Sie gingen eine weitere Treppe hinauf. Seit den Puppen war ihnen nichts mehr entgegengekommen. Eine aus dunklem Holz und mit feinen Mustern verzierte Tür, tat sich vor ihnen auf.
„Ist es das?", fragte Etienne und sah zu Meta, welche ihr nervös zunickte.
„Na dann los."
Sie trat an die Tür heran und zog vorsichtig am Griff, froh über ihre Handschuhe, weil es nach den Spielzeugen nicht wirklich etwas gab, was sie noch mit ihrer Haut anfassen wollte.
„Ich muss schon sagen, das ist ein furchtbares Zuhause", meinte Etienne, als sie langsam in den großen Raum trat, „wie hast du es nur geschafft hier zu leben?", fragte Etienne.
„Als ob es früher so gefährlich gewesen wäre!", erwiderte Meta.
Etienne beließ es, ihr darauf eine Antwort zu geben. Wenn Metas Vater über Jahre hinweg diese ganzen Dinge gesammelt hatte, dann war es wahrscheinlich sehr wohl sehr gefährlich gewesen. Meta hatte es nur nicht richtig wahrgenommen, wahrscheinlich, weil sie zu jung gewesen war.
Der Raum, in dem sie nun stand, war groß. Ein tickendes Geräusch sorgte dafür, dass sie die schön verzierte Standuhr neben der Tür als Erstes wahrnahm. Sie zeigte die falsche Uhrzeit an. Oder vielleicht doch die Richtige? Es wäre nicht das erste Mal, dass Etienne an einem verfluchten Ort sich nicht auf ihr Zeitgefühl verlassen konnte. Und wenn die Uhr richtig lief, dann war es deutlich später, als es sein sollte.
An den Wänden konnte sie viele Bücher ausmachen, einige lagen vor einem Regal am Boden verstreut. Sie entdeckte einen, wahrscheinlich blutigen, Handabdruck an dem Regal, als hätte sich jemand an diesem festgehalten. Zu ihrer Rechten tat sich ein riesiger Kamin auf, vor welchem ein mit Papier bedeckter Tisch stand. Etienne bedachte die Feder in der schwarzen Tinte misstrauisch. Als sich diese nicht rührte, sah sich weiter um und entdeckte einige Schränke, welche wahrscheinlich mit weiteren Unterlagen vollgestopft waren. Sie wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte, nach Informationen zu suchen. Eine kleine Treppe führte etwas weiter hoch, wo sie noch mehr Bücher ausmachen konnte. Eine Wand im oberen Bereich war durch eine riesige Karte bedeckt, welche das Land von Calisteo bis zu Vheruna und noch nach viel weiter darstellte. Viele Gebiete waren noch mit Fragezeichen oder Kreuzen versehen. Es waren Orte, an welche sich die Menschen noch nicht wieder getraut hatten. Etienne entdeckte eine Mine in der Nähe von Calisteo, welche als gefährliches Gebiet markiert wurde und verzog das Gesicht. Insbesondere Minen, alte Städte und einige Berge waren eine lange Zeit Verbotszonen gewesen, da sie nur so von Kreaturen wimmelten, welche weiterhin eine Gefahr für die Menschen darstellten. Aber die Karte war nicht mehr aktuell. Eine Mine in der Nähe von Vheruna wurde kürzlich zurückerlangt und von allen möglichen Wesen, welche dort gehaust hatten, befreit. Die Säuberung dieser hatte höchste Priorität gehabt, nachdem vor einigen Jahren einige Kinder und Erwachsene nach und nach verschwunden waren. Es hatte etwas gedauert, aber scheinbar hatten die Menschen schnell festgestellt, dass die Wesen der Mine dafür verantwortlich waren. Eine beunruhigende Entwicklung, da in den letzten Jahrzehnten diese Wesen nie von sich aus angefangen haben, die Menschen anzugreifen. Nur, wenn sich jemand in die Minen getraut hat. Es ist auch an zwei anderen Orten vorgekommen. Die Sorge, dass es nun öfters passieren könnte, war gerade ein heiß diskutiertes Thema in den großen Städten. Und die Säuberung hatte Vherunas König mehr als gut geholfen, seine Macht als kompetenter Herrscher zu sichern.
„Wo soll ich anfangen?", fragte Etienne Meta. Sie trat an den Tisch und entdeckte dunkle, durchsichtige Schatten an diesem herumschweben, wie kleine Staubwolken, welche durch einen Luftzug bewegt wurden. Nur war sie sich sicher, dass das kein Staub war. Sie hob die Hand und berührte sie. Schnell verschwanden sie in alle Richtungen.
