Etienne bedachte wieder die verschiedenen Orte. Schnell entschied sie sich für einen, welcher in der Nähe am Stadtzentrum war. Es war eine Art kleiner Dom, welcher zu diesen Zeiten wahrscheinlich geschlossen war. Es war aber unwahrscheinlich, dass es ein Gebäude der neuen Religion war. Gut für sie, denn dann müsste sie sich nicht rechtfertigen, wieso sich eine Exorzistin nicht gemeldet hatte. Kein Mitglied der Ekklea würde unangenehme Fragen stellen können, wenn sie sich nicht in der Stadt befanden, in welcher Etienne sich befand. Ein guter Ort, um sich mit ihrem Djinn in Ruhe dort hineinzuschleichen und einige Stunden auf dem Turm zu verbringen. Das sollte doch reichen, um ihn zufriedenzustellen?
„Du solltest nicht zu lange machen“, sagte Raffael, während sie sich langsam dem Torbogen näherten, welcher den Eingang der Provinz markierte, „Morgen wird O’Donnel sicherlich einen Test machen. Ich hoffe, du bist fit genug dafür.“
„Woher weißt du das?“, fragte Etienne und klappte die Karte wieder zusammen. Auf einmal vernahm sie hinter sich mehrere leise Schritte. Ein Blick zu den Fenstern, welche in der Dunkelheit die Straße spiegelten, ließ sie drei Gestalten ausmachen.
„Sie tut es immer, wenn jemand Neues in die Klasse kommt. Es ist zwar schon etwas her, seit wir das letzte Mal jemand neuen hatten, aber bisher war das Muster bei ihr immer zu beobachten. Ich glaube nicht, dass es diesmal anders sein wird.“
„Dann sollte ich morgen vielleicht einfach zu Hause bleiben“, meinte sie seufzend und wandte sich wieder der Karte zu. Er hatte ihr sogar markiert, welche Geschäfte um diese Uhrzeit noch offen waren.
„Dann wird sie es einfach verschieben. Sie wird es sich nicht nehmen lassen, dich auf deine Fähigkeiten zu prüfen. Wahrscheinlich hatte sie das heute schon vor. Nun, da du nicht da warst, bekommst du morgen was zu hören.“
„Sie scheint eine sehr strenge Frau zu sein“, meinte Etienne mürrisch. Bei all den Dingen, die sie zu tun hatte, war es, sich mit einer Lehrerin zu streiten, sicherlich nicht das, wofür sie Zeit und Energie verschwenden wollte. Wieso hat Tatinne sie nur in diese Schule gesteckt?
„Man gewöhnt sich dran. Wenn du gute Noten schreibst, kannst du dir bei ihr einiges leisten. Wenn nicht, dann solltest du dich darauf gefasst machen, dass sie dich runtersteigen lassen wird.“
Etienne seufzte und überlegte sich, ob es nicht wert wäre, genau das machen zu lassen. Aber sie hatte ihre nächsten Ziele schon vor Augen und das war die Gruppe von Elias, welche in ihrer Klasse saß. Es wäre gerade jetzt eine schlechte Idee, sich von ihnen zu entfernen. Im Gegenteil, sollte sie nach einer Möglichkeit suchen, mit ihnen in Kontakt zu treten.
„Was muss ich alles bestehen, damit sie mich in Ruhe lässt?“, fragte sie Raffael.
„An sich reichen die Hauptprüfungen“, sagte er, „Dir würde ich aber empfehlen, auch bei ihren Prüfungsleistungen gut abzuschneiden. Sie lässt nur die Provinzherrscher vom Haken, bei dir wird sie das nicht tun.“
„Ah ich sehe schon. Provinzherrscher müsste man sein, um mit allem durchzukommen“, sagte sie leicht lachend.
„Nicht wahr?“, stimmte er ihr zu und sie begegnete seinem wachsamen Blick, „Vielleicht kommst du auch mal auf den Genuss. Die Zeiten ändern sich schnell.“
Sie schnaubte belustigt, „Oh, wenn ich eine Wahl habe, dann würde ich solch einen Job nicht einmal mit Handschuhen anfassen.“
„Manchmal hat man nicht wirklich eine Wahl. In solchen Momenten ist besser, bestmöglich vorbereitet anzutreten.“
„Natürlich hat man eine Wahl“, erwiderte Etienne, „man kann sich einfach umdrehen und weggehen.“
„Das würde nur zur Folge haben, dass irgendein Abschaum an die Macht gelangt.“
„Das wäre nicht mein Problem“, sagte sie trocken, „Das Leben hat genug Herausforderungen anzubieten, wieso sollte ich freiwillig solch eine annehmen?“
„Um die Menschen zu schützen, die nichts für das Ganze können“, erwiderte er, beinahe schon aufgebracht, „Es sind immer die Schwachen, die bei solchen Machtkämpfen zu Schaden kommen.“
„Ist das Grund genug für dich? Es für die Menschen zu machen?“
Dass die Schwachen geschützt gehören, darin stimmte sie ihm zu. Sie selbst war sich ihrer Stärke bewusst. Aber sie war sich auch dessen bewusst, dass sie ihre Kräfte gut einteilen musste, um denen zu helfen, denen sie helfen musste. Calisteo und ihre Bewohner gehörten nicht dazu.
