„Und nun?“, fragte sie an ihn gewandt.
„Du kannst deine Jacke auspacken“, sagte er. Bei seinem Tonfall freute sie sich nicht darauf. Sie bedachte die Tasche misstrauisch. Er hatte keinen Grund, ihr etwas zu geben, was ihr schaden würde. Obwohl sie das wusste, ließ sein Tonfall ein sehr unangenehmes Gefühl in ihr zurück. Etienne bedachte ihn vorsichtig. Er erwiderte fragend ihren Blick, wunderte sich wahrscheinlich über ihr Zögern. Etienne wollte ihm nicht sagen, wieso, also setzte sie wieder ihr Lächeln auf. Er lächelte zurück, watete ab. Etienne öffnete vorsichtig die Tasche. Nichts sprang ihr entgegen, außer dem schwarzen Stoff, welcher sorgfältig zusammengelegt wurde.
„Dir ist schon bewusst, dass ich nichts davon habe, dir zu schaden?“, hörte sie Raffael hinter sich sagen, „Mal abgesehen davon, halte ich mich sorgfältig an das, was ich verspreche. Nicht wie ein gewisser Jemand, der nur so tut.“
„Ich habe dir nie was versprochen. Außerdem bist du gar nicht so aufrichtig, wie du tust“, sprach sie gezwungen ruhig, konnte nicht anders, als auf seine Provokation einzugehen.
„Willst du wetten?“, seine Stimme war eine Oktave zu laut, als wäre er wirklich beleidigt von ihren Worten, „Ich habe mich bisher immer an alles gehalten, dem ich zugestimmt habe. Du hingegen drehst es nur so herum, wie es dir am liebsten ist.“
„Das machst du auch. Du hast mir einen dreisten Vorschlag unterbreitet, damit ich meinen Stein nicht bekomme, nur um mir Tage später zu sagen, dass ich ihn so oder so nicht bekommen würde.“
Etienne sah wieder zu der Jacke und betrachtete sie eingehend. Sie hatte die passende Größe, sah vom Schnitt und Material ihrer alten sehr ähnlich. Letzteres müsste sie aber noch überprüfen. Sie würde sich nicht mit weniger zufriedengeben als mit dem, was ihre alte Jacke ihr gegeben hatte. Ihre alte Jacke, die sie jetzt schon vermisste. Sie war noch nicht bereit, sie auszutauschen. Vielleicht würde Tatinne ihr einen Rat geben, wie diese noch zu retten wäre. Dafür musste sie zunächst von Raffael herausfinden, wo er sie hatte. Würde er ihr sie wiedergeben oder genauso behalten wie den Stein?
„So dreist war er nicht“, sagte er salopp daher und sie merkte, wie er sich nicht zu dem Rest äußerte.
„Natürlich nicht“, sagte sie ironisch und entschloss sich ebenfalls, nicht weiter darauf einzugehen.
Das Material schien zu stimmen. Es schien robust und dicht. Etienne vermutete, dass es sie gut vor Kälte schützen würde, auch vor tieferen Temperaturen, als denen, die in Calisteo herrschten. Sie wollte sie anprobieren, doch nicht bevor sie auf verborgene Zauber und Flüche überprüft hat. Vor allem nach dem Fluch von heute Morgen war ihre Vorsicht beinahe schon auf Höchstniveau gestiegen. Eine angespannte Nervosität begleitete sie stetig. Raffael konnte noch so sehr auf seine Vertrauenswürdigkeit pochen, sie würde nicht den Fehler begehen, leichtsinnig zu sein. Vor allem jetzt nicht, wo er sie sehr gut daran erinnerte, wie locker sie das Ganze vor einigen Tagen genommen hatte.
Als sie keinen Ton mehr von ihm vernahm, sah sie sich nach ihm um und konnte nicht verhindern, dass ihre Wut entflammte. Zwei erhobene Augenbrauen, ein hochmütiges Lächeln. Sein Gesicht drückte eine unausgesprochene Belehrung aus, als würde er von oben herab über die Dummheit eines Kindes lachen. Etienne hatte schon vermutet, dass es da etwas gab an diesem Morgen, was sie nicht gänzlich verstanden hatte, und die Vermutung erhärtete sich, als sie näher an den Schluss kam, dass er sie zweimal hereingelegt hatte. Das zweite Mal war nur noch nicht ausgesprochen.
