Novels2Search
Calisteo - Stadt der Geister [German/Deutsch]
Kontrahenten: Zur Schaustellung

Kontrahenten: Zur Schaustellung

„Ich gehe kurz auf die Toilette“, sagte Scarlett, ihre Stimme leicht am zittern, und verschwand.

„Ob das wirklich eine gute Idee war?“, fragte Etienne. Es prasselte leichter Regen gegen die Fenster, die Tropfen bildeten Muster auf der Scheibe. Es würde heute wieder ein kalter Abend werden und sie zog Tatinnes Jacke schon mal an. Dann stützte sie ihren Kopf an der Hand ab und schloss ihre vor Müdigkeit brennenden Augen.

„Ich werde das nicht vor ihr geheim halten“, sagte Raffael, „Mal abgesehen davon kommt sie dir entgegen, nicht?“

Das überzeugte sie nicht. Immerhin war Raffael selbst auf und dran gewesen, diesem kleinen Feigling hinterherzurennen. Und was gab Etienne die Sicherheit, dass Scarlett das nicht auch tun würde?

„Pass heute auf dich auf“, sagte Raffael nach einem Moment.

Grinsend sagte sie trocken, „Ich werde schon eine Nacht ohne dich überleben.“

„Weiß du noch, wo ich gesagt habe, wo ich wohne?“

Schnaubend öffnete sie wieder die Augen. „Soll ich weinend zu dir rennen. Die paar Stunden, die es von hier zu dir dauern sollte?“

Er zögerte, als sie die Entfernung ansprach. Tatinnes Zuhause war deutlich näher und er war gerade lächerlich.

„Das… ich hab das nicht durchdacht.“

Zum ersten Mal musste sie wirklich lachen. „Für jemanden, der scheinbar als so intelligent gilt, kommst du manchmal mit wirklich unsinnigen Ideen daher.“

Raffaels Wangen röteten sich leicht und er setzte an, zu antworten.

„Und welche genau sollen das sein?“, fragte eine liebevolle Stimme und sie sah zur Tür. Die sanften Schritte waren schon vor einigen Momenten zu vernehmen gewesen und Etienne hatte vermutet, dass es sich um Scarlett handeln würde. Stattdessen war eine hübsche junge Frau vor ihnen, welche freundlich lächelnd durch die Tür trat. Ihr Instinkt regte sich und Etienne fühlte sich auf einen Schlag wie im Haus der McClaines. Als würde sich eine Bedrohung langsam in ihre Richtung schleichen, wie eine Schlange, versteckt im Laub, ihre Beute klar im Visier.

Sie bedachte Etienne kurz und Etienne spürte ihren Körper in alte Muster verfallen. Ihre Schultern bleiben weiterhin angespannt, als die sonderbar ausdruckslosen Augen weiter zu Raffael wanderten. „Um Himmels Willen, du siehst ja furchtbar aus! War es gestern so schlimm?“

Obwohl ihre Stimme lauter wurde und im leeren Zimmer nachhallte, fühlte es sich sonderbar unecht an. Ihre gerunzelte Stirn schien eher Wut auszudrücken, keine Sorge. Es irritierte Etienne mehr als alles, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte. Mimik und Gestik, Tonlage und Ausdruck, alles schien wild zusammengewürfelt zu sein und doch irgendwie zu passen.

Auf Raffaels Gesicht lag ein Lächeln, welches Etienne gefühlt eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. War es, als sie ihn am Morgen ihres ersten Tages in Tatinnes Küche angetroffen hatte? Und dann in der Schule am Tag danach? Aber nicht mehr in der Villa der McClaines. Und danach auch nicht mehr. Ihr war das gar nicht aufgefallen, wie die undurchdringliche Mimik und das immerwährende Lächeln ausgewechselt wurden durch etwas, was ihr ehrliche Emotionen gezeigt hatte.

