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Schauspiel: Die dunkle Stunde

Meta saß in der Bibliothek und blätterte die nächste, vergilbte Seite um, hatte erneut Angst, dass es ihr gleich zwischen den Fingern abreißen würde.

... nach den ersten Jahrzehnten, als die Welt sich etwas stabilisierte und neu erschaffene Realitäten anfingen, Regeln und Gesetzen zu folgen, welche vom kollektiven Gedächtnis der Menschen gestützt und fest verankert wurden, war der Zeitpunkt erreicht, in welchem erste Städte auferstanden sind. Vheruna war wahrhaftig die erste, so auch die erste Anlaufstelle für Menschen, ohne ein Zuhause, für viele mit Angst und Verzweiflung und Orientierungslosigkeit in einer neuen Epoche des Chaos.

Bis heute war noch nicht ganz geklärt, woher die Stabilität kam, welche zur Folge hatte, dass der Geist des Menschen ausgerechnet in dieser Stadt nicht Amok lief. Wieso Albträume von Kindern und Erwachsenen hier nicht in einer neuen Realität manifestierten und wieso Magie für manche Menschen nur begrenzt nutzbar war, während andere unfreiwillig die Erde erbeben ließen. Dies war auch die Zeit gewesen, in welcher die Menschen nach und nach Schutzgeister entwickelt haben. Angefangen hat es bei Blue Moon, dem Mann ohne Namen, dessen Schutzgeist so mächtig war, dass es den Mond in ein helles Blau tauchte, dessen Licht den Himmel leuchten ließ. Wann immer Blue Moon seine Macht nutzte, war es, als würde die Welt stillstehen und der menschliche Geist zur Ruhe kehren.

Weiterhin las sie dazu:

Reynold Amboris vermutet, dass seine Macht so mächtig war, gedrängt von dem Bedürfnis, andere zu schützen, dass es den wilden Geist der Menschen unterdrückte und somit das Chaos, welches damit einhergegangen war. Wilfried Strabb hat in der Sphälix vermutet, dass es an einer natürlichen Ordnung lag, in welcher die Schwachen dem Starken unterstanden. Die Schöpfungskraft seines Geistes und seine eiserne Disziplin müssen der Grund für das unterdrückte Chaos gewesen sein.

Anmerkung: Über den genauen Grund gibt es keinen Konsens.

Diese zwei Theorien wurden kurz diskutiert. Meta übersprang diesen Teil des Kapitels. Sie kannte es bereits aus der Unterricht.

Im Laufe der nächsten Jahrzehnte hatten die Menschen sich fassen können. Sie lernten, das Chaos zu kontrollieren, Schutzgeister entstehen zu lassen, Menschen mit besonderen Fähigkeiten wurden geboren und nach und nach entstand ein ganzes System an Zaubern, angefangen bei einfachen Handwerkszaubern, welche sich aus den rohen Elementen bildeten, bis hin zu hoch komplizierten Segen und Flüchen. So wie neue Dinge immer größer und komplizierter wurden, verschwanden auch manche von ihnen. Schutzgeister, beispielsweise, gab es nur noch wenige.

Irgendwann, als weitere Städte entstanden waren und mit ihnen weitere wichtige Familien, wie die Petyrer, die Cerreas, die Mandragonrys und viele weitere, und deren wichtigsten Vertreter sich alle paar Jahre in Vheruna trafen, da haben sich irgendwann die Shurkiyaa-Spiele entwickelt. Und das wars.

Meta schloss frustriert das Buch. Es war das Fünfte, dass sie gelesen hat, nur damit sie erneut die Spiele in einem Nebensatz erwähnt vorfand. Irgendwann hatten sich diese zu einem Weltereignis entwickelt. Auch heute trafen sich alle paar Jahre die Vertreter wichtigster Familien zu den Spielen. Meta wusste nicht, wie dies genau ablief, da sie nie Teil der Feste war, welche ausschweifend und pompös, mit einem goldenen Feuer in Anlehnung an die alte Welt, in den entsprechenden Städten gehalten worden waren. Sie hatte nur Bilder gesehen, manchmal eine Übertragung. Es schien ein groß ausgelegtes Fest zu sein, in welchem die Menschen ihrer Laune nachgehen konnten, sich messen und kämpfen konnten und das stetig unter den gerechten Augen der Vertreter anderer Familien. Neue Herausforderungen wurden entwickelt, manche fanden in der harschen Realität statt, andere in entwickelten Gebieten der zweiten Ebene, konstruiert von talentierten Magoris, welche die zweite Ebene nach ihrem Willen beugen konnten. Hochkomplexe Magie, welche es in Calisteo nicht gab.

Was sollte ihr Vater dort erlebt haben, das es ihn dazu verleitet hat, sich den Flüchen zu widmen? Kam er schon vorher auf die Idee, Gilgians Körper zu übernehmen oder erst danach?

