Unverständliche Worte drangen zu ihr durch und wurden größtenteils vom kalten Wind verschluckt. Raffaels schwarze Jacke, welche er ihr als Bezahlung für den Crowling gegeben hatte, fühlte sich an, als würde sie sich um ihren Körper schlingen und sie festhalten. Ihre alte Jacke lag verraten in der Tasche. Etienne sah sich nicht nach ihm um und es war auch nicht notwendig, da er nun lauter an sie gerichtet sprach.
„Lügner. Du lügst. Ich glaube dir kein Wort, dass du meine Provinz so angreifen würdest“, sagte Raffael in ihren Rücken und als sie seine Stimme hörte, hätte sie ihn am liebsten geschlagen. Einer der wenigen Momente, in denen sie sich wünschte, Eclis hätte ihr nicht dieses nervige Versprechen abgezwungen. Ein anderes Mal war sie mit drei reisenden Gewürzhändlern gewesen, welche bereits in der ersten Nacht von ihr verlangt hatten, sich auszuziehen. Eine Gefahr, welche ihr nur zu deutlich bewusst gewesen war, doch sie hatten an dem Tag Etienne durch die Tore aus Vheruna rausbringen können, ohne dass sie kontrolliert wurde. Zu ihrem Glück hatte sie damals ihren Djinn bereits bei sich gehabt und konnte sich leicht aus der Situation entfernen, ohne ihr Versprechen zu brechen.
Etienne packte ihre Jacke zusammen, ließ Magie in ihre Hände fließen, um sie vor der Energie des Fluches zu schützen.
„Du denkst, ich würde das nicht machen?“, fragte sie.
„Nein“, sagte er, „ich glaube nicht, dass du das machen würdest. Dafür springst du zu schnell anderen zur Hilfe. Wieso solltest du dich nicht für schwache Menschen einsetzen, wenn du zeitgleich nicht neben dran stehst, wenn Meta und Anaki von starken angegriffen werden? Aber das ist nicht das, was ich meine. Ich glaube nämlich nicht, dass du es darauf anlegen wirst, an die Macht zu kommen, nur um danach daran zu arbeiten, viel Schaden anzurichten. Ich glaube, dass du gar nicht die Zeit hast, diesen Weg einzuschlagen.“
Etienne schnaubte, versuchte ihre Ernüchterung zu vermeiden, „Und woraus genau entnimmst du das?“
„Weil du mir nur ein paar Wochen vorgeschlagen hast. Du hast vor, so schnell es geht, von hier zu verschwinden. Was nebenbei der Grund ist, weshalb ich dir den Stein nicht hergebe. Ich kann es mir nicht leisten, dass du mit Chaos zurückkehrst und die Macht an dich nimmst, während alle möglichen Menschen aus Calisteo unter der Machtübernahme leiden müssen. So etwas muss kontrolliert geschehen und ich werde bis zum letzten Moment alles dafür hergeben, das zu ermöglichen, selbst wenn ich zu den heimtückischsten Mitteln greifen muss, die mir zur Verfügung stehen.“
Sie musste wieder lachen. „Egal ob mit oder ohne, sie werde sowieso leiden. Du kannst dir gerne den Weg aussuchen. Aber wenn du den nimmst, dass du mir den Stein vorenthältst, dann kann ich dir versichern, dass du dir keine Gedanken über eine chaotische Machtübernahme machen brauchst, sondern eher um das, was danach kommt. Und so wie ich die Verhältnisse hier einschätze, gibt es mindestens eine Familie, welche wirklich glücklich darüber sein wird, wenn ich mir deine Provinz vornehme. Oder die von Gilgian. Diese wird auch darunter leiden, wenn eurer so hart erarbeiteter Waffenstillstand aufgehoben wird.“
„Du willst also gemeinsame Sache mit den Levines machen?“, fragte er mit einem bitteren Ton in der Stimme, „Sie werden dir in den Rücken fallen, sobald sie die Chance bekommen.“
„Und du bist natürlich der Einzige, der es nicht tun würde?“, fragte sie sarkastisch und warf ihm ein spöttisches Lächeln zu, während sie ihre Jacke zusammenlegte, „Aber selbst wenn, bis dahin werde ich alles haben, weswegen ich hier bin. Und zusätzlich würde ich die Chance bekommen, dir alles heimzuzahlen. Ich schulde dir noch einiges.“
„Etienne!“, rief er aus und sie hörte, wie der Frust durchbrach, „Das ist solch ein Schwachsinn. Wenn du mir etwas heimzahlen willst, dann gibt es andere, weniger aufwendigere Wege. Zusätzlich dazu wird unser beider Konflikt nichts daran ändern, dass es eine Vorhersehung gibt, mit welcher du dich auseinandersetzen musst!“
Sie lächelte, froh darüber, dass er ihr die Chance gab, noch einmal zuzuschlagen. „Das ist so nett von dir, dass du das ansprichst. Willst du mir dabei helfen, einen weniger aufwendigeren Weg zu finden?“
„Rache an mir zu üben?“, fragte er schnaubend, sichtlich unzufrieden. Was sie jedoch beinahe schon verwirrte, war die Tatsache, dass er es tatsächlich in Erwägung zog.