„Drehen, wie es einem am liebsten ist, nicht?“, sagte sie seiner Arroganz entgegen und sein Lächeln gefror, „Das kannst du sicherlich mindestens genauso gut, wie ich.“
„Erzähle mir, was du mit Halil gemacht hast“, sagte er unvermittelt und nun konnte sie nicht anders, als ihm denselben Ausdruck entgegenzubringen, wie er ihr zuvor. Es freute sie, dass es ihm nicht gefiel.
Etienne bedachte dann wieder die neue Jacke. Betastete die Fütterung mit ihren Fingern und ließ etwas Magie in diesen sammeln, nur um zu überprüfen, ob es eine Stelle gab, welche mit ihrer Energie interagierte.
„Ich hab Tatinne gebeten, mir etwas von ihrem Parfüm auszuleihen und er ist beinahe bewusstlos davon geworden“, sagte sie.
Er prustete. „Was? Das soll ich dir glauben?“
„Wenn es jemanden gibt, der es weiß, wie man sich Menschen vom Leib hält, dann ist es Tatinne“, erzählte sie ihm.
„Und sie hat dir ein Parfüm gekocht?“, fragte er amüsiert.
„Nicht mir, eher sich selbst“, sagte sie, „Es diente ursprünglich dazu, Menschen unbemerkt zu vergiften, aber es ist nicht leicht herzustellen und sehr charakteristisch. Das Gegenmittel kann noch über Wochen hinweg im Blut nachgewiesen werden, nicht die beste Art, jemanden loszuwerden. Aber es ist nicht tödlich und Tatinne hat es für ihre eigenen Zwecke etwas ummodelliert. Sie ist eine wirklich schöne Frau und hat oft erleben müssen, dass Menschen ihr gegenüber aufdringlich wurden. Aus verschiedenen Gründen.“
Als sie keine Antwort hörte, sah sie noch mal zu ihm. Große Augen starrten zu ihr zurück. Etienne probierte die Jacke an. Direkt spürte sie, wie die kalte Luft verschwand. Es fühlte sich gut an, dieser nicht mehr ausgesetzt zu sein.
„Du hast ihn vergiftet?“, fragte Raffael dann fassungslos. Schien, als hätte er akzeptiert, dass sie die Wahrheit sagte.
„So schlimm war es nicht. Und auch nicht für lange. Nur, bis er aufgegeben hat. Dann habe ich ihm das Gegenmittel gegeben.“
„Ah“, sagte er und Verständnis malte sich in seinem Blick aus, „War die Siegesbedingung das Aufgeben des Anderen?“
Etienne nickte.
„Erzähl mir mehr“, forderte er auf.
„Was willst du hören?“
Raffael stellte ihr ein paar Fragen und sie beantwortete alle ehrlich. Es gab sowieso nichts Interessanteres, als das, was sie zu Tatinne erzählt hatte. Sollte er sich mit dieser Information beschäftigen, anstatt mit ihr.
„Ist das von ihm?“, fragte er dann nach und sie sah ihn verständnislos an. Er deutete auf ihre Schulter.
Etienne verdrehte die Augen. „Vielleicht ein kleines Bisschen.“
If you spot this tale on Amazon, know that it has been stolen. Report the violation.
„Von wem dann?“
„Hauptsächlich von dem Crawling“, antwortete sie ehrlich.
Er seufzte schwer und ließ sich auf die grauen Steine der Mauer hinter ihm fallen, wobei die Bank unter ihm gefährlich quietschte. Seine Augen verweilte einen Moment auf ihrer Schulter und hoben sich dann zu ihrem Gesicht, während er nervös sich mit dem Daumen über seinen Finger rieb. „Was soll ich tun, damit du aufhörst, dich in die Situationen zu begeben, welche dich so verwundet zurücklassen.“ Sie setzte zur Antwort an, doch er hob abwehrend die Hand. „Nein, ich nehme die Frage zurück.“
Erneut breitete sich Schweigen aus, seine Unzufriedenheit schien zum Greifen in der Luft zu schweben. Dann deutete er auf die Tasche, „Deine Jacke ist auch noch dabei. Sie war nicht so schlimm zugerichtet, als dass sie nicht zu retten wäre.“
Etienne blinzelte überrascht und sah dann wieder in die Tasche. Sie griff hinein und schob den schwarzen Stoff beiseite, was den Blick auf vertraute Muster freigab, welche sie in- und auswendig kannte, weil sie diese in den ersten Wochen so häufig angestarrt hatte, dass sie dachte, sie hätten sich in ihre Netzhaut eingebrannt. Dann folgte diesem Moment Verständnis und sie spürte eine wohltuende Wärme sich in ihrem Herzen ausbreiten, tief aus ihrem Inneren. Sie hob ihre alte Jacke heraus und ihr Herz setzte für einen Moment aus, als sie den sorgfältig geflickten Stoff sah und dann überströmte sie die Erleichterung. Es war nicht so, als würde sie viel auf Gegenstände geben, aber ihr wurde zum ersten Mal wirklich bewusst, wie sehr sie an dieser Jacke hing. Es war ein Traum, als sie diese bekommen hatte, sie war ihr wertvollster Besitztum und sie zu verlieren wäre nur zu traurig gewesen.
