„Hör auf mich anzuschreien. Wieso kriege ich immer die Schuld?“, fragte Etienne ihre Tante aufgebracht.
„Weil du so verdammt leichtsinnig bist!“, erwiderte diese wütend. Meta betrachtete Raffael immer misstrauisch aus dem Augenwinkel und schien unschlüssig, ob er half, oder ob er gleich ihren Bruder endgültig beseitigen würde. Tatinne hat sich den Verwundeten noch nicht einmal angesehen. Stattdessen hatte sie sich sofort über Etienne hergemacht. Diese hatte sich das eine Weile angehört, bevor sie scheinbar genug hatte.
Meta versuchte etwas einzuwerfen, hatte aber keine Möglichkeit, Gehör zu finden. Ihre dünne Stimme ging unter Tatinnes unter. Dann hörte sie Raffael laut loslachen, was ihm sofort zwei wütende Blicke einbrachte.
„Was willst du überhaupt noch hier?“, fragte Etienne. Sie wurde jedoch von Tatinne übertönt, welche drohend die Stimme senkte, „Provoziere mich nicht, Beltran.“
„Ganz ruhig“, meinte Raffael und hob beschwichtigend die Hände, „Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, dass wir noch immer ein ernstes Problem hier sitzen haben.“
„Welches es nicht gäbe, wenn ihr einfach draußen geblieben wärt“, flüsterte Etienne.
„Und welches ich nicht hätte, wenn ihr keinen blutenden Körper zu mir geschleppt hättet, nicht wahr, Etienne Schatz“, säuselte Tatinne drohend.
„Bitte spuck jetzt kein Gift“, erwiderte Etienne trocken. Die Frau schnaubte und ging in ein Nebenzimmer, in welchem sie sich einige Sachen herausholte. Gilgian war mittlerweile grau im Gesicht. Er schien nicht mehr zu bluten, was immerhin eine gute Nachricht war.
„Macht euch keine Sorgen“, sagte Etienne und sah Meta dabei an. Meta kam nicht umhin zu bemerkten, dass Etienne auch nicht gerade heile davongekommen ist. Die Sorge um Gilgian hatte sie jedoch so übermannt, dass sie nicht wirklich auf die anderen geachtet hatte. Bis ihr aufgefallen war, wie seltsam es war, dass ausgerechnet Raffael hier war und nicht Khalas. Wieso hatte Gilgian Raffael mitgenommen. Sie würde ihn später fragen… nachdem sie ihm freiwillig alles erzählen würde, was geschehen war. Sie hatte da so ein Gefühl, dass er sie fragen würde. Meta musste sich auch überlegen, wie sie ein gutes Wort für Etienne einlegen sollte. Wegen ihres Vaters hatte Etienne einiges durchzustehen und Meta wollte nicht, dass sie auch noch Ärger mit ihrem Bruder bekommen würde. Und auch wenn es so viele Dinge gab, welche in ihrem Hinterkopf kreisten und sich wie eine drohende Wolke über sie legten, ihr größtes Problem schien das zu sein, dass Etienne einen furchtbar schlechten ersten Eindruck von der Stadt bekommen hat. Egal wie sehr Meta sich anstrengte, an die wichtigen Sachen zu denken, sobald sie Etienne sah, kehrten die Gedanken dorthin zurück. Vielleicht war es aber gut so? Vielleicht sollte sie sich nicht einige Momente nehmen, eher sie an die schlimmen Erinnerungen des Tages dachte.
„Hast du ein Nähset?“, fragte Etienne ihre Tante.
„Ja, hol es oben aus meinem Zimmer. Linker Schrank ganz oben.“
Etienne sah kurz in die Runde, „Ich gehe dann hoch. Falls ihr mich braucht, ruft mich. Und sagt mir Bescheid, wenn ihr geht, ich werde Catjill mitnehmen.“
„Heißt das, ich bekomme noch einen Wunsch?“, fragte dieser aufgeregt.
„Nein“, erwiderte Etienne und verschwand schnell nach oben.
Meta sah dem Kater hinterher, welcher sich beschwerend beeilte, Etienne zu folgen.