„Wenn du dadurch aufhörst, so widerspenstig zu sein“, sagte er.
Etienne musste es unterdrücken, noch breiter zu lächeln. Er unterschätzte sie, genauso, wie sie ihn unterschätzt hatte.
„Gut. Fangen wir so an: Wer ist Josef?“
Raffael brauchte einen Moment und als die Klarheit durchdrang, wurde er blass. Dann sprang er auf, machte jedoch keine Anstalt, zu ihr zu treten.
„Übertreibe es nicht“, warnte er sie mit bebender Stimme. Etienne hatte ihn noch nie so gesehen, mit Händen zu Fäusten geballt, die Schultern sich schnell hebend und senkend, die Augen voller Wut. Zu ihrer Zufriedenheit war sie nicht mehr so eingeschüchtert wie die letzten Male. Sie sah ihn wahrhaftig als Feind an. Etienne dankte ihm innerlich, dass er ihr das ermöglicht hat.
„Ich bin nicht Braad“, sagte sie leise, „Ich schulde dir gar nichts. Ich unterstehe dir nicht.“
Raffael sah so furchtbar wütend aus und das freute sie, denn sein Gesicht trug dasselbe Gefühl, welches sie tief in ihrer Brust spürte. Sie hoffte, er würde Anstalt machen, sie zu schlagen. Wenn er sie angreifen würde, konnte sie ohne schlechtes Gewissen zurückschlagen, sicherlich war Selbstverteidigung etwas, was nicht in das Versprechen fiel. Oder? Sie wurde unsicher. Doch Raffael tat nichts dergleichen. Stattdessen schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht und sie hatte die Befürchtung, dass sie es nicht schaffen würde, ihn so wütend zu machen, dass er sich verlieren würde. Was nicht gut war, denn wenn sie etwas aus ihrer Erfahrung mit mächtigen Menschen gelernt hat, dann war es, ihr Ungleichgewicht zu nutzen, um zu gewinnen.
„Ich hoffe dir ist bewusst, dass ich bisher sehr rücksichtsvoll mit dir umgegangen bin“, sagte er leise, „Willst du wetten, dass ich nicht mal einen Tag brauchen werde, um dich unter meine Führung zu bekommen?“
This story has been taken without authorization. Report any sightings.
„Es gibt keinen Grund für mich, solch eine Wette einzugehen.“
Er hob leicht den Kopf und seine Augen forderten sie heraus. Etienne konnte nicht anders, als die Herausforderung anzunehmen, „Was bekomme ich, wenn du versagst.“
„Ich gebe dir eine Möglichkeit, den Stein wieder zu bekommen.“
Seine Stimme hatte diesen zufriedenen Unterton, der sie noch mehr reizte.
