Seine Hand fuhr durch die ungewöhnlich blonden Haare und Halil drehte sich dann schwer seufzend zur Seite. Es dauerte einen Moment, aber dann sah er sie. Blinzelte verwirrt, schien nicht so recht zu wissen, was er mit der Beobachtung anfangen sollte, als hätte er ein Kleinkind am höchsten Punkt eines hart zu erklimmenden Berges vorgefunden.
„Das sah sehr misslungen aus“, kommentierte sie seine Leistung nach einem kurzen Moment der Stille, in welchem sie ihre Anwesenheit auf ihn wirken lassen wollte. Dann betrachtete sie zufrieden, wie die Wut in seinen Augen erneut aufleuchtete. Genau das, was sie bewirken wollte. Wie wollte er ein guter Kämpfer werden, wenn er innerlich so unausgeglichen war?
„Mir wurde gesagt, dass du lebensmüde bist. Ich habe gestern angezweifelt, ob das stimmt. Aber ich schätze, die Einschätzung war gar nicht so falsch.“
Ihre Mundwinkel hoben sich nur gezwungen und sie erwiderte lachend: „Das kann nicht sein. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, womit ich diese Beschreibung meiner Person verdienen sollte.“
„Dir ist bewusst, dass nun, wo du hier bist, ich dich definitiv nicht einfach heraus spazieren lassen werde“, sagte er und Etienne beobachtete verschiedene Emotionen in seinem Gesicht, „Kein Durchgänger namens Scarlett, kein überforderter Möchtergernbeschützer namens Raffael, niemand hier, um sich einzumischen.“
Eine besonders abhebende Emotion war Vorfreude. Sie konnte sich gut vorstellen, wie diese zustande kam. Sicherlich konnte er es kaum erwarten, etwas Dampf abzulassen. Mittlerweile hatte Etienne auch mehr und mehr das Gefühl, dass es ihm weniger darum ging, sich mit ihr anzulegen, sondern sich einfach nur mit irgendwem anzulegen. Was ihr nicht das Gefühl gab, eine noch friedlichere Lösung zu finden, als die, welche sie bereits parat hatte,
„Weißt du, eigentlich habe ich meinem Bruder so etwas Ähnliches versprochen, wie keine brutalen Kämpfe zu führen. Gibt es irgendeinen Weg, das hier friedlicher zu lösen?“
„Nein.“
„In Ordnung.“ Mit einem tiefen Durchatmen und der mentalen Versicherung ihres unerschütterlichen Fundaments klopfte Etienne sich auf die Schenkel und stand unbeschwerlich auf. „Dann lass mich direkt mein Anliegen formulieren, wobei ich mir noch nicht ganz sicher bin, wie das hier in Calisteo abläuft. Ich will dich herausfordern, mit Einsatz.“
Tatinne hatte ihr die Regeln erklärt und Etienne hatte sich überlegt, wie sie vorgehen würde. Schritt für Schritt. Das Erste war, dass sie die Herausforderung aussprechen musste. Somit konnte sie den Preis festlegen, den er annehmen oder ablehnen konnte, vorausgesetzt, er würde sich darauf einlassen. Wenn er ihren Einsatz aber ablehnte, musste er einen Gegenpreis vorschlagen. Bis sie sich geeinigt hätten, dürfte kein Kampf stattfinden. Etienne war sehr in Versuchung gewesen, es auf ein ewiges Hin und Her ankommen zu lassen. Aber sie würde ihn lieber schnell loswerden wollen, anstatt ihn für die Dauer ihres Aufenthalts in Calisteo um sich herumschwirren zu lassen. Auch wenn seine uneingeschränkte Direktheit im Gegensatz zu den anderen Menschen sich wie eine frische Brise anfühlte.
„Hätte nicht gedacht, dass das von dir kommen würde, nicht, nachdem du dich wie ein kleiner Angsthase hinter Raffael versteckt hast“, sagte Halil mit einem breiten Grinsen im Gesicht, das ihn regelrecht strahlen ließ, „Hast du ihm vorgeheult, wie böse und gemein ich bin?“
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Etienne zuckte mit den Schultern und spürte den Schmerz durchzucken. Vorsichtig hob sie die Hand und massierte leicht die Stelle, damit sich die Muskeln lockern würden.
