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Kontrahenten: Gerüchte

Raffael packte ihre Hand und sah sie eindringlich an. Seine Haut fühlte sich heiß auf ihrer an, dass sie beinahe zusammenzuckte. Sie gab sich Mühe, nicht eingeschüchtert zu sein. Es funktionierte nicht wirklich und sie wusste nicht, woran das lag. Vielleicht an dieser dunklen Ecke.

„Lass uns fertig reden, bitte“, sagte er ruhig und ließ sie los, als sie sich nach kurzem Zögern wieder setzte. Etienne vermied es, sich nervös die Hände zu reiben. Seine Wärme war noch immer zu spüren. Sie verschränkte die Arme wieder vor der Brust, sah ihn diesmal aber auffordernd an. Was auch immer noch kommen sollte, sie würde das einfach anhören und sich vorerst fügen. So hatte sie das früher immer gemacht und die Situation ging am schnellsten vorbei, wenn sie sich nicht wehrte.

Nach einem Moment des Schweigens wandte er den Blick ab und seufzte wieder. Sie hörte das Klingeln der schweren Glocke. Er machte keine Anstalt aufzustehen und sie vermutete, dass das mit Cruz stimmen musste. Was bedeutete, dass wenn sie ihn nicht bald loswerden würde, sie ihn für die nächsten Stunden am Hals hätte.

Als er wieder zu ihr sah, war keine Wut mehr in seinem Gesicht zu sehen. Er rieb sich erneut über das Gesicht, es scheint, als versuchte er, die Müdigkeit loszuwerden. Dann sah er ihr direkt in die Augen, „Unabhängig von dem, was wir untereinander ausgemacht haben. Danke, dass du Anaki geholfen hast. Ich hätte wissen müssen, dass das passiert und mir vorher etwas überlegen sollen. Die Situation ist teilweise meine Schuld. Und dafür entschuldige ich mich.“

Ungläubigkeit bereitete sich in ihr aus und dann folgte dieser der Ärger, „Was genau willst du eigentlich? Du bist sauer, weil ich mich eingemischt habe und bedankst dich dann dafür. Was soll ich damit anfangen?“

Ein müdes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus und er legte dann seinen Kopf in die Arme, „Aktuell will ich nur etwas schlafen. Was bis heute Abend wohl nicht passieren wird. Was dich angeht: Wie hast du vor, mit Halil umzugehen?“

Sie blickte seine braunen Haare an. Erst vor einigen Minuten hatte er herausgefunden, wo sie war und sich beinahe an sie angeschlichen. Und im nächsten Moment zeigte er eine solch wehrlose Seite und es war, als wäre der Ärger vergessen. Sie wusste nicht, was sie mit dieser Dynamik umgehen sollte. Wichtiger wäre jedoch herauszufinden, ob er ihr die ganze Situation später noch vorhalten würde.

„Ich bekomme das schon hin“, sagte sie.

„Hoffentlich nicht wieder überstürzt.“

„Was meinst du, wieso ich hier im Dunkeln sitze.“

Er sah hoch und grinste sie an, „Lebenskrise.“

„Definitiv nicht davon“, sagte sie schnaubend und wechselte dann das Thema, „Du redest wirres Zeug. Vielleicht solltest du nach Hause gehen.“

„Nein“, sagte er sofort und legte den Kopf wieder in die Arme, „Zuerst finden wir eine Lösung auf das Problem. Und bis dahin schauen wir, dass Halil dir fernbleibt.“

Sie lachte zum ersten Mal an diesem Morgen, „Hast du dich mal angesehen? Was willst du heute leisten können?“

„Meine Anwesenheit wird schon reichen“, sagte er, „Auch wenn Halil das vielleicht anfechten wird. Bleib einfach den Tag über in meiner Nähe und er wird ruhig verlaufen. Du hast sowieso Aufgaben für den Unterricht zu erledigen. Ich werde dich nicht stören.“

Sie seufzte und legte den Kopf in den Nacken, „Nur so lange kein Unterricht stattfindet. In der Klasse lässt du mich in Ruhe.“

Er lachte, „Einverstanden. Und bis wir in der Klasse sind, bleibst du an meiner Seite.“

Sie stimmte seufzend zu.

Noch immer drang das Geräusch von Schritten aus dem Treppenhaus zu ihr herüber. Mittlerweile sollten aber alle in den Klassen sein, somit schloss Etienne, dass es Mitarbeiter der Schule sein mussten. Oder weitere Schüler, die den Unterricht nicht besuchten. Sie blickte zu der Halle und sah wieder den Mann, welcher dabei war, seine Sachen zu packen. Vielleicht hatte er mitbekommen, dass sie hier waren. Das Gespräch war sicherlich nicht zu überhören gewesen. Sie sah wieder zu Raffael, der sich kaum rührte. Etienne beobachtete ihn einen Moment, merkte, wie sich seine Schultern leicht hoben und sanken.