Sie legte das Buch zur Seite und zog die Beine an. Es war keine neue Erkenntnis, dass er nach dem Tod ihrer Mutter mehr und mehr in sich gekehrt war. Meta hatte immer vermutet, dass es ihm dabei um ihre Mutter ging, doch Tatinnes Aussage hinterließ ein unangenehmes Gefühl zurück. Wollte er wirklich durch die Übernahme von Gilgians Körper sich ein langes Leben ermöglichen? Was, wenn er in Gilgian dann alt geworden wäre? Hätte er sich dann einen anderen Körper gesucht? Wie sollte das mit der Liebe zu ihrer Mutter zusammenhängen?

Und dann war da noch die Sache mit den verfluchten Gegenständen. Der Gedanke daran, dass er ihr diese Dinge gegeben hatte und dabei gewusst hatte, was sie taten, sorgte dafür, dass ihr der kalte Schweiß ausbrach. Doch ein Gedanke ließ sie besonders in Angst erschauern. Meta meinte, sich erinnern zu können, er hatte ihr die Gegenstände bereits gegeben, da war ihre Mutter noch am Leben gewesen. Eine Erinnerung, eine ganz bestimmte, geisterte in ihrem Kopf herum. Hatte sie sich diese ausgedacht oder war sie wirklich der Fall gewesen? Es war so lange her, sie wusste nicht mehr, wie sie diese einordnen sollte. Als ein Hirngespinst oder Realität eines Kindes.

„Meta?“, hörte sie eine vertraute Stimme und schreckte auf. Mal wieder kam sie aus dem Nichts und sorgte dafür, dass sie zusammenzuckte und ihr Knie gegen den Tisch knallte.

„Etienne!“, schimpfte Meta, rieb sich das schmerzende Knie.

„Entschuldige“, sagte Etienne lächelnd. Etwas an ihrem Ausdruck verunsicherte Meta, ließ sie nervös ihr Bein länger reiben, als gewollt. War es nun so weit? Würde Etienne sie mit den kranken Machenschaften ihrer Familie konfrontieren und Meta als die Tochter ihres Vaters brandmarken?

„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte Etienne.

Meta nickte nervös. Sie hatte sich überlegt, wie sie sich bei Etienne entschuldigen konnte, doch jetzt erinnerte sie sich nicht mehr an die Worte. Panisch versuchte sie, diese zurückzurufen, wollte irgendwie verhindern, dass Etienne ihr zuvorkam und sie abwies.

„Wie ist es dir ergangen, nach dem Ganzen?“, fragte Etienne vorsichtig, „Ich wollte schon länger mit dir sprechen, aber irgendwie ist es in anderen Problemen untergegangen. Das tut mir leid.“

„In anderen Problemen?“, fragte Meta nach und erschrak dann über ihre dreiste Frage. Das ging sie nichts an.

„Sie hat einen Streit mit Raffael angefangen und sie haben eine Wette am Laufen, um zu sehen, wer die größeren Socken anhat“, plapperte Catjill.

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„Er hat angefangen“, sagte Etienne ruhig, „Aber wie auch immer. Als Erstes möchte ich mich bei dir entschuldigen.“

Meta blieb alles im Hals stecken, was sie sich zurechtgelegt hatte.

„Bei mir? Bitte sag mir nicht, dass Gilgian dich zu etwas gezwungen hat?“, fragte sie aufgebracht. Er hatte es schon mal gemacht, weswegen alles dann nur noch schlimmer geworden war.

„Was? Nein, mit Gilgian hat das nichts zu tun. Ich habe nicht richtig gehandelt. Ich hätte klar dafür sorgen sollen, dass du das Haus nicht betrittst, aber mir war es wichtiger hineinzukommen, als auf deine Wünsche zu achten. Das wird nicht wieder vorkommen. Ich werde dein Mitspracherecht nicht missachten, um meine eigenen Ziele zu verfolgen, zumindest, solange es dich direkt betrifft.“

Meta zögerte. Dieses Gespräch verlief anders, als sie es erwartet hat.

„Nun, du warst in einer schweren Situation. Ich kann verstehen, wie es dazu gekommen ist“, sagte Meta. Sie war Etienne nicht böse gewesen. Ein wilder Schattenhund war aufgetaucht, das lag wohl kaum in Etiennes Kontrolle. Und jetzt, da sie wusste, dass ihr Vater sie wahrscheinlich nach und nach versucht hat in das Schatzzimmer zu locken, Etienne beinahe ermordet und Gilgians Körper zu übernehmen versucht hat, …. es war offensichtlich, wer sich eigentlich entschuldigen musste.

„Und ich möchte dich etwas Fragen“, sagte Etienne dann nach einem Moment der Stille, in welchem Meta versucht hatte, ihre Worte wiederzufinden.

„Ja?“, fragte sie überrascht.

Etinne erzählte ihr, was am morgen passiert war. Sie erzählte alles und Meta wusste nicht, ob sie erschrocken, schockiert oder beeindruckt sein sollte.