„Danke“, sagte sie leise und war sich nicht sicher, ob sie ihm nun etwas schuldig war, denn das war eigentlich mit keinem Wort erwähnt gewesen.
„Gern geschehen“, hörte sie Raffael zögerlich und leise sprechen, dass es sie verwirrte und sie wieder zu ihm sah.
„Was?“, fragte sie nach und spürte das Gefühl der Dankbarkeit sich wandeln, in etwas, was an Dankesschuld erinnerte. Nervös presste sie die Jacke an ihre Brust. Ihre Hände kribbelten. Würde sie diese gleich wieder verlieren, weil er etwas verlangen würde, was sie nicht bereit wäre zu geben? Würde sie so ihren ersten richtigen Besitz wieder verlieren? Indem sie ihn gezwungen aufgeben musste?
„Sie scheint dir wichtig zu sein.“
Es hörte sich mehr nach einer Frage an, als nach einer Feststellung, und ihre Anspannung stieg. Sie zuckte zusammen, als er mit seinen Händen auf seine Oberschenkel schlug und sich vorlehnte. „In Ordnung. Genug davon. Nun, wo das erledigt ist, würde ich mit dir gern über etwas anderes sprechen.“
„Ja?“, fragte sie, immer noch nervös, etwas überfordert.
Raffael hob eine Braue und erneut schien es ihr, als würde er langsam verstehen, was in ihr vorging.
„Ziehe sie einfach an, wenns dich so glücklich macht, vielleicht fängst du dich dann auch endlich an, etwas wohler hier zu fühlen“, sagte er lachend und Etienne spürte die Röte in ihren Wangen aufsteigen. Sie mochte es nicht, dass es so offensichtlich war.
„Macht es das nicht“, erwiderte sie stur und wusste nicht, was sie mit dieser Lüge bezwecken wollte.
„Oder halt sie weiter fest, mir ist es egal, ich brauchte jetzt nur etwas von deiner Aufmerksamkeit.“
Die Belustigung war auch nicht durch den stetig wehenden Wind zu übertönen, welcher durch das Gemäuer fegte.
„Was willst du?“, fragte sie genervt, hoffte, dass die Röte schnell verschwinden würde. Ihr Symbol der Sicherheit war aber an ihrer Brust. Es schenkte ihren kribbelnden Händen Wärme und Sicherheit und sie würde am liebsten ihr Gesicht in dem warmen Stoff verstecken.
„Ich will befreundet sein.“
„Was?“, fragte sie perplex. Wieso war er seit ihrer Ankunft in Calisteo immer nur dabei, sie vorm Kopf zu stoßen?
„Ich weiß“, sagte er und hob die Hand, schien ein Grinsen zu unterdrücken, „Aber lass es mich erklären.“
Auffordernd nickte sie und schwieg. Etwas fühlte sich seltsam unangenehm an.
„Prinzipiell ist es noch immer genau das, was ich schon damals wollte.“
„Ich werde mich nicht an diese Stadt binden lassen“, sagte sie ihm geradeaus. Sie hat sich genug über diesen möglichen Vertrag mit ihm ausgemalt, um zu wissen, dass er genau das versuchen würde. Es nun Freundschaft zu nennen, war einfach eine andere Formulierung.
„Das habe ich nicht vor“, behauptete er sachte, „Aber es ist auch nicht so, als wäre die Vorhersehung in dieser Hinsicht gnädig dir gegenüber.“
„Sie trifft nicht auf mich zu“, erwiderte sie.