„Also wirklich, Kinder“, sagte Tatinne, „Wieso legt ihr euch mit einem Geist an, für welchen ihr eindeutig nicht vorbereitet wart?“
Sie kam mit einer großen knisternden Decke heraus und breitete sie auf der Couch aus, nachdem sie Gilgian mit einem aufforderndem Kopfnicken zum Aufstehen gebracht hatte. Anschließend drückte sie ihn mit der Hand auf seiner Schulter wieder in die Sitze und Meta sah ehrfürchtig zu, wie er sich schweigend fügte. Tatinne war kleiner als Gilgian, aber sie schubste ihn herum und er ließ es sich gefallen.
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„Soweit ich weiß, war es deine Nichte, die meine Schwester da hineingezogen hat“, warf Gilgian ein. Seine raue Stimme deutete darauf, dass es ihm nicht gut ging und Meta hatte das Gefühl, ihr würden die Schultern vor Anspannung brechen. Sie sah zu seinen Augen. Dieselbe Farbe, wie sonst auch. Kein Grau, welches zu ihr herüber starrte, ihr die Luft zu atmen nahm und ihr so kalt werden ließ, dass sie ihre Fingerkuppen nicht spüren konnte. Hatte sie sich das im Haus eingebildet? Das konnte nicht sein, denn Catjills Worte hatten impliziert, dass ihr Vater versucht hat, Gilgians Körper zu übernehmen. War das sein Ziel gewesen? Wie lange schon?
„Es mag sein, dass Etienne die Situation vorher hätte besser beobachten müssen. Aber es ist euer Haus“, sagte Tatinne und betonte die letzten Worte so stark, dass es sich anfühlte, als würde sie diese ihnen entgegenspucken, „Und ich entschuldige mich nicht, wenn ich zu direkt bin, aber solltet ihr nicht immer wissen, was in eurem Haus vor sich geht?“
Meta wollte etwas erwidern, hielt sich dann aber zurück. Es war das erste Mal, dass sie Tatinne der Spinne so nahe war. Sie fühlte sich eingeschüchtert von ihr und sie war auch eingeschüchtert von der Art und Weise, wie sie mit ihnen schimpfte. Meta wusste nicht, wann es das letzte Mal der Fall war, dass jemand so mit ihr oder Gilgian gesprochen hat.
„Genau genommen ist es deines, kleine Tochter des ursprünglichen Herrschers“. Als Meta ihren Blick hob, begegnete sie Tatinne intensiven braunen Augen, ein so tiefes Braun, dass es fast schon rötlich schimmerte.
„Deine Nichte…“, fing Gilgian an, doch Tatinne unterbrach ihn direkt, während sie die zwei Koffer unsanft auf den Tisch warf und öffnete, „Ich bin noch nicht fertig. Also unterbrich mich nicht. Ihr solltet es als Glücksfall betrachten, dass Etienne in ihrer typischen Manier da hineingestürmt ist. Ein Crawling hat da unten geschlafen. Ihr hattet Glück, dass er noch so klein war. Wenn er in einigen Jahren herangewachsen wäre, dann könnt ihr euch nicht einmal ausmalen, was er in dieser Stadt angerichtet hätte. Hast du eine Ahnung wie sich das anfühlt, einen geborenen Jäger in einer eng besiedelten Stadt zu haben, welcher nur dazu geschaffen ist, auf Menschen Jagd zu machen? Das wäre an blutigem Chaos nicht zu überbieten.“
Ihre Stimme war nicht laut, aber sie donnerte dennoch durch das dunkle Zimmer, welches in Etienne Beklemmung und Nervosität auslöste. Das ganze Rot der Wände mischte sich mit dem Rot von Gilgians Verletzung und löste in ihre Schwindel aus.
„Und er war in eurem Haus! Nicht in meinem oder in Etiennes. In eurem. Herrscher der dritten Provinz. Dafür, dass du als Herrscher alles genau im Blick haben solltest, war das ein fürchterlicher Patzer, den du dir nicht bieten solltest!“
Gilgian knurrte und Tatinne warf ihm einen warnenden Blick zu, „Wag dich so mit mir umzugehen du halber Meter!“
Meta schluckte und sah kurz zu Raffael, welcher sich erstaunlich still an die andere Seite des Raumes geschlichen und seine Augen fest auf die Muster der Decke gerichtet hatte. Die Schuljacke von ihm und Gilgian hatte er um seine Hände gelegt und sein Finger tippte nervös.