Als sie sich weiter umblickte, entdeckte sie noch mehr solcher Schattenknoten, welche geschwind ihrem Licht auswichen.
Auf der anderen Seite des Raumes, über dem Eingang, durch welchen sie eingetreten waren, entdeckte sie eine riesige Sternenkarte. Definitiv nichts, was sie interessierte.
Fragend sah Etienne zu Meta, welche einfach nervös an der Tür stand. Sie starrte mit einem leeren Blick in den Raum hinein.
„Siehst du das auch?", fragte Etienne.
Meta sah sich um und blickte dann mit gerunzelter Stirn zu ihr, „Nein? Was genau soll ich sehen?"
„Den Weg zum Stein", sagte Etienne lächelnd. Es war offensichtlich, dass Meta diese Schatten nicht sah. Sie würde ihr keine Angst machen, indem sie ihr von diesen erzählte. Dennoch verwunderte die fehlende Wahrnehmung Metas Etienne. Sie waren so offensichtlich überall verteilt, kleine Magiebüschel, welche ein eigenes Leben zu haben schienen. Es erschloss sich ihr nicht, wie man sie nicht sehen konnte.
„Ich...", Meta zögerte, eher sie tief durchatmete und weiter sprach, „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich gibt es hier irgendwo irgendwas, aber ich kann mich an nichts erinnern, was dir weiterhelfen könnte. Es tut mir leid."
Etienne seufzte, „Catjill?"
Der Kater schnaubte zufrieden, „Du kriegst echt nichts alleine auf die Reihe."
„Mach deine Arbeit", erwiderte Etienne lächelnd.
Während er anfing durch den Raum zu fliegen, ging Etienne zu einem der Schränke, wedelte die kleinen Schatten weg und zog die Schublade auf, welche mit einem quietschenden Geräusch gehorchte. Auf einen Blick konnte sie sehen, dass die Schubladenschienen verrostet waren. Mehrere Akten sprangen ihr entgegen. Sie sah sie kurz durch, entdecke verschiedene Orte. Das war für sie nicht von Interesse, also schloss sie diese und öffnete einen Schrank nebendran. Verschiedene Menschennamen.
„Was macht er?", fragte Meta, als Catjill durch den Raum flog und sein langer, wuscheliger Schwanz alles berührte.
Etienne sah die Namen durch und eine besonderes dicke Akte sprang ihr ins Auge.
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Gilgian.
„Er sucht nach etwas, was mit dem Stein von Expulsio zu tun haben könnte", beantwortete Etienne ihre Frage und zog die Akte raus. Der frühste Eintrag lag mehrere Jahre zurück, da musste Gilgian noch sehr jung gewesen sein. Dort gab es noch vereinzeltes Gekritzel zu seiner Person, doch seit er acht Jahre alt war, gab es wöchentliche Einträge und ab dem elften beinahe tägliche.
Etienne konnte auf die Schnelle nur einige Worte aufgreifen. Sie kannte nicht alle von ihnen. Manche erkannte sie jedoch als Flüche, dennoch gab es keinen Anlass zu glauben, dass sich Metas Vater intensiv mit Fluchweben auseinandergesetzt hat. Eher mit verfluchten Gegenständen. In einem Eintrag zu seinem vierzehnten Lebensjahr entdeckte sie eine Abfolge von Zeichen, welche ihr sehr bekannt vorkamen. Zu wenig aber, um sich zusammenzureimen, was genau an ihm ausprobiert wurde.
Sie legte die Akte wieder zurück und sah sich die andere an, die mindestens genauso dick war.
Meta.
Alle paar Monate gab es einen neuen Eintrag, welcher akribisch beschriftet war. Und dann gab es einige Wochen nichts Neues, bis es von vorne losging. Meta hatte sehr viel Kontakt zu allen möglichen verfluchten Gegenständen gehabt. Das war beunruhigend. Etienne kannte nicht viele Menschen, welche allein eine Konfrontation überlebt haben. Erst recht nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Doch die Einträge nach ihrem dreizehnten Lebensjahr haben alle immer nur dasselbe gezeigt:
Keine Veränderungen.
„Meta", richtete Etienne das Wort an sie, „Hast du eigentlich den seltsam wedelnden Vorhang im Gang gesehen?"
Sie hob ihren Blick zu ihr und betrachtete sie eingehend. Verwirrung zeichnete sich in Metas Gesicht ab, dann Angst und Unsicherheit.
„Ich denke schon?", sagte Meta fragend.
„Der sich so hoch gehoben hat? Als wäre ein Fenster offen, nicht wahr?", hakte Etienne weiter nach.