Dann stand sie leise auf und nahm ihre Tasche. Sicherlich würde er es ihr verzeihen, wenn sie sich jetzt wieder um ihr kleines Problem kümmern würde. Und er war so müde. Bestimmt war es besser, wenn sie ihn in Ruhe ließ. Dann zögerte sie. Er würde wütend werden, wenn sie sich schon wieder nicht an ihr Wort hielt. Doch dann zwang sie sich dazu, sich wieder zusammenzureißen. Sie vertraute ihm nicht. Und sie war ihm nichts schuldig. Erst recht keine Aufrichtigkeit, immerhin hatte er sie bestohlen. Also würde sie jetzt gehen und sich später überlegen, wie sie sich bei ihm entschuldigen würde. Und wenn sie das Problem lösen würde, bevor sie wieder auf Raffael traf, dann würde er sicherlich nicht so sauer werden. Vielleicht würde sie stattdessen etwas Anerkennung bekommen?

Sie drehte sich herum und war bereit zu gehen und musste dann schon wieder innehalten. Seine Worte über die Angriffe auf Provinzherrscher geisterten in ihrem Kopf. Wenn sie ihn hier schlafend allein lassen würde, dann gab es keine Garantie dafür, dass er aufwacht, sollte er schlafend und allein entdeckt werden. Sie fühlte sich zwiegespalten und während sie versuchte herauszufinden, was sie tun sollte, passierten mehrere Sachen auf einmal. Zunächst hörte sie einen lauten Knall von Holz aus der Halle heraus, gefolgt von einem Fluch, der durch den ganzen Raum hallte. Zu gleichem Moment, als sie zusammenzuckte, merkte sie auch, wie Raffael den Kopf ruckartig hochhob und erschrocken zu ihr blickte. Sofort packte er sie erneut an der Hand und blinzelte sie verschlafen an. Etienne warf dem Mann, welcher seinen Besen fluchend aufhob, einen bösen Blick zu. Dann schielte sie zu Raffael, welcher immer noch nicht die Situation erfasst hatte.

„Ich musste mir nur kurz die Beine vertreten.“

Er blinzelte ein paar Mal, sah sie weiterhin verständnislos an.

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Die Tür wurde aufgerissen und sie blickten beide zu den zwei Menschen, welche hineintreten wollten. Auch diese entdeckten sie direkt und eine von ihnen schnappte nach Luft und zog den anderen wieder hinaus. Die Tür fiel wieder zu und Etienne vernahm von der anderen Seite die aufgeregte Stimme, welche sich geschwind wieder entfernte. Sie hatte jedoch noch mithören können, wie das junge Mädchen etwas von Raffael und seinem neuen Skandal erzählte. Langsam sah sie wieder zu ihm. So viel zum Thema, in seiner Nähe zu bleiben.

Raffael starrte noch immer zur Tür. Er schien etwas langsam das Geschehene zu verarbeiten und Etienne konnte beobachten, wie ihm von dem einen Moment auf den anderen klar wurde. Er sprang auf und machte Anstalt, ihnen zu folgen, was Etienne nicht gutheißen konnte.

„Stopp“, rief sie aus und diesmal packte sie ihre Hand fester, bevor er sie loslassen konnte, „Was hast du vor?“

Er sah zu ihr und versuchte sich loszumachen, „Ich kann sie noch einholen, bevor sie zu Bianca oder Dia geht und sie anfangen, Gerüchte zu streuen und uns zu belästigen. Ich brauche nur einen Moment.“

„Auf gar keinen Fall“, sagte Etienne, „Wenn du sie jetzt versuchst aufzuhalten, wird es sie nur in dem bestätigen, was sie sich ausmalt. Und dann wird das nur schlimmer.“

Etienne hatte es schon mal mitbekommen, wie Gerüchte dazu genutzt wurden, um gezielt einzelne Personen unter Druck zu setzen. Je ungeschickter sie sich wehrten, desto schlimmer wurden sie gegen sie genutzt. Und bei solch einem Fall wäre es einfacher zu zeigen, dass sie falsch lagen und sich der Tratsch von allein als unwahr herausstellte. Sie würden sowieso schnell gelangweilt werden, wenn es keine Reaktion gäbe. Ansonsten könnte sie Raffael in der Öffentlichkeit auch schlagen, das würde auch die Gerüchte zum Schweigen bringen. Und obwohl sie diese Idee normalerweise gutheißen würde, mochte sie es diesmal jedoch nicht.