Raffael antwortete ihr nicht direkt. Schwieg einen Moment. Dann nickte er.
Etienne zuckte mit den Schultern, „Dann schätze ich mal, dass du diese Stadt wirklich magst.“
Ein erneuter Blick in die Fenster eines Schuhladens sagte ihr, dass die Gestalten noch immer hinter ihnen waren, aber im guten Abstand. Und weiter hinten entdeckte sie noch eine Gestalt. Die Schemen des Schattens. Er diesmal etwas weiter weg als sonst. Im Haus hatte sie ihn nicht gesehen, was sie im Nachhinein verwunderte. War der Abstand nicht erreicht gewesen? Etienne verstand noch nicht so ganz, nach welchen Regeln er agierte.
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„Ich liebe sie“, sagte Raffael ernst, diesmal mit dem Fehlen jeglicher Belustigung.
Etienne lächelte ihm entgegen, „Wie schön das dann für die Menschen sein muss, dich dazuhaben. Belassen wir es doch dabei, dass es so bleibt. Viel Erfolg weiterhin.“
Schweigen. Zu Hören gab es auch nichts mehr. Es war sehr wahrscheinlich der Fall, dass Raffael bald kein Provinzherrscher mehr sein würde. Und Etienne konnte sich verschiedene Szenarien ausmalen, in denen er die Macht verlor. Keines davon war sonderlich friedlich. Das müsste er wahrscheinlich auch gedacht haben, als Tatinne ihm von der Vorhersehung berichtet hatte. Gut für Etienne, dass sie wusste, dass es sich nicht um sie handeln würde. Selbst wenn ihr die Macht auf einem Silbertablett präsentiert werden würde, sie würde nicht danach greifen. Denn im Gegensatz zu Raffael, hatte sie dieser Stadt nicht mehr entgegenzubringen, als Desinteresse und maximal die Anerkennung, dass der neutrale Stadtteil ganz hübsch aussah.
„In zwei Tagen“, sagte er dann leise und sie wurde etwas nervös, als sie seinem intensiven Blick begegnete, „werden wir uns darüber etwas deutlicher unterhalten. Aber ich kann dir versichern, dass wenn ich die Macht über meine Provinz verliere, das zu meinen Bedingungen passieren wird.“
Sie seufzte. Etienne hat nicht beabsichtigt, ihn wütend zu machen. Aber sie konnte sehen, dass sie ihre Worte mit mehr Bedacht hätte wählen können.
„Ich sehe nicht, was es da viel zu bereden gibt. Ich würde definitiv nicht deinen Job übernehmen wollen. Oder deren“, sie deutet auf Gilgian und Meta, „Schieb das an jemand anderen ab.“
Raffael lachte leicht, doch sein Ausdruck hatte noch immer etwas Verärgertes, „Es gibt sehr viele Menschen hier, die genau das wollen. Siehst du die Gruppe da hinter uns“, fragte er und deutete an die Glasfenster zu ihrer Linken.
„Ja“, sagte Etienne, „Ich will wetten, die werden es auf dich abgesehen haben.“
Immerhin musste er sich keine Sorgen um den Schatten machen. Dieser war ihretwegen da.
„Unter normalen Umständen, würden sie sich das nicht einfach so trauen. Aber um diese Uhrzeit, eine Person, die einem Provinzherrscher sehr ähnlich sieht, allein in der Stadt… Keine Chance, dass nicht irgendjemand aus seinem Loch gekrochen kommt und sein Glück versucht.“
„Dann solltest du dich auf den Heimweg machen“, sagte sie. Er holte ein Handy hervor und Etienne blinzelte überrascht, „Das hast du?“
Er sah kurz lächelnd zu ihr, während er es anschaltete und etwas eintippte, „Du weiß, was das ist?“
„Gibt es Menschen, die das nicht wissen?“, fragte sie ausweichend und verfluchte sich für ihr zu schnelles Mundwerk.