„Sehe mich nicht so an“, meinte Etienne dann mit grimmiger Miene, „Er hat mich zu verfluchen versucht und nun versucht er, mich zu demütigen. Ich darf zu allen Mitteln greifen, die mir zur Verfügung stehen.“

„Ich…, ich mache keine Vorwürfe. Es war nur viel auf einmal“, sagte Meta, noch immer ungläubig. Etienne sah sie schweigend an, aber Meta hatte das Gefühl, dass da etwas Unsicheres in ihren Augen steckte. Sie wandte nervös den Blick ab und biss sich auf die Unterlippe, „Um Himmels Willen, wenn ihr so weiter macht, dann wird nicht viel vom Stück übrig bleiben.“

„Es war nicht mein Ziel gewesen, es euch kaputtzumachen.“

„Oh, Gilgian würde sich sehr freuen“, sagte Meta, „Anjelika hingegen … für sie wäre es eine Katastrophe. Nicht aber, dass du die Einzige bist, die das zu sabotieren versucht.“

„Ich will es ja nicht sabotieren“, warf Etienne ein, „Ich will die Wette gewinnen und meinen Stein. Der Rest ist mir wirklich egal.“

Meta seufzte schwer, sah wieder zu ihrem Buch. Damals, in der dunklen Stunde, haben die Menschen zusammengearbeitet. Und heutzutage bekamen sie nicht einmal ein einfaches Theaterstück hin. Aber Meta könnte es hinbekommen, Etienne zu helfen. Meta könnte ihre letzte gescheiterte Hilfe wiedergutmachen. Vielleicht nicht mit Worten, aber dafür mit Taten.

Sie sah wieder zu ihr auf und fragte lächelnd, „Worin brauchst du meine Hilfe?“

Etienne strahlte sie an und Meta überströmte die Erleichterung. Es fühlte sich so gut an, auf diese Art von jemandem angeschaut zu werden. Als wäre sie etwas, was nicht im Weg stand, sondern erwünscht und gefragt, als könnte sie wirklich helfen. Es gab ihr das Gefühl, sie wäre wertvoll, wenn auch nur für einen Moment.

„Kannst du mir etwas über Mirtin erzählen? Wie hängt sie mit den Menschen hier zusammen? Sie scheint Elias zu mögen. Aber Raffael und seine Provinz nicht? Kann ich sie irgendwie dazu bringen, hier zu bleiben?“

Meta gab ein nachdenkliches Geräusch von sich, „Nun, sie ist in Elias’ Provinz. Sie kommt aus einer wohlhabenden Familie, wie nebenbei die meisten Mitglieder dieser Provinz. Sie mag ihren Job nicht wirklich, da hat Raffael recht. Als das vierte Kind ihrer Familie wurde sie mehr in den Lehrerberuf gedrängt, ein Versuch der Machteinflussnahme auf die Schule. Und was die Abneigung gegen die zweite Provinz angeht: Die zweite Provinz war sehr lange verarmt gewesen. Mirtin sieht die Menschen dort … wie soll ich es ausdrücken … sie mag sie nicht. Sie ist der Meinung, dass sie nicht zu dieser Schule gehören. Sie sollten anfangen, Berufe auszuüben und zu erlernen. Sie sollen arbeiten gehen und nicht versuchen, ihren Platz zu verlassen.“

„Wirklich?“, fragte Etienne nach, „Aber Raffael ist doch wohlhabend? Wieso ist sie ihm gegenüber so?“

„Weil Raffaels Reichtum der von Nexim ist. Mirtin sieht ihn nicht als rechtmäßigen Erben an, wie beispielsweise mich. Mit mir und Gilgian hat sie weniger Probleme, weil wir direkte Nachkommen der alten Herrscher sind.“

„Eine Idee, wie ich sie vom Gehen abhalten kann.“

Meta sah zur Decke, während sie nachdachte. Der Kronleuchter strahlte ihr in all seiner Pracht entgegen, wie ein leises Zugeständnis über den Reichtum dieses Ortes. „Wahrscheinlich über Elias. Mirtin wird gehen, wenn es den anderen Provinzen schaden kann. Und sie mag es, ihnen dabei zuzusehen, wie sie scheitern, das bestärkt sie in ihrer Sicht. Deswegen geht sie immer nach der Mittagspause. So kann sie verkaufen, dass sie das Mindeste zur Anleitung getan hat, ihnen was beigebracht hat und dann die Eigenverantwortung der Schüler fördert, mit welcher die Mitglieder ihrer Provinz, laut ihr, keine Probleme haben. Vielleicht wird sie bleiben, wenn es direkt Elias betrifft“, dann wanderten ihre Gedanken aber zu einem anderen Problem, „Etienne, Mirtin wird niemals den ganzen Tag hier verbringen. Spätestens, wenn die Probe vorbei ist, wird sie gehen. Ich bleibe an diesen Tagen länger hier, genauso wie einige andere Menschen und meist alle Mitglieder der zweiten Provinz. Wir folgen Anjelikas Anweisungen, aber sie muss nicht zwingend bleiben. Raffael muss sie nur bitten, etwas früher zu gehen. Dann gewinnt er, oder? Weil er die letzten Anweisungen am Tag durchführen wird.“

Etienne schnaubte, „Siehe an. Was für ein hinterlistiger Mistkerl. So hat er Anjelika nicht genutzt und wahrscheinlich sind diese ganzen kleinen Versuche nur dazu da, mich zu erschöpfen, damit ich am Abend zu müde bin, um zu reagieren.“