„Nein, ich weine eigentlich nicht. Es gibt so manche Einschätzungen zu mir, die komplett falsch sind. Eigentlich bin ich ein Opfer von Missverständnissen.“
„Oh, da bekomme ich beinahe schon Mitleid mit unserem kleinen neuen Zuwachs hier“, sagte er langgezogen, vom Mitleid konnte sie aber nichts erkennen, „Sorgt beinahe dafür, dass ich bereit wäre, dir dein Einmischen zu verzeihen. Zu schade, dass ich der fürchterlichste Mensch bin, dem du hier hättest begegnen können.“
„Das ist in Ordnung“, sagte Etienne, „Ich kann dir gerne den ersten Schritt zur Besserung weisen.“
Halil lachte unbeschwert, legte kurz den Kopf schief und dachte nach und sprach schließlich in einer feierlichen Stimme weiter: „Etienne. Etienne…“, er runzelte kurz verwirrt die Stirn und sagte dann, „Aus der Klasse A-3. Nervigste Neue, die ich je gesehen habe. Was kämpfen wir, wie sind die Siegesbedingungen und was willst du haben?“
Ihr Herz pochte etwas bei seiner Ansprache. Zu ihrer Überraschung hatte er ihr aber alle Dinge genannt, die Tatinne ihr ebenfalls genannt hatte. Das überraschte sie, denn es schien nicht, als würde er ihr Halbwissen ausnutzen wollen, um ihr im Kampf gegenüber einen Vorteil zu gewinnen. Dies konnte natürlich daran liegen, dass er sie als eine sehr geringe Gefahr einschätzte. Das verwunderte sie nicht, denn es gab keine Möglichkeit für ihn zu wissen, dass sie gegen einen Crawling im Haus der McClains gekämpft hatte oder gegen Wächter im Château de la Fortune. Auf der anderen Seite musste sie aber auch daran denken, wie er Anaki mit Vorwarnung geradeaus von vorne angegriffen hatte. Vielleicht war er ja sehr direkt? Vielleicht war er sogar etwas ehrenhaft und fair, wenn es um einen Wettkampf ging? Sie hatte aber in der kurzen Zeit keine Möglichkeit gehabt, das zu überprüfen.
„Ich kann kein Karate. Also wäre ich dankbar, wenn von mir nicht abverlangt werden würde, nach dieser Kampfkunst zu kämpfen.“
Er nickte grinsend, „Gut. Nutze, was auch immer du nutzen kannst. Ich versuche nicht zu hart mit dir umzugehen.“
Sie lächelte zufrieden, „Die Siegesbedingungen werden sein, dass wer zuerst aufgibt, der verliert.“
„Nein“, sagte er direkt, „Ich will einen Kampf und nicht ein direktes Aufgeben in den ersten Sekunden.“
„Oh“, meinte sie in gespielter Verwunderung, „Mir war nicht bewusst, dass ihr in Calisteo das so macht. Oder ist es deine Art, mit Herausforderungen umzugehen?“
Sein Grinsen wurde etwas kleiner, verschwand aber nicht gänzlich, während er seine Aussage etwas präzisierte, „Ich will nicht, dass du direkt aufgibst.“
„Ah“, sagte sie strahlend, „Dann lass es mich folgendermaßen umformulieren. Der Kampf hat eine Mindestdauer von fünf Minuten. Danach kann aufgegeben werden, wenn eindeutig ist, dass er für eine Person nicht zu gewinnen ist.“
Nachdenklich kaute Halil auf seiner Unterlippe. Seine Augen huschten nach oben, hin und her, als würde er einem Bild folgen, welches sie nicht sah. Aber es gab keinen Grund für ihn, es nicht anzunehmen. Er könnte diese Bedingung großzügig auslegen und ihr das Aufgeben verweigern und ihre Siegeschancen immer wieder durch bestimmte Handlungen neu auslegen. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass für sie der Kampf aussichtslos wäre, wenn er ab und zu etwas nachgiebiger wäre.
„Einverstanden. Kneife nicht zu schnell, nach den fünf Minuten. Weiter“, sprach er dann plötzlich. Das war etwas, was ihr schon mal aufgefallen war und was sie noch nicht gänzlich einordnen konnte. Dieses plötzliche Handeln, scheinbar aus dem Nichts.
„Der Preis. Eigentlich gibt es nicht wirklich viel, was ich will, außer, dass mein Aufenthalt hier nicht mit zu viel Ärger verbunden ist. Da scheinbar Anaki derjenige ist, der den Ärger mit dir anzieht, gibt es folgende Sachen, die ich will: Du wirst weder mit ihm noch mit mir einen weiteren Kampf anfangen. Du wirst auch niemanden zu uns schicken, um einen Kampf mit uns anzufangen, und du wirst keine Geschichten erfinden, sodass du indirekt der Grund bist, weshalb jemand einen Kampf mit uns anfängt. Du wirst dich mit ihm vertragen. Oh und du und ich werden den Morgen heute unter uns behalten. Du wirst das an niemanden weitererzählen.“
Er schnaubte mehrmals bei ihrer Aufzählung und verzog dann das Gesicht zu einer genervten Grimasse. Doch bei ihren letzten Worten, brach er in Gelächter aus. „Hast du Angst, einen schlechten Ruf in der Schule zu bekommen? Keine Sorge, die Meisten werden dich bemitleiden.“
„Nimmst du an?“
Das Lächeln verschwand wieder, das Gesicht nahm einen unheimlich ausdruckslosen Ausdruck an. Es war ungewohnt, denn bisher hatte Halil keinen Versuch unternommen, seine Gefühle nicht ganz transparent nach Außen zu tragen. Er war in dieser Hinsicht wie Scarlett. Direkt und unkompliziert. Während er nun über ihre Worte nachdachte, schien er jedoch auf einen Schlag wie ausgewechselt. Das verunsicherte etwas, denn zusätzlich dazu hätte sie gedacht, dass er sie sowieso nicht ernst genug nehmen würde, um den Einsatz überhaupt zu hinterfragen. Kurz hatte sie Sorge, dass sie mit ihm darüber diskutieren müsste und die wertvolle Zeit voranschreiten würde. Doch zu ihrer Erleichterung nickte er.
„Sehr schön. Ja“, er bedachte sie mit einem abschätzenden Blick, lächelte dann und überraschte sie erneut, „Los geht’s.“