Diese Menschen gab es nicht, aber die Meisten wussten nicht, wie eins aussah. Die Prioritäten lagen einfach auf anderen Gegenständen und es war nicht so, als könnte man viele produzieren lassen. Und so, wie sie sich hier auf die Produktion von Elektrizität und anderen elektrischen Geräten fokussierten, wunderte es sie nicht, dass Handys, welche noch immer durch andere Mittel ersetzt werden konnten, eher weniger produziert waren. Wenn eine Sphäre für Kommunikation in der Stadt angebracht war, dann gab es sicherlich auch Sphären, welche in den Häusern ihren festen Platz gefunden hatten. Ein Handy war eher ein Luxusgut, bereitgestellt für die Wohlhabenden, welche die alte Zeit simulierten. Etienne fragte sich, ob dieses auch eine Kamera beinhaltete, oder ob Bilder und Videos auf diesem abgespielt werden konnten oder ob es nur zum Telefonieren diente. War es auch mit der Sphäre verbunden, als eine Mischung aus Technik und Magie? Offensichtlich, denn es wäre ihr neu, dass Calisteo es irgendwie geschafft haben sollte, einen Satelliten zu bauen und diesen in den Orbit aufsteigen zu lassen. Daran scheiterten selbst die Cerreaner und Vheruna war bisher auch nicht sehr erfolgreich darin gewesen.
Raffael sah noch mal zu ihr, diesmal wieder mit diesem vorsichtig beobachtendem Blick, als wäre sie zu analysieren, bevor er angreifen würde. Er würde seine Schlüsse aus ihrer Antwort ziehen. Noch immer funkelte leise Wut in seinen braunen Augen.
„Viel Erfolg heute Nacht. Ich hoffe ihr habt einen guten Ausblick. Ich wäre wirklich gerne mitgekommen, aber ich hoffe du kannst es mir verzeihen, dass ich nicht dabei sein kann“, sagte er mit guter Laune und sie blinzelte verwirrt.
„Ich hab dich nicht eingeladen“, erwiderte sie.
Raffael zwinkerte ihr wieder auf seine übliche Art mit beiden Augen zu und ignorierte ihren Einwand, „Ich werde mich für diese Vernachlässigung meinerseits revanchieren. Du kannst dich auf das Treffen in zwei Tagen freuen.“
Etienne konnte den Ärger noch immer in seiner Stimme hören. Nun, da sie ihn einmal gehört hatte, wusste sie, worauf zu achten war. Und nun wunderte sie sich, ob er das mit Absicht tat. Wollte er sie auch verärgern? Es nervte sie, dass es ihm gelang.
„Wir holen nur meine Jacke.“
„Natürlich“, stimmte er ihr lächelnd zu und sie glaubte ihm keinen Moment.
Er hielt sie an, indem er ihren Ellenbogen packte, „Eine Sache noch. Die Anderen haben mir erzählt, was in der Halle mit Meta passiert ist. War mein Fehler, dass ich nicht aufmerksamer war. Und so sehr ich es missbillige, was sie machen, will ich dir dennoch raten dich nicht in die Angelegenheiten zwischen Provinzmitgliedern einzumischen. Erst recht nicht, wenn du keine Ahnung über mögliche Regeln hast. Wenn du dir unsicher bist, sag es mir und ich werde mich darum kümmern.“
Etienne schnaubte, „Natürlich. Wenn ich sehe, dass jemand in der Ecke zusammengeschlagen wird, werde ich erst nach dir suchen.“
Er sah sie herausfordernd an, „Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass, selbst wenn du dich einmischst, du die Situation schlimmer machen wirst.“
„Ich sehe nicht, wo ich es bei Meta schlimmer gemacht habe“, verteidigte sie sich und erwiderte seine Herausforderung.
Seine Stimme wurde etwas sanfter, „Du hattest Glück, dass es sich hier um relativ ungefährliche Individuen gehandelt hat. Wir haben genug von denen in der Schule, die es nicht sind. Leg dich nicht unnötig mit diesen an.“
Unsicher, was sie antworten sollte, schwieg sie. Es war nicht so, als wollte sie sich unnötig irgendwo einmischen. Und es war auch nicht so, als hätte sie ein dringliches Bedürfnis danach, den Helden zu spielen. Sie sah sich selbst definitiv nicht als die Art von Mensch an, der jedem beliebigem zur Rettung eilte. Und seltsamerweise merkte sie, dass sie genau das machen würde, nur weil er ihr gesagt hat, dass sie es nicht soll. Sollte sie das machen, solange sie in Calisteo war? Einfach nur, um ihn zu nerven.