Ein Seufzen. „Etienne. Das, was Tatinne gesagt hat und das, was bisher passiert ist, deutet aber ziemlich direkt darauf hin. Erst recht der Teil mit dem Chaos, darin bist du besonders gut.“
„Glaub mir einfach“, sagte sie und verfluchte Tatinne, welche sich dazu hat hinreißen lassen, ihm zu viel zu sagen, „Du wirst es in einigen Wochen selbst feststellen. Und bis dahin wirst du die Zeit an mir verschwendet haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du das nicht gutheißen kannst.“
„Das reicht mir nicht. Ich kann nicht wochenlang warten, nur um dann festzustellen, dass es doch auf dich zutreffen wird. Damit schenke ich genug Feinden die Zeit, um das Ruder an sich zu reißen. Wenn du dir aber so sicher bist, kannst du es mir beweisen?“
Etienne schwieg auf seine Frage hin. Sie konnte ihm ihren Djinn nicht ausliefern. Zumindest jetzt noch nicht. Seine Macht zu verlieren könnte sie daran hindern, die Steine rechtzeitig zu bekommen. Es gab nur diesen einen Versuch, danach würde keine neue Chance kommen. Und nach all der Arbeit, die sie hineingesteckt hatte, einen Djinn zu erhalten, würde sie sich mit allem wehren, was ihr zur Verfügung stand, um ihn so lange zu behalten, wie sie ihn brauchte. Sie hatte ihr Leben riskiert. Wenn Raffael ihn haben wollte, dann würde sie dasselbe von ihm erwarten.
„Wenn die Vorhersehung wirklich stimmt, was du in meinen Augen nebenbei angemerkt als viel zu sicher ansiehst, dann ist es sowieso nicht eindeutig, wann du und die anderen von der Herrschaft abgelöst werden solltet. Das könnte Jahre dauern.“
„Das habe ich mir auch gedacht. Aber ein ‚Könnte‘ ist nicht gut genug.“
„Also, was ist der Plan? Mich dazu zu bringen, das Ganze zu akzeptieren und eine ordentliche Ablösung zu ermöglichen? Wer soll das akzeptieren? Ich nicht. Die Menschen hier aber sicherlich auch nicht. Werden deine Mitglieder nicht fürchterlich enttäuscht von dir sein, wenn du einfach zurücktrittst?“
Die Abwesenheit seines Lächelns zeigte ihr, wie ernst ihm dieses Gespräch war, doch sie hatte Schwierigkeiten, ihm richtig zu folgen. Sie hatte sich nicht gerührt, stand noch immer mit ihrer Jacke in ihren kribbelnden Händen und hatte das Gefühl, ihr würde vor Anspannung die Luft weggedrückt werden, während sie ihre Gedanken stetig davon abhalten musste, zu ihrer Jacke hinzuwandern. Wenn Raffael ihr sagen würde, dass sie den Stein nur unter den Bedingungen einer Herrschaft unter seiner Führung bekommen würde, dann würde es zwischen ihnen beiden früher oder später zu einer Konfrontation kommen. Sie hatte nun die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie daraus ein Früher oder später machte. Noch war seine Hilfe für den letzten Stein in Aussicht gestellt. Würde es sich lohnen, es in Anspruch zu nehmen?
„Nexim hat vor einigen Jahren Gilgians Provinz unter Druck gesetzt, indem er die Ernte vorenthalten hat. Davon hat er sich erhofft, günstige Bauhandwerker zu kaufen. Dann haben sich einige Menschen aus Gilgians Provinz dazu geäußert, indem sie die Speicher überfallen haben. Es ist eine von vielen Auseinandersetzungen, welche die meisten Menschen satthaben. Die Annäherung unserer beiden Provinzen zeigt es nur zu deutlich. Der Wunsch ist da, aber das Misstrauen sitzt noch tief, denn die Provinzherrscher gelten allgemein als das Sinnbild der ganzen Konflikte. Dabei ist es egal, dass es mittlerweile andere Menschen sind. Jemand von außerhalb aber, der nicht viel mit diesen Konflikten zu tun hat und noch dazu von Tatinne unterstützt wird, könnte zusammen mit einer richtig dargestellten Vorhersehung etwas Hoffnung in die Sache hineinbringen.“
Ihre Fingerkuppen finden zu Schmerzen an.