wusste, dass die drei Provinzherrscher es niemals wagen würden, auf ihrem neuralem Gebiet einen Kampf anzufangen. Dennoch konnte es passieren, dass Gilgian McClaine, der Herrscher der dritten Provinz, sich zu einem verleiten lassen würde. Im Gegensatz zu Raffael, war er still und erträglich, aber leicht reizbar und keiner wollte das Ziel seiner Faust werden. Seine Stärke war unermesslich und sie fragte sich immer wieder, was genau in seiner Kindheit passiert war, dass er sich so entwickelt hat. War es eine angeborene Fähigkeit? Sind seine Knochen gebrochen und wieder zusammengewachsen, als sein Körper sich verändert hat? Das konnte nicht an seinen Genen liegen, seine Eltern waren etwas schmählich gewesen, genauso wie sein Onkel, welcher zuvor über die Provinz regiert hat.

Ein lauter Knall drang von unten zu ihr durch. Und damit entschloss sie sich, sich zu beeilen. Desto schneller sie mit den Bengeln fertig war, desto eher konnte sie sich wieder der Ordnung ihrer alten Sachen widmen... und sie davon abhalten, ihre Einrichtung zu zerstören.

Tatinne kippte den Kaffee ins Spülbecken. Dann sah sie noch einmal auf das Foto von ihr und ihrer Nichte, legte eine Hand auf ihr Herz und versuchte den schmerzenden Stich auszuatmen.

Leidtragender oder Schöpfer? Und wieso musste sie den Preis tragen?

Der hölzerne Bilderrahmen fühlte sich kalt auf ihren brennenden Fingern an. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie sich an der Tasse verbrannt hatte. Weder sie noch das kleine Mädchen lächelten in die Kamera. Sie sahen reich und mächtig aus und Tatinne presste die Lippen zusammen, als sie an ihre glorreiche Familie dachte. Mit einem Klacken lag der Bilderrahmen wieder am Tisch.

Sie trat die Treppen hinunter und öffnete die Tür zu ihrem dramatisch dekoriertem Empfangszimmer. Der Raum war eine Mischung aus roten Möbeln mit dunklem Ebenholz und vergoldeten Verzierungen. Es war kein echtes Gold, das war zu wertvoll, selbst für sie. Messing tat sein bestes.

Die Wände waren schwarz und doch sorgten die im Raum verteilten kleinen Lampen für angenehmes Licht. Es war wie eine Theaterbühne, ausgestattet mit allem, was nötig war, um die Besucher zu beeindrucken. Oder um sie einzuschüchtern, wie jedes einzelne dieser es Kinder war, als sie das erste Mal in Tatinnes Haus eingetreten sind. Einschüchterung war eine ihrer subtilsten Waffen.

Und da saßen sie, in größtmöglichen Abstand zueinander. Elias, Raffael und Gilgian. Die letzten Jahre mussten zu diesen witzlosen Momenten des Zufalls gehören, als dieses beschlossen hat, drei Kinder innerhalb kürzester Zeit an die Macht steigen zu lassen.

„Guten Abend, Tatinne“, sagte Elias, höflich wie eh und je.

Früher wäre sie sich sicher gewesen, dass Elias die anderen zwei jungen Herrscher ruhig halten können würde. Er selbst war kein Gebieter der ersten Provinz, er war ein Stellvertreter. Der Vernünftigste von ihnen. Er hatte für jeden ein Lächeln übrig, selbst wenn seine Mitmenschen es von ihm nicht sehen wollten. Wie lange dieses unter seiner Familie jedoch noch halten würde, war Tatinne sich nie zu müde zu fragen. Auch die robusteste Saite einer Gitarre würde brechen, wenn zu stark an ihr gezogen wurde und dieser Junge musste nah an seiner Grenze sein.

Gilgian sagte nichts. Er sah am Rande eines Nervenzusammenbruches aus.

Raffael pustete sich die braunen, schulterlangen Haare aus dem Gesicht und grinste sie frech an, „Na endlich. Wieso müssen wir immer ewig auf dich warten? Sag mir nicht, dass das am Alter liegt.“

Tatinne bedachte sie warnend, wunderte sich still, wer von ihnen für den Krach zuständig gewesen war. Dann setzte sie sich und zündete eine Pfeife an. Der rauchig-herbe Geruch des Tabaks und die leicht fruchtige Note der Zitrone, überlagerten den Geruch eines weiteren Stoffes, welchen Tatinne sich hinzumischte. Ihre Kopfschmerzen reduzierten sich zu einem dumpfen Pochen.