„Bitte“, fügte er auf einmal hinzu, „Der Ärger ist es nicht wert und ich kann helfen, die Situation ruhig zu entschärfen.“
Das überraschte sie mehr als sie erwartet hätte. Diese Aussage schien ehrlich und ernst und ohne jegliche Belustigung. Seufzend gab sie nach, „Hör bitte auf so zu tun, als würde ich mir die Auseinandersetzungen suchen. Aber ich werde mein Bestes geben.“
Seine Gesichtszüge wurden sanfter und er ließ ihren Ellenbogen los, „Würdest du es auch versprechen?“
Sie musste zum ersten Mal lachen, überrascht von dieser absurden Bitte, „Auf keinen Fall. Ich glaube nicht, dass es je dazu kommen wird, dass du mein Versprechen für überhaupt irgendwas bekommst.“
Er schien überhaupt nicht beleidigt zu sein und sie war sich sicher, dass er sich dessen wohl bewusst war.
„Ich hätte ja Glück haben können“, sagte er grinsend, „Ich will dir in der nächsten Zeit aber zeigen, dass man sich auf mich verlassen kann. Und es ist nur diese eine Sache, um die ich dich bitte.“
„Um die du mich heute bittest“, korrigierte sie, „Aber ich habs verstanden. Ich werde mein Bestes geben.“
Auf einmal war Scarlett da. Etiennes Kopf wirbelte zu ihr herum, als diese wunderschöne Frau, gekleidet in Schwarz, neben ihnen auftauchte. Ihr Blick traf auf Raffael und Etienne blieb vor Schreck kurz die Luft weg, als sie die Wut und die Sorge in diesem erkannte, und zwar so deutlich, wie man den Mond am klaren Himmel sehen konnte, „Bist du eigentlich verrückt geworden?“
Ihre Stimme war ruhig, aber diese Wut in der Ruhe ließ Etienne erschaudern. Es fühlte sich an, wie das Donnern eines weit entfernten Sturms von dem man ganz genau wusste, dass er bald auf einen Treffen würde. Dennoch erkannte sie eine Ähnlichkeit zu Raffael. Genau so hatte er sich vorhin auch angehört. Vielleicht war Scarlett ja der Schlüssel für Etienne, ihn besser einschätzen zu können? Sie waren sich ähnlich, sahen sich ähnlich, hatten eine ähnliche Mimik. Wenn Etienne Scarlett besser einschätzen könnte, dann könnte sie das sicherlich auch bei Raffael, egal wie gut er seine Absichten und Gefühle verbergen konnte.
Sie entdeckte Etienne nicht. Oder es wäre besser zu sagen, dass sie Etienne sicherlich im Hinterkopf registrierte, ihr aber keine Beachtung schenkte. Das lag an Catjills Magie. Ein subtiler Weg, um unter den Menschen zu wandern.
„Lass uns nach Hause gehen“, sagte Raffael lachend, nachdem er sie kurz betrachtet hatte, und steckte das Handy wieder weg. Es schien ihm absolut nichts auszumachen, dass Scarlett so wütend war.
„Da kannst du drauf wetten“, sagte sie und schloss die Augen und dann waren sie verschwunden.
Der Schatten zwischen den Laternen und die Ablenkung, welche Raffael mit seinem Verschwinden ausgelöst hat, waren genau die notwendigen Dinge, um aus dem Blickfeld der Gestalten zu verschwinden. Diese tuschelten aufgeregt über das Geschehen, Scarletts Name fiel und Etienne war sich sicher, ihre eigene Präsent war wahrscheinlich schon vergessen.
Das Gespräch mit Raffael hatte es unmöglich gemacht, dass die subtile Magie ihres Djinns Etienne weiterhin vor Aufmerksamkeit schützen würde. Also wartete sie ab, sah ihnen dabei zu, wie sie sich umsahen. Ihre Augen streiften sie, aber sie beachteten sie nicht. Die Magie ihres Djinns gewann wieder die Überhand. Wenn Etienne sich nicht zu sehr preisgab, dann würden diese Menschen sie weiterhin übersehen. Nach einigen weiteren Momenten beeilte sie sich Meta und Gilgian aufzuholen, blieb jedoch weiterhin im angemessenen Abstand. Sie betraten die Provinz und Etienne folgte ihnen schweigsam weiter. Etienne legte die Arme um sich, als sie fröstelte. Gilgians Provinz war erstaunlich dunkel, auch wenn das Licht aus den Fenstern der Gebäude zu der Straße drang.