Raffael sah sie prüfend an. Dann ging sein Blick wieder zu der Tür und sie konnte sehen, wie unentschlossen er war.

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Bist du sicher, dass du das so willst?“, fragte er dann nach und etwas an seiner Stimme schien sie anzuflehen, ihn loszulassen, „Denn sie sind nicht sehr zimperlich, wenn sie erst loslegen.“

Sein Griff wurde so fest, dass es wehtat, und die Sorge war ihm ins Gesicht geschrieben.

Sie setzte sich wieder hin und zog ihre Hand zurück, „Ja. Alles andere würde es nur zu dramatisch machen.“

Er seufzte schwer, schwerer als sonst und legte sich nach einem letzten kurzen Zögern in die Sitze, „Das wird anstrengend.“

Etienne konnte sich nicht vorstellen, dass es so schlimm werden würde. Aber er hingegen schien überhaupt nicht glücklich zu sein.

„Für dich oder für mich?“, fragte sie.

Er schwieg einen Moment und dann hörte sie noch ein Seufzen, „Das hängt davon ab, wie du mit Gerüchten klarkommst.“

„Sie werden keinen Einfluss auf mein Leben haben. Stören sie dich?“

„Meistens nicht“, sagte er säuerlich. Etwas an der Art, wie er ihr die Fragen beantwortete, ließ sie aufhorchen. Es war, als läge dort keine richtige Antwort drin. Aber sie hörte keine Lüge heraus. Irgendwas schien ihm zu schaffen zu machen, aber die Gerüchte waren es nicht.

„Wer war das?“, fragte sie.

„Das war Mallory. Sie ist erst in der Neunten, du solltest sie also eigentlich kaum sehen, außer sie ist mit Bianca unterwegs. Was sehr häufig passiert. Sie verehrt sie regelrecht.“

Seine Stimme hörte sich ernüchternd an. Und auf einmal kam ihr der Gedanke, dass die Situation vielleicht für ihn belastender war, weil es sich um Menschen handelte, die er kannte? Sie wusste nichts über seine Dynamik mit den anderen Schülern außerhalb ihrer Klasse. Aber er war sehr zugänglich und ging auch auf andere zu. Wahrscheinlich kannte er viele. Tatinne hatte ihr erzählt, dass er sehr beliebt in seiner Provinz war. Sie hatte ihr auch erzählt, dass viele Geschichten über ihn mit anderen Frauen herumgingen und er sie teilweise mit Absicht zu beflügeln schien, bis das vor einigen Monaten schlagartig etwas ruhiger wurde. Doch seine Reaktion machte es ihr schwer, das zu glauben. Für jemanden, der sich in dem Image des geliebten Provinzherrschers zu sonnen schien, war das nicht das, was sie erwartet hätte. Eher, dass er einen schlechten Witz reißen und die Annahme der jungen Frau umso eher bestätigen würde, nur um Etienne zu ärgern.

Sie lehnte sich über die Rückenlehne in die untere Reihe und sah zu ihm. Er starrte die Decke an und schien in Gedanken zu sein.

„Hey“, sagte sie und seine Augen wanderten zu ihr. Sie wollte ihn fragen, was genau ihm zu schaffen machte. Dann huschte ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es sie eigentlich nichts anging, „Egal.“

„Was ist?“, fragte er nach.

„Geht weiter schlafen“, sagte sie und lehnte sich zurück in ihren Sitz.

„Jetzt, wo du das ansprichst“, sagte er langsam, „Du hast vorhin versucht, mich hier sitzen zu lassen, nicht?“

„Ich weiß nicht, was du meinst und ich muss jetzt wichtige Sachen machen“, sagte sie und holte das Buch heraus, das Warlen ihr empfohlen hatte. Ihr wäre es lieber, er würde das glauben, als dass er herausfinden würde, dass sie kurz davor war, doch zu bleiben und aufzupassen. Normalerweise würde sie sich nur für Schwächere einsetzen und ein Provinzherrscher war es nicht. Aber die Art, wie harmlos er beim Schlafen schien, zerbrach das Bild.

Er lachte und richtete sich wieder auf, bedachte, was sie tat und fragte, „Soll ich dir dabei helfen?“

Warlen hatte Etienne am Vortag aufgefunden, bevor die Schule geendet hatte und ihr eine Projektaufgabe und zwei Bücher gegeben. Dies würde ihr die besten Chancen geben, eine gute Note zu bekommen und auch wenn Etienne diese nicht brauchte, ihr Ehrgeiz war geweckt und sie wollte die bestmögliche Leistung erbringen. Und es gab ihr eine gute Ablenkung, sich nicht weiter mit ihren Gedanken zu beschäftigen.

„Nein“, sagte sie setzte sich gemütlicher hin, „Ich bekomme das schon hin.“