„Gut zuhören und nicht unterbrechen“, sagte sie und fragte sich, wie lange sie das schaffen würden, „Ich habe euch bei eurer jeweiligen Einführung in eure Rolle in dieser Stadt gesagt, dass die Herrschaft unter Umständen sehr begrenzt sein wird. Dies wird in den nächsten Tagen langsam in den Gang kommen. Wir fangen bei der Vorhersehung zum neuen Herrscher an.“

Raffael verdrehte die Augen, „Bitte wiederhole das nicht schon wieder alles. Wie wäre es mit ein paar neuen Informationen? Mit welchen ich etwas anfangen kann.“

Tatinne spürte, wie eine Ader aus ihrer Stirn heraustrat, zog noch einmal an ihrer Pfeife, um die Kopfschmerzen wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Verzogener Bengel.

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„Unterbrich mich nicht. Wir machen das Schritt für Schritt, damit keiner von euch mir vorwerfen kann, dass ich nachlässig war.“

Gilgian sprach, ohne auf sie zu achten, „Ich hoffe der Kerl tötet dich zuerst.“

„Ihr seid unhöflich“, sagte Elias.

„Halt die Klappe, Schleimer“, erwiderte Gilgian. Raffael lachte.

Tatinne seufzte und massierte sich die Stirn. Nie wagten sie es, so frech zu sein, außer, wenn Tatinne sie einbestellen musste. Sie hatten Regeln untereinander, an welche sie sich halten wollte. Doch nun, kurz vor dem Ende von allem, was sie kannte, entschloss sich etwas in ihr, diese nicht mehr einzuhalten. Wie ein Schalter legte sich etwas um, was ihr die Augen öffnete und die Welt noch grauer erscheinen ließ.

Sie knallte ihre Pfeife auf den Tisch, die Asche wirbelte auf und sie würde später wieder wischen müssen.

„Genug.“

Sie bleiben alle still und dennoch nahmen diese Bengel sie nicht ernst. Doch unter dieser Fassade musste es brodeln. Ein Machtwechsel war nie mit Frieden verbunden. Und die Vorhersehung sprach ganz klar davon, dass es bald nur noch einen Herrscher geben würde.

„Der Mann wird ab heute in drei Tagen im Château de la Fortune auftauchen. Das ist neu für euch, merkt euch das. Danach wird er hierherkommen.“

„Aus welchem Grund kommt er her?“, fragte Raffael und Tatinne zuckte mit den Schultern. Eigentlich hatte sie vorgehabt, das ordentlich zu machen, um so viel Chaos wie nur möglich zu vermeiden. Die Bewohner Calisteos hatten schon zu viel Unglück in den letzten Jahren erfahren dürfen und Tatinne wollte noch etwas Gutes tun, bevor sie abtreten würde. Aber der Schalter hatte sich umgelegt. Und sie wusste, dass es letztendlich gar nicht so wichtig war, was sie tat.

„Das werdet ihr selbst herausfinden müssen. Mit Ausnahme der Vorwarnung werdet ihr nichts mehr von mir bekommen. Vielleicht beantworte ich euch die eine oder andere Frage. Aber da werdet ihr wann anders kommen müssen. Am besten, nachdem ihr etwas mehr Respekt zu zeigen gelernt habt. Für heute will ich euch nicht mehr sehen.“

Elias stand auf und verschwand auf Anhieb. Immer dasselbe mit ihm. Tatinne hatte eine Vermutung, woran das lag. Die Zustände, unter denen er in seine Position gerutscht war, machten ihm zu schaffen.

Der Stoff ihres Kleides raschelte, als sie aufstand und zurück in die obere Etage ging. Aufgrund einer Abmachung mit den früheren Herrschern, stand ihr Haus immer offen für diese. Ob sie also drin blieben oder gingen, war ihr gleich. Das bedeutete aber nicht, dass Tatinne sie nicht hinauswerfen konnte, wenn sie es wollte. Und sie tat es häufig, vor allem bei Raffael, welcher es sich auch diesmal nicht nehmen ließ, in einem Versuch zu schnüffeln, ihr zu folgen, „Ich bin der Meinung, dass du etwas mehr erzählen könntest, als uns immer wieder nur mit derselben alten Leier zu langweilen.“

„Lerne mit dem zurechtzukommen, was dir gegeben wird“, erwiderte sie ihm.

„Ist das deine Verwandte?“, fragte er und ihre roten Locken wirbelten, als ihr Kopf zu dem Bild zuckte, welches er hochhob. Sie schloss die Augen. Vielleicht würde sie dem kommenden Herrscher einen Gefallen tun und diese Plage sofort beseitigen. Sie hatte das Bild erst vor wenigen Tagen beim Aufräumen ihrer Kisten entdeckt. Es war ganz schön alt.