„Zieh das aus“, sagte Tatinne und deutete auf Gilgians Oberteil. Nachdem er ihrem Wort gefolgt war, schnaubte Tatinne, „Oh siehe mal diese fürchterliche Arbeit an. Lass mich raten. Das sieht aus, als wäre Etienne am Werken.“
Sie machte sich daran, die Verbände aufzuschneiden, ignorierte Gilgians unglückliches Knurren, und sah sich die Wunde an, „Sieht wenigstens nicht nach der Tat eines Crawlings aus. Wer von euch Kindern hatte das Vergnügen sich mit diesem auseinanderzusetzen?“
„Etienne und Raffael“, sagte Meta kleinlaut, als keiner Antwortete.
Tatinne schnaubte, „Natürlich hat Etienne nichts Besseres zu tun, als sich mit einem Crawling anzulegen. Aber besser sie, als ihr Kinder, welche nicht einmal wusstet, dass einer da war. Und ich kann es immer noch nicht fassen. Dass er es überhaupt geschafft hat, die Magie richtig zu verwenden. Hätte nicht gedacht, dass dieser alte Irre überhaupt noch genug Verstand dazu hatte. Auf der anderen Seite kann nicht von viel Verstand die Rede sein, wenn er dieses Monster in seinem Keller aufgezogen hat. Was für ein Trottel.“
Tatinnes Augen wanderten zu Raffael, welcher ihren prüfenden Blick mit einem neutralen Lächeln erwiderte, „Hast du Wunden von ihm?“
Er schüttelte den Kopf. Sagte nichts. Nicht so, wie Meta ihn kannte.
Tatinne seufzte und sah auffordernd zu Meta, „Bring ihr einen Verbandskasten hoch, sie soll überprüfen, ob sie von ihm etwas abbekommen hat. Dann soll sie mir später Bescheid geben.“
Meta zögerte. Sie wollte Gilgians Seite nicht verlassen. Sie hatte auch etwas Angst, Etienne unter die Augen zu treten. Sie wollte ihr wirklich helfen, als sie am Morgen mit ihr in das Anwesen ihres Vaters aufgebrochen ist. Nun hatte sie das Gefühl, dass sie alles um so vieles schlimmer gemacht hatte. Das war ein Grund, weshalb sie lieber ohne Freunde lebte. So konnte sie diese nicht enttäuschen.
„Auf!“, rief Tatinne ihr zu und Raffael trat dann vor und nahm den Koffer, „Ich kann das erledigen.“
Er sah Meta an und diese erwiderte überrascht seinen Blick, welcher ihr verriet, dass er ihr Zögern sehr gut wahrgenommen hatte. Und dann sah sie die Erleichterung, als er schnell nach oben verschwand. Er hatte Gilgian und sie mit dieser Frau sitzen lassen.
„Wenn du es wagst ihr irgendeinen Vertrag aufzutischen oder es gar nur zu versuchen, werde ich dich fertig machen“, rief Tatinne ihm hinterher und Gilgian knurrte, als sie etwas an der Wunde tat, was scheinbar fürchterlich weh tat.
„Stell dich nicht so an!“, fuhr sie Gilgian aufgebracht an. Sie nahm eine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit. Dann tropfte sie etwas von dieser auf seine Wunde und er knurrte erneut leise, als dunkler Rauch empor stieg. Meta sah nicht, dass sich sonst etwas änderte, aber Tatinne gab ein zufriedenes Geräusch von sich.
„Na siehst du. War gar nicht so schlimm. Sie ist direkt um die Hälfte kleiner geworden, siehst du? Was auch immer dich getroffen hat, war nur etwas verflucht. Das wird schnell heilen, erst recht bei einem Körper wie deinem. Immerhin kannst du dafür diesem Irren danken.“
Metas Augen wanderten irritiert von der Wunde, zu Tatinnes Hinterkopf, während diese weiter spracht, „Lange jung, lange stark, keine Krankheiten. Was hat er sich da nur für einen fabelhaften kleinen Körper geschaffen. Immerhin musst du dir keine Sorgen mehr darum machen, dass er ihn übernehmen könnte.“
Fassungslosigkeit stieg in Meta hoch. Woher wusste Tatinne davon? Ihre Augen wanderten weiter zu Gilgians und er sah sie an, presste die Lippen zusammen und sah dann weg. Und auf einen Schlag wurde ihr klar, dass er ebenfalls etwas zu wissen schien. Tatinnes Aussage überraschte ihn nicht.