„Bianca Liebes. Was machst du so spät noch hier?“, fragte er in der typisch fröhlichen Stimme. Nur noch die Augenringe zeigten seine Müdigkeit, alles andere schien unbeschwert, entspannt und locker.

Etienne blieb still sitzen und versuchte keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie rührte sich nicht, aber ihre Muskeln waren angespannt, bereit aufzuspringen, wenn es sein müsste. Das irritierte sie noch mehr, denn diese Frau war kleiner als sie, viel zierlicher.

„Das könnte ich dich auch fragen. Musst du nicht dringend in deine geliebte Provinz zurück?“

„Mach dir keine Sorgen darum. Die kommen auch sehr gut klar, wenn ich mal nicht da bin.“

„Dann könntest du ja zurücktreten und endlich ein freies Leben wieder genießen“, sagte sie strahlend. Das war ein Ausdruck, den Etienne ihr eher glaubte.

„Ich denke, für eine Weile bin ich dort noch ganz gut aufgehoben“, erwiderte er.

Bianca seufzte schwermütig, „Das ist so verschwenderisch. Wir hatten so viel Spaß, bevor du zum Provinzherrscher wurdest. Du meldest dich auch nicht mehr so oft, obwohl du dir nun sogar ein Handy leisten kannst. Vielleicht hätte ich dir damals eines besorgen sollen.“

Etienne versteifte sich und schielte zu dem Handy auf dem Tisch, welches noch immer mit einem hellen Bildschirm das Bild zeigte, bei welchem Scarlett aufgehört hatte zu schauen. Sie musste es einpacken, bevor Bianca darauf aufmerksam wurde. Und als hätte Bianca dies gespürt, drehte sie sich zu Etienne. „Wieso hast du es überhaupt herausgeholt? Du weißt doch, dass es selbst dir weggenommen wird, wenn du es offen herumliegen lässt“, dann wanderten ihre Augen zu dem Bildschirm, „Habt ihr Bilder miteinander gemacht?“

Etienne schlug ihre Hand schneller darauf, als sie es beabsichtigt hatte. Sie war aber nicht bereit, es an sich zu nehmen, weil sie nicht wollte, dass Bianca das Blatt mit dem Symbol sehen würde. Es war unwahrscheinlich, dass sie etwas Näheres über das Symbol wissen würde. Aber Etienne konnte die Chance nicht ausschließen, dass sie es vielleicht doch kannte und dann würde sie Verdacht schöpfen.

Royal Road is the home of this novel. Visit there to read the original and support the author.

„Das ist meins“, sagte sie ihr und war selbst überrascht davon, wie fest und sicher sich ihre Stimme anhörte. Irritiert über sie und sich selbst, verdeckte sie ihre eigene Verwirrung mit einem Lächeln. Wenn Bianca davon ausging, dass es seins war, dann würde es ihn in ein furchtbares Licht rücken. Etienne wusste nicht, ob er sich dagegen wehren würde oder nicht. Aber wenn er es würde, dann würde der Druck steigen, es abzugeben. Und wenn nicht, dann müsste er unter Umständen für die Tat eines Anderen geradestehen.

Die dunkelgrünen Augen von Bianca wanderten abschätzend zu ihr. Das Lächeln verschwand nicht, als sie den Kopf zur Seite neigte.

„Das gehört dir? Wie kannst du dir eins leisten?“

Sie sah sie von oben bis unten an, sah zu der Jacke und zu der Tasche, welche sie alle von Tatinne bekommen hatte. Sie waren in gutem Zustand, sahen gut aus, waren aber alt.

„Das ist eine unhöfliche Frage, Liebes“, sagte Raffael, noch immer mit einem Lachen in der Stimme. Etienne wandte den Blick nicht von Bianca ab, sah ihn aber in ihrem Blickfeld eintreten, als er hinter sie trat und eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie konnte aus seiner Mimik nicht herauslesen, was er fühlte oder dachte, und das gab ihr genug, um ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Sie hatte nicht das Gefühl, dass diese beiden Freunde waren. Aber es schien auch nicht der Fall zu sein, als wäre Bianca ihm gegenüber feindselig.

„Raffael, sei bitte kurz still“, forderte Bianca, sah sich nicht mal nach ihm um.

„Es war ein Geschenk“, antwortete Etienne ihr schnell und entschloss sich, Tatinne als ihr kleines Schutzschild zu nutzen, „Meine Tante ist sehr wohlhabend und sie unterstützt sehr gerne ihre einzige Nichte.“

Bianca sah sie weiterhin ruhig an, während sie langsam ihre Hand auf die von Raffael legte. Ihre Finger umfingen einen von seinen und sie drückte so fest zu, dass die Knöchel weiß hervortraten. Etienne war sich sicher, dass sie einen ihrer Nägel in seine Haut drückte, aber er rührte sich nicht.

„Von deiner Tante?“ Sie schwieg einen Moment, schien jedoch keine Antwort auf die Frage zu wollen. Dann sprach sie weiter, „Du bist neu in der Stadt, nicht? Wie war dein Name noch gleich? Ich glaube, Elias hat mir etwas über sich erzählt.“

Etienne entschloss sich, es Raffael gleichzumachen und setzte ihr bestes Lächeln auf, „Ich bin Etienne. Gerade erst ein paar Tage hier. Nett, dich kennenzulernen.“

Normalerweise würde sie nach Freundschaft fragen. Dies hatte sich bisher immer als ganz gut erwiesen, um sich als offen und zugänglich zu zeigen. Diesmal jedoch wollte Etienne nicht, dass es angenommen werden würde. Es fühlte sich an, als würde sie ihr eine Schwachstelle zum Ausnutzen geben.

„Warlen hat uns gebeten, etwas Acht auf sie zu geben“, hörte sie Raffael sagen, „Sie hat sich den einen oder anderen Fauxpas erlaubt.“

Etienne vermied es, das Gesicht zu verziehen. War das wirklich der Fall? Ihr fiel ein, dass Halil etwas davon gesagt hatte, dass Warlen in Raffaels Provinz war. War das nicht praktisch?

„So schlimm bin ich nicht“, sagte Etienne lachend, „Nun meint jedoch die halbe Klasse mich unter Bewachung zu stellen.“

„Unter Bewachung?“, fragte sie irritiert nach, „Das ist eine exzessive Reaktion bei jemandem so kleinem, der erst nur wenige Tage hier ist.“

Etienne bemerkte, wie Raffael Lächeln verschwand, und dann schien er mehr Druck auf ihre Schulter auszuüben, sodass sie den Kopf zu ihm wandte und sagte: „Wieso gibst du dich immer mit solch seltsamen Menschen um? Ich habe dir schon mal gesagt, dass du besser aufpassen solltest, wen du deine Freunde nennst. Aber du machst immer das Gegenteil von dem, was ich dir sage.“

„Mach dir nicht so viele Gedanken, Bianca. Das ist nur ein kleines Klassendrama.“

„In Ordnung. Dann lass uns darüber sprechen, wie wir dafür sorgen, dass du endlich abgelöst wirst. Wäre Eldan nicht bereit dazu, die Provinz zu übernehmen? Er ist zwar alt, aber ein paar Jahre bekommt er schon noch hin.“

Raffael lachte ihr entgegen, „Wenn du so drum bittest, werde ich sehen, was sich machen lässt. Wie immer ist das nicht so einfach.“

Bianca umarmte ihn. Etienne beobachtete, wie sein Gesicht versteinerte. Dann suchten seine Augen ihre, als er die Umarmung erwiderte und ihr mit der einen Hand beruhigend über den Rücken strich. Er deutete auf das Handy am Tisch. Etienne packte es leise weg und versuchte das Papier leise wegzustecken, während er sprach: „Na komm. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Vor allem für dich ist es nicht ganz ungefährlich zu dieser Zeit. Wirst du abgeholt?“

Sie kicherte in sein Hals hinein, dann richtete sie sich auf ihre Zehenspitzen auf, zog ihn zu sich und küsste ihn. Etienne fühlte sich unwohl bei der Darstellung und sie merkte auch, dass seine Augen nicht den Ausdruck hatten, den sie von jemandem erwarten würde, der den Ruf von einem Frauenliebling hatte. Der Ausdruck verschwand jedoch, als sie sich zurückzog, und er lächelte ihr entgegen, während sie ihm die Wange tätschelte.

„Es ist süß, dass du dir Sorgen machst, aber ich kann besser auf mich aufpassen, als du auf dich. Ein Grund mehr, dass du dich schnell darum kümmerst, deine Provinz von jemand anderem übernehmen zu lassen. Komm einfach zu mir und ich verspreche dir, dass keiner an dich herankommen wird“, sagte sie in einer liebevollen Stimme und ging dann zur Tür. Etienne atmete beinahe erleichtert auf, denn sie beachtete sie nicht beim Hinausgehen und das beruhigte sie.

„Und keine alten Frauen, während ich nicht hinschaue“, rief sie über die Schulter zu ihm herüber.

„Was soll diese Aussage?“, hörte Etienne dann Scarlett im Gang zu ihr sagen. Sie tauchte vor der geöffneten Tür und sah missbilligend Bianca hinterherblicken, dessen Stimme sich langsam entfernte.

„Versuch bitte nicht so ein schlechter Einfluss auf ihn zu sein, Scarlett. Du hattest schon immer die Tendenz dazu, ihn in furchtbare Situationen zu bringen.“

Scarletts Gesicht wurde rot vor Wut, doch entgegen Etiennes Vermutung griff Scarlett nach dem Türgriff und sah ihr wütend hinterher, anstatt in einem Streit auf sie loszugehen. Dann wandte ihr Blick sich langsam zu Raffael und Etienne, „Was wollte diese Verrückte hier?“

Raffael zuckte mit den Schultern und sagte in einer unbeschwerten Stimme: „Wahrscheinlich nur schauen, ob, was auch immer Mallory ihr erzählt hat, stimmt.“

Scarlett bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. Dann ging ihr Blick zu Etienne, „Er wird’s mir nicht erzählen, also leg los. Was hat sie gemacht? Soll ich ihr morgen am Hof vor der ganzen Schule die Augen auskratzen?“

„Da gibt es nichts zu erzählen und erst rechts nichts auszukratzen“, sagte er empört und sie hörte den warnenden Unterton in seiner Stimme. Es war derselbe, der mitgeschwungen hatte, als er sie davor gewarnt hatte, sich unnötig in Schwierigkeiten mit anderen Schülern zu bringen.

Etienne hatte aber auch nicht vor, sich in diese Angelegenheit einzumischen. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so unwohl gefühlt und sie konnte nicht benennen, was an dieser Situation so verstörend schien, dass es sie angeekelt und mit einem unangenehmen Schauer zurückließ. Was auch immer hier zwischen den Beteiligten lief, das war nicht ihre Angelegenheit und sie hatte kein Interesse, da hineingezogen zu werden.

„Ich muss jetzt leider wirklich gehen.“

„Mach das“, sagte er und Scarlett schnaubte.

„Morgen werde ich noch mal nachfragen“, sprach sie wütend, „Ich habe mich schon bei Braad zurückgehalten, glaube ja nicht, dass ich bei dieser Verrückten schweigen werde.“

Als Etienne bemerkte, dass diese Aussage mehr an Raffael ging, als an sie, packte sie ihre Sachen und trat schnell hinaus.

„Komm gut nach Hause“, hörte sie Scarletts wütende Stimme in ihrem Rücken und Etienne stellte beeindruckt fest, dass sie ihre Wirkung bei ihr erreichte.