„Was für ein fürchterlicher Preis.“
„Ich werde ihn dir am nächsten Tag mitbringen und dir die Chance geben, ihn zurück zu stehlen. Natürlich werde ich ihn dir nicht einfach in die Hände legen. Außer, du traust es dir nicht zu, ihn dir zurückzuholen. Was mich nicht wundern würde, wenn ich bedenke, wie furchtbar inkompetent deine Abenteuer bisher waren.“
Etienne spürte, wie die Wut stärker wurde. Dass er ihr Vorgehen hinterfragte, war eine Sache. Sie als unfähig zu betiteln schlug gegen ihren Stolz. „Ich werde keine Mühe brauchen, ihn dir wegzunehmen.“
„Dann sollte der Einsatz kein Problem darstellen. Wenn ich es morgen nicht schaffe, dass du das tust, was ich dir sage, dann werde ich ihn dir am nächsten Tag vorbeibringen und du bekommst die Chance, ihn dir zurückzuholen.“
Sie standen sich nicht nahe, dennoch konnte sie jede Regung in seinen Augen ausmachen. Sie spiegelten dieselbe Feindseligkeit wieder, die sie in sich spürte. Etienne würde noch einige Wochen in der Stadt verbringen müssen und sie spürte die Verlockung. Es war besser, er würde den Stein außerhalb seines Hauses haben, damit sie sich keine Gedanken um die ganzen Sicherheitsmechanismen machen musste. Ihr Djinn würde sie mit Vorbereitung reinbringen können, aber er schützte sie nur vor Menschen, nicht vor magischen Gestalten. Wenn sie sich nicht geirrt hatte, dann gab es ein Anzeichen für mindestens ein weiteres magisches Wesen in Raffaels Haus. Es schien mächtig zu sein, so sehr, dass seine Präsenz in der zweiten Welt wie eine Fackel in der Dunkelheit gestrahlt hatte. Etienne hat beobachten können, wie es durch das Haus gelaufen war, wie auf einer Patrouille, auf der Suche nach Feinden, die es abzuwehren galt. Etienne würde ohne Catjill gegen dieses antreten müssen, genauso, wie sie ohne seine Hilfe gegen den Wächter bestehen musste. Den Stein aus Raffaels Haus herauszuholen, würde ihr tatsächlich eine große Chance bieten. Sie konnte Raffael besiegen. Sie war sich nicht sicher, ob ihm das bewusst war. Sicherlich dachte er, dass wenn er einen seiner Ringe aktivieren würde, sie nicht an ihn herankommen würde. Auf einmal war sie wirklich glücklich darüber, dass sie ihren Djinn nicht mitgenommen hat. Raffael hatte ihn nicht vor Augen. Und die Magie des Djinns hielt Catjill bedeckt vor der Aufmerksamkeit anderer. Raffael hatte keine Ahnung, dass so lange ein Djinn auf ihrer Seite war, es keinen Ring gab, der funktionieren würde. Catjill musste ihr nur einen Moment geben und da es den Stein involvierte, würde er ihr gehorchen.
„Was willst du haben?“
Sein Grinsen wurde breiter. „Ich will einen offenen Gefallen.“
„Das ist mir zu vage“, erwiderte sie.
„Dann grenze es ein“, gab er ruhig zurück.
Unter normalen Umständen würde sie nicht auf einen offenen Preis eingehen. Er könnte alles von ihr verlangen und sie wusste, dass sie es nicht tun sollte, erst recht in ihrer Wut, welche noch immer tief in ihrem Inneren zu spüren war. Dennoch konnte sie nicht anders. Erst recht nicht, weil sie schnell zu Tatinne wollte, um zu schauen, ob ihre Jacke zu retten war oder nicht.
„Es wird etwas sein, was mich weniger als fünf Minuten Arbeit kostet, es wird am nächsten Tag abgehandelt und es werden keine Versprechen sein. Nur eine einfache, körperliche Arbeit ohne Einfluss auf langfristige Zukunft.“
Er nickte leicht mehrmals mit dem Kopf, als würde er ihre Worte in seinem Kopf auskosten und testen.
„Das ist eine ziemliche Einschränkung. Fünf Minuten sind mir zu wenig.“
„Mehr als genug dafür, dass es regelrecht alles sein könnte.“
Er schnaubte lachend. Betrachtete sie einen Moment und nickte dann: „Gut, ich brauche sowieso nichts.“
„Ah nein? Was soll dann der Sinn dieser Wette sein?“
„Ich will dir nur zeigen, wie großzügig ich bis jetzt zu dir war.“
Sie schnaubte. Dann packte sie die Tasche und ging zur Luke hinunter. Es gab keinen Grund mehr, hier oben zu bleiben.
„Ich bekomme noch etwas von dir“, erinnerte er sie.
Natürlich, der Ring. Sie holte ihn aus ihrer Hosentasche und warf ihm diesen zu. Er fing ihn auf. Sein grimmiger Blick traf den ihren.
„Bis morgen“, sagte er, „Ich hoffe, du bist pünktlich da und kneifst nicht.“
Sie zögerte kurz. Etwas entging ihr. Auch ihm fiel es auf, denn nach einem kurzen Moment schlich sich ein wissendes, hämisches Lächeln auf sein Gesicht. „Ahnungslos und leichtsinnig. Wie ich es bereits von dir kenne. Ich hole dich morgen um neun ab. Du hast sicherlich gehört, was wir alle am Wochenende machen. Falls du dich nicht erinnerst, nimm dir etwas Zeit, darüber nachzudenken. Ich werde es dir nicht sagen.“
Sie bedachte ihn noch einen Moment, wie er ihr entgegen grinste und es zu genießen schien, dass sie scheinbar schon in einem Nachteil war, den sie nicht erahnen konnte. Aber die Tatsache, dass sie sich jetzt um die Jacke kümmern wollte, ließ sie dieses Problem zur Seite schieben. Etienne würde sich morgen darum kümmern. Sie drehte sich um und ging nach Hause.