„Halt dich aus meinen Familienangelegenheiten raus“, sagte sie und nahm es ihm weg. Er wehrte sich nicht und seine Augen wanderten weiter durch das Zimmer, auf der Suche nach neuen Dingen, die er in Erfahrung bringen konnte. Das tat er immer. Deswegen warf sie ihn auch immer raus.

„Wie wird er sein?“, fragte Raffael und sie bemerkte, wie diese nervige kleine Plage sich an ihren Küchentresen zurücklehnte und mit dem Finger gegen die Einrichtung tippte. Er konnte noch so sehr auf unbeschwert tun, aber in diesem jungen kleinen Bengel steckte einiges an Nervosität. Er nahm seine Arbeit als Provinzherrscher sehr ernst, auch wenn er aktuell weniger tat, als sein engster Berater, welcher lange vor ihm die Provinz verwaltet hat. Tatinne fragte sich noch immer, wieso er weiter Calisteos stolze Schule aufsuchte, anstatt sich von Eldan unterweisen zu lassen.

„Finde es selbst heraus“, sagte sie, „Du könntest das Château besuchen gehen.“

„Solltest du nicht etwas entgegenkommender sein? Die Vorhersehung trifft auch dich oder habe ich da was falsch verstanden?“

Tatinne zuckte mit den Schultern, „Wer auch immer die Provinzen regiert, mir kann das herzlichst egal sein. Im Gegenteil, wenn eine nervige kleine Plage wie du nicht mehr in meinem Hab und Gut herumschnüffeln würde, dann wäre ich sehr froh darüber.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust und grinste sie an, „Ganz schön nachlässig von jemandem, der so besitzergreifend von seinem Zuhause ist, welches sich auch schon bald nicht mehr in deinem Besitz befinden könnte. Vielleicht hast du ja mehr Angst, als du zugeben magst?“

Tatinne verdrehte beinahe die Augen bei diesem schwachen Versuch, sie aus der Reserve zu locken. Und dann bemerkte sie, dass sein Finger noch immer am Tippen war.

„Da ist jemand ganz schön nervös“, sagte sie und lehnte sich lächelnd über den Tisch, dessen Schultern sich angespannt hoben. Er war viel zu jung, um sich mit ihr anzulegen. Sie war schon über fünfzig, ihre Haut noch so rein und glatt, wie vor zwanzig Jahren. Und sie hatte sich in ihrem langen Leben mit deutlich Schlimmerem abgeben müssen, als mit einem zu neugierigen Kind, welches die Situation bei Weitem nicht so sehr im Griff hatte, wie es das gerne vorgab.

„Also“, meinte Tatinne, „Deine Frage war, wie er so sein sollte. Lass mich überlegen. Chaos wird ihm folgen, wo auch immer er hingeht. Die Menschen werden ihm egal sein, denn er kennt keinen von ihnen. Er hat nicht dieselbe Bindung zu der Stadt wie du, wieso sollte er sich also um sie kümmern, wie du es tust? Es wird egal sein, wie viele Menschen hinter dir stehen. Im Gegenteil, das könnte zum Problem werden. Denn er wird regieren. Und alle, die sich dagegen stellen, werden verlieren. Und du wirst viel Arbeit leisten müssen, wenn du die Kontrolle behalten willst. Nein, eher noch schlimmer. Du wirst gar keine Kontrolle haben. Aber viel Glück beim Versuch. Hoffentlich wird er nicht so grausam wie Nexim. Wäre wirklich schade, wenn du nach all deinen Opfern den Platz räumen musst, für jemanden, der genauso grausam war wie er.“

„Meinst du das ernst?“, fragte er und runzelte bei ihren Worten die Stirn. Er ließ sich nicht so leicht übers Ohr hauen, aber sie wusste, dass sie ihn dennoch verunsichern würde. Und allein dass sie Nexim angesprochen hatte, würde ausreichen, um ihn aus der Bahn zu werfen. Der ehemalige Herrscher der zweiten Provinz würde für immer in seinem Schatten sitzen und darauf lauern, ihn anzuspringen. Ob Raffael Albträume von ihm hatte? Von den Geschehnissen seiner Machtübernahme?

„Wer weiß. Ich hab das nicht in der Vorhersehung gesehen. Aber ich habe da so ein Gefühl. Und du weißt, wie das mit meinen Gefühlen ist. Sie könnten etwas bedeuten. Oder auch nicht.“

Zufrieden beobachtete sie, wie sein so zuversichtlicher Blick dem Ärger wisch. Er würde ihr nicht glauben, aber der Zweifel würde ihn in den Wahnsinn treiben.

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