„Was meinst du damit?“, fragte sie leise. Es fühlte sich alles noch immer, wie ein langer schlimmer Traum an.
„Wie bitte?“, fragte Tatinne ungläubig und sah zu ihr, „Wo warst du die letzten Jahre? Bist du hinter einem Stein groß geworden?“
„Lass es“, knurrte Gilgian. Tatinne sah wieder zu ihm, schwieg. Meta konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber das von Gilgian, welcher starr nach oben sah und nicht zu ihr schaute.
„Ah Herrje“, meinte Tatinne dann, „sag mir nicht, wir haben hier eine graue Maus herumwandern, welche nicht die leiseste Ahnung von den Kämpfen hat, die in ihrem Haus stattgefunden haben.“
„Tatinne“, meinte Gilgian warnend und ein Gefühl von Verrat stieg in Meta empor. Sie unterdrückte es jedoch. Meta hatte Gilgian nie gefragt, was passiert war und wieso ihr Vater verschwunden war. Sie hatte erst heute herausgefunden, dass er tot war und in ihrem alten Haus herumspukte. Dennoch… Gilgian hatte sein Wissen nicht mit ihr geteilt. Sie hatte ihn nicht gefragt … wünschte sich aber, er hätte es dennoch mit ihr geteilt.
„Sei still“, sagte Tatinne streng und drehte sich dann zu Meta. Sie bedachte sie mit einem langen, intensiven Blick. Meta konnte schwören, ihre Augen würden glühen, als sie Meta langsam von oben bis unten betrachtete. Sie blieben an ihrem Gesicht hängen und Meta war sich für einen Moment nicht sicher, ob Tatinne sie noch ansah, bis ein dumpfer Knall und eine unklare, aber wütende Stimme Raffaels, sie zusammenzucken ließ. Auch Tatinne sah kurz zur Treppe, dann wieder zu Meta und ein leises Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, welches wieder verschwand, als sie sich Gilgians Wunde zuwandte.
„Seit Jahren hat dein Vater versucht Gilgians Körper zu übernehmen. Das war sein verzweifelter Versuch auf ein ewiges Leben. Ich schätze, der Tod von Petty hat ihn wirklich erschüttert.“
Meta zuckte zusammen, als sie den Namen ihrer Mutter hörte, welche verstarb, als Meta erst fünf war. Sie erinnerte sich nicht sehr gut an sie. Aber der Name war ihr durch ihren Vater ins Gedächtnis eingebrannt. Wie er nach ihr geweint hat, wie er sie vermisst und ihren Namen in die Nacht geschrien hat, selbst Jahre später noch, als Meta schon viel älter war.
„Auch wenn ich eher gedacht habe, dass er versuchen würde, sie wiederzubeleben oder eine andere Form des Schwachsinns dieser Art umzusetzen. Hätte nicht gedacht, dass es ihm mehr um sich ging.“
Meta versuchte kontrolliert zu atmen. Sagte nichts, schon wieder. Sie sollte Tatinne Fragen stellen, aber kein Wort schlich sich über ihre Lippen. Sie hatte nur einen Klotz im Hals, welcher ihr das Atmen erschwerte.
„Aber das Lustige an dieser ganzen Sache ist, dass ich mir ziemlich sicher bin, es war seine Intention, bevor er zu den Shurkiyaa-Spielen aufgebrochen ist. Aber nun gut, er wäre nicht der Erste, der seine Lebenseinstellung nach diesen geändert hat.“
„Was soll das heißen?“, fragte Meta atemlos, ihre Augen wanderten wieder zu Gilgian, welcher ebenfalls überrascht zu Tatinne sah.
Tatinne drehte sich wieder zu ihr um, hob mit ihren blutigen Händen etwas aus dem Koffer, während sie unverwandt Meta ansah, „Das soll heißen, dass ihm jemand dort einen guten Tipp gegeben hat, seinen Fokus woanders hinzulegen.“
„Wer?“, fragte Meta verwirrt und Tatinne schnaubte.
„Wenn ich dir das verraten soll, dann wird es etwas kosten. Mehr, als du dir leisten kannst.“