„Ich...", Meta bis sich auf die Unterlippe und Etienne wartete geduldig ab. Etienne vermutete, dass die Antwort nein sein sollte, aber Meta war so leicht zu verunsichern, dass sie scheinbar lieber an das glaubte, was Etienne meinte gesehen zu haben, als dass sie sich auf ihre eigenen Wahrnehmungen verließ.
„Ist schon in Ordnung, du musst mir nicht antworten. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen, aber ich glaube, da war nichts", sagte Etienne, versuchte es ihr leichter zu machen, es zuzugeben.
Meta atmete tief durch, „Du hast so intensiv in diesen Gang gestarrt, dass ich mir nicht sicher war, worauf ich achten sollte. Ich glaube, ich habe etwas gesehen, aber ich bin mir unsicher."
Etienne legte Metas Akte wieder in den Schrank. Die letzten Einträge waren alle gleich. Keine Veränderungen also. Meta hatte scheinbar keine Reaktion auf verfluchte Gegenstände gehabt, egal, mit welchen sie konfrontiert wurde. Würde sie auch keine Reaktion auf Magie zeigen? Oder auf gewobene Flüche, welche direkt gegen sie gerichtet waren? Würden Segen auch nicht bei ihr funktionieren? Was war mit angeborenen Fähigkeiten einzelner Individuen. Etienne wollte all das überprüfen. Doch dieser Beobachtung würde sie sich später widmen.
„Vielleicht hat Catjill etwas gefunden", sagte Meta leise.
Mit einem letzten Blick auf andere Namen, welche fordernd zu ihr hinaufblickten, verschloss sie die Schublade.
„Hier ist was", meinte Catjill. Es war bei diesem riesigen Kamin.
„Oh, etwa ein Geheimgang?", fragte Etienne aufgeregt und klatschte in die Hände. Catjill flog zu Meta und setzte sich auf ihren Kopf.
Meta lachte leise. Etienne meinte, da etwas Verzweiflung herauszuhören. Sie trat zu dem Kamin und betrachtete diesen. Das alte Holz lag in einem Gitter, dahinter die kleinen Schatten, welche von der dunklen Kohle kaum zu unterscheiden waren. Etienne packte es und stellte es zur Seite. Das schwarze Kohlepulver wirbelte auf und sie achtete darauf, es nicht einzuatmen. Dann ließ sie ihren Stein leuchten und hellte den Kamin auf. Die kleinen Schatten verschwanden in alle Richtungen davon. Die Spinnennetze waren im Inneren überall verteilt und als sie diese zur Seite wischte, bewegten sich die kleinen Spinnen schnell weg. Die Weben klebten an ihren Handschuhen und sie schlug sie weg. Nachdem sie im Innerem nichts erkennen konnte, betrachtete sie den dunklen Kaminmantel. Die Oberfläche war glatt, es gab keine Muster oder Schmuck an ihm. Als sie die Seiten genauer betrachtete und mit dem Finger vorsichtig drüberwischte, merkte sie, wie sie über etwas Raues strich. Es war kaum merklich, nur eine kleine Veränderung, welche vom Staub abwich. Sie ließ das kalte Licht ihres Talismans leuchten und betrachtete die Stelle gründlich. Sie konnte das Muster nicht genau ausmachen, aber es erinnerte sie an einen Handabdruck in dunkler Farbe. Ob das Blut war? Sie war sich nicht sicher, aber jemand hat hierhin gegriffen. Sie sah sich die Stelle etwas genauer an. Der Kaminmantel stand ab und in der Innenseite schien es nach Innen abzuknicken, sodass sie ihre Fingerspitzen in die Innenseite drücken konnte. Sie war sich nicht sicher, ob sie das tun wollte. Vorsichtig betastete sie die Stelle, bis sie eine Unebenheit entdeckte. Etienne atmete tief durch. Hoffentlich würde sie nicht ihre Finger verlieren. Sie drückte gegen die Unebenheit und es war ein Klacken zu hören. Dann öffnete sich die Innenseite des Kamins und riss die letzten Spinnennetze auseinander. Ihre Finger blieben dran.
Triumphierend sah sie zu Meta und Catjill.
„Willst du ein Lob?", fragte Catjill genervt. Meta seufzte leise und blickte in den kleinen Durchgang. Sie sah nicht aus, als hätte sie Lust, da hereinzugehen. Etienne konnte es ihr nicht verübeln.
„Schau, es sind nur ein paar Schritte!", sagte Etienne und blickte dann zu Meta, „